FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Kaderbildung.

Inhalt:

I.     Grundlegende Aufgaben der Kaderbildung durch den FDGB

II.    Organisator. Voraussetzungen und Schwerpunkte der Kaderbildung durch den FDGB

III.   Ergebnisse der Kaderbildung durch den FDGB

        Literatur


I.   Grundlegende Aufgaben der Kaderbildung durch den FDGB

Ein zentrales Aufgabenfeld, welches die SED dem FDGB als ihrer größten, mitgliederstärksten Massenorganisation zuwies, lag in der Auswahl und polit. wie fachlichen Qualifizierung immer neuer Kader, kurz in der K. Eigenständige, grundsätzlich und konzeptionell angelegte Kaderpolitik konnte die Einheitsgewerkschaft nicht betreiben, das blieb der SED-Führung vorbehalten. Der FDGB hatte sich vielmehr auf die ausführende, stark organisator.-technisch und konkret personenbezogen ausgerichtete Kaderarbeit zu konzentrieren.
Zuständig für die Leitung der K. mittels eines umfassenden Schulungswesens war lt. Satzung der FDGB-BuV; die BV und KV hatten für die „richtige Auswahl, Schulung und den Einsatz der Gewerkschaftskader“ zu sorgen, die Grundorganisationen wurden dafür verantwortlich gemacht, „die Kader zu schulen, zu entwickeln, zu qualifizieren und zu fördern“ (Satzung von 1982).
Im Vordergrund der K. durch den FDGB stand nach offiz. Proklamationen die Heranbildung von Leitungskräften für den sozialist. Staats- und Wirtschaftsapparat sowie gesellschaftliche Aufgaben. Zu diesem Zweck, so erläuterte der langjährige Vors. des FDGB-BuV Harry Tisch auf dem 10. FDGB-Kongress im April 1982, sollten „die besten jungen Gewerkschafter aus der materiellen Produktion, aus den Kombinaten und Großbetrieben [...], aktive junge Vertrauensleute, Mitglieder von Kommissionen (s. Kommissionen der BGL), junge Neuerer, Mitglieder sozialist. Jugendbrigaden, die sich durch einen festen Klassenstandpunkt auszeichnen“ für den Kadernachwuchs ausgewählt und planmäßig zu Mitgliedern der Kaderreserve herangebildet werden, um dann eine Nomenklaturfunktion zu übernehmen.
Auffallend an dieser Selbstbeschreibung der kaderpolit. Aufgaben der Einheitsgewerkschaft ist vor allem, dass sie als Massenorganisation für die Heranbildung von Kadern für die „Vorhut der Arbeiterklasse“ selbst nicht zuständig war; diese Aufgabe blieb dem Parteiapparat der SED selbst und der FDJ als ihrer mit Organisationsmonopol ausgestatteten Jugendorganisation vorbehalten.


II.   Organisator. Voraussetzungen und Schwerpunkte der Kaderbildung durch den FDGB

Aufgrund seiner Organisationsprinzipien und Gliederung verfügte der FDGB über eine sehr komplexe Organisationsstruktur mit zwei hierarch. abgestuften Säulen, zum einen die des nach dem Territorialprinzip gegliederten Einheitsverbandes, zum anderen die der nach dem Produktionsprinzip gegliederten Einzelgewerkschaften, und vielfältigen wechselseitigen Verflechtungen zwischen diesen beiden. Mit diesem Apparat und seinen zahlreichen haupt- und ehrenamtlichen Funktionären verfügte der FDGB über ein außerordentlich hohes Organisationspotenzial, das für verschiedene Zwecke genutzt werden konnte, darunter an erster Stelle die Arbeitsmobilisierung der Mitglieder und Beschäftigten für die Umsetzung der Volkswirtschaftspläne, aber auch die Ideologievermittlung und Erziehung, die Ideologie- und Verhaltenskontrolle und - nicht zuletzt - die hier zur Diskussion stehende K.

Fragt man nach der vom FDGB tatsächlich geleisteten K., so ist es in Anlehnung an Ulrich Gill sinnvoll, zwischen der inner- und der außerorganisator. vorgenommenen Schulung und Qualifizierung zu unterscheiden (s. Schulungswesen).
Große Bedeutung für die innerorganisator. K. kam den rund 49 000 GO zu (diese und die folgenden Zahlenangaben beziehen sich auf 1984): In ihnen waren fast 400 000 haupt- und ehrenamtliche Gewerkschaftsfunktionäre tätig, die - ausgedrückt in den Kategorien der SED-Kaderpolitik - als allgemeines Kaderreservoir des FDGB betrachtet werden können und denen ein breites Spektrum von allgemeinen polit. und speziellen fachlichen Schulungsangeboten gemacht wurde: von Einzelvorträgen im Rahmen betrieblicher Bildungsabende über Wochenendseminare in FDGB-Heimen (vgl. Urlauberheim, Ferienheim) bis hin zu zwei- oder vierwöchigen Kursen in den Betrieben (vgl. Betrieb als Sozialisationsinstanz) oder bei den FDGB-Kreisvorständen. Die Vorsitzenden der Abteilungsgewerkschaftsleitungen (AGL) und Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL), die bereits zum ausgewählten und auf der unteren Ebene bewährten Kadernachwuchs zählten, waren aufgefordert, möglichst rege an den dreimonatigen Lehrgängen in den Bezirksgewerkschaftsschulen teilzunehmen; dieser Aufforderung kamen jährlich etwa 4 000 Funktionäre nach. Speziell für die Sekretäre der FDGB-Kreisvorstände wurden an den Bezirksgewerkschaftsschulen außerdem vierwöchige Weiterbildungsseminare angeboten. Weitere Bildungsangebote für den Kadernachwuchs hielten die Schulen der IG/Gew. bereit; ihre Programme waren stark branchenspezif. ausgerichtet. Darüber hinaus zu erwähnen sind die Spezialschulen des FDGB, die für Produktionsarbeit, Arbeitsschutz, Kulturelle Massenarbeit und Sozialversicherung sowie die Westarbeit unterhalten wurden; an ihren Fachlehrgängen nahmen jährlich etwa 2 000 Funktionäre teil. Für die als besonders geeignet eingestuften hauptamtlichen Funktionäre der Bezirksebene waren die einjährigen, zur konkreten Vorbereitung auf ein Studium gedachten Lehrgänge an den Zentralschulen des FDGB vorgesehen; an ihnen nahmen jährlich etwa 500 Personen teil. An der Spitze des organisationseigenen Bildungswesens stand die Hochschule der Deutschen Gewerkschaften „Fritz Heckert“ mit Sitz in Bernau bei Berlin. An ihr wurden Gewerkschaftsfunktionäre, die bereits Aufnahme in die Kaderreserve gefunden hatten, in Kurzlehrgängen für die Übernahme bestimmter Nomenklaturfunktionen geschult. Besonders vielversprechende Kader wurden hier zu Diplom-Gesellschaftswissenschaftlern ausgebildet, was entweder im dreijährigen Direktstudium oder im fünfjährigen Fernstudium geschehen konnte. Jedes Jahr entließ die Hochschule etwa 250 diplomierte Absolventen, die vor allem in den volkseigenen Betrieben und Kombinaten als Leitungskräfte Verwendung fanden.
Im Hinblick auf die außerorganisator. K. durch den FDGB ist vor allem seine Mitwirkung bei der Berufsausbildung und bei der beruflichen Weiterbildung zu nennen - ein Bereich, der vor allem die fachliche Qualifizierung des allgemeinen Kaderreservoirs betraf. Den Betrieben war durch das Arbeitsgesetzbuch (AGB) von 1977 aufgegeben, bei der Planung und Durchführung der fachlichen Qualifizierung der Werktätigen, bei der Berufsausbildung der Lehrlinge ebenso wie bei Veränderungen des Anforderungsprofils infolge der sozialist. Rationalisierung, eng mit den zuständigen Gewerkschaftsorganen zusammen zu arbeiten. Diese durften eigene Personalvorschläge für die Teilnahme von Gewerkschaftsmitgliedern und anderen Beschäftigten an betrieblichen Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen machen und besaßen außerdem ein allgemeines Kontrollrecht. Sollte ein Qualifizierungsvertrag abgeschlossen, geändert oder vorzeitig aufgelöst werden, musste das der zuständigen Gewerkschaftsleitung zumindest zur Kenntnis gegeben werden; wenn die Änderung oder Auflösung mit einer Kündigung verbunden war, musste sie auch ausdrücklich zustimmen. Bei der außerorganisator. K. durch den FDGB stand nicht zuletzt die gezielte Jugend- und Frauenförderung mit auf dem Programm. Die Umsetzung der alljährlich im Rahmen der Betriebskollektivverträge vereinbarten Frauenförderungspläne zu kontrollieren, oblag allein der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL). Bei den Jugendförderungsplänen musste sie sich diese Aufgabe mit der FDJ, der GST und der BSG teilen.


III.   Ergebnisse der Kaderbildung durch den FDGB

Nach allen bisher vorliegenden, allerdings noch sehr lückenhaften Erkenntnissen kam die vom FDGB geleistete K. vor allem seiner eigenen Organisation zu gute: Ganz überwiegend übernahmen die von ihm herangebildeten Kader offenkundig eine Funktion im FDGB selbst.
Mit Blick auf den SED-Parteiapparat beschränkten sich die Karrieren von FDGB-Funktionären darauf, dass sie - sofern sie als Vorsitzende eines FDGB-Vorstandes amtierten - stets qua Amt als Mitglieder in die zuständige SED-Parteileitung kooptiert wurden. Das mag als persönlicher Karrieresprung betrachtet worden sein, führte aber nur höchst selten über die im Gewerkschaftsapparat bereits erreichte Karriere- oder besser: Nomenklaturstufe hinaus. Innerhalb des SED-Parteiapparates lag auch die Leitung der Abt. Gewerkschaften und Sozialpolitik des ZK meist in den Händen eines Parteikaders und nicht in den Händen eines über den FDGB-Apparat aufgestiegenen Gewerkschafters. Im SED-Zentralkomitee etwa wurde die Abteilung zwischen 1965 und 1989 von Fritz Brock geleitet, der dem FDGB zwar als Mitglied angehörte und außerdem einige Jahre Betriebsleiter gewesen war, aber nie eine hauptamtliche Gewerkschaftsfunktion bekleidet hatte; erst drei Jahre nach seiner Berufung als ZK-Abteilungsleiter wurde er in den FDGB-BuV gewählt.
Bisher sind außerdem nur wenige Laufbahnen von hauptamtlichen FDGB-Funktionären dokumentiert, denen tatsächlich der Wechsel in eine gehobene Nomenklaturfunktion des Staats- und Wirtschaftsapparates gelang. Ein solcher Fall ist zum Beispiel der von Wolfgang Beyreuther, der von 1971 bis 1977 stellv. Vors. des FDGB-BuV und Leiter seines Sekr. war, bevor er von 1977 bis 1989 an der Spitze des Staatssekretariats für Arbeit und Löhne stand und damit zugleich dem Ministerrat der DDR angehörte. Fritz Rösel dagegen, der nach einigen Jahren hauptamtlicher Tätigkeit für den ZV der IG Textil-Bekleidung-Leder 1956 am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED ein Studium als Diplom-Gesellschaftswissenschaftler abgeschlossen hatte und 1960 zum Dr. rer. oec. promoviert worden war, verblieb auch danach - obwohl er als ausgewiesener sozialpolit. Experte galt - im FDGB-Apparat; von 1962 bis 1989 gehörte er dem FDGB-BuV an und war als Mitglied des Präs. und des Sekr. für Sozialversicherung, Feriendienst und Arbeiterversorgung zuständig.
Nur wenn man die Ebene der Kombinats- und Betriebsdirektoren mit in den Blick nimmt, ändert sich das Bild etwas. Hier wäre zum Beispiel Erich Müller (*4.10.1921) zu nennen, der langjährig von 1968 bis 1988 amtierende Generaldirektor des VEB Leuna-Werke „Walter Ulbricht“. Er arbeitete sich zwischen 1949 und 1953 in wenigen Jahren vom Vorsitzenden des Ortsvorstandes Döbeln der IG Chemie zum Organisationsleiter und Sekretär des ZV der IG Chemie empor, absolvierte dann ein Studium zum Diplom-Gesellschaftswissenschaftler an der Parteihochschule und übernahm anschließend verschiedene Funktionen im mittleren Partei- und Staatsapparat, bevor er im November 1968 die Generaldirektion der Leuna-Werke übernahm. Nur mit den Mitteln der K. des FDGB, ohne Studium an der Parteihochschule, wäre ihm dieser Karrieresprung sicherlich nicht gelungen.
Sollte sich dieses bisher nur punktuell zu erkennende Bild durch weitere, systemat. Forschungsergebnisse bestätigen, würde das heißen, dass der FDGB seiner offiz. Aufgabe, Leitungskräfte nicht nur für eigene Organisationszwecke, sondern auch für den sozialist. Staats- und Wirtschaftsapparat heranzubilden, nur sehr bedingt nachkam. Hauptursache dürfte das Bestreben der SED-Führung gewesen sein, diese Nomenklaturfunktionen möglichst mit solchen Kadern zu besetzen, die sie über ihren eigenen Parteiapparat herangebildet hatte.

Friederike Sattler


Lit.: W. Zapf, Führungsgruppen in West- und Ostdeutschland (Beiträge zur Analyse der deutschen Oberschicht, 1966). - R. Herber/H. Jung, Kaderarbeit im System sozialistischer Führungstätigkeit, 1968. - P. C. Ludz, Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-Führung. Eine empirisch-systematische Untersuchung, 1968. - W. Assmann/G. Liebe, Kaderarbeit als Voraussetzung qualifizierter staatlicher Leitung, 1972. - R. Schwarzenbach, Die Kaderpolitik der SED in der Staatsverwaltung. Ein Beitrag zur Entwicklung des Verhältnisses von Partei und Staat in der DDR (1945-1975), 1976. - G.-J. Glaeßner, Herrschaft durch Kader. Leitung der Gesellschaft und Kaderpolitik in der DDR am Beispiel des Staatsapparates, 1977. - U. Gill, Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB). Theorie - Geschichte - Organisation - Funktion - Kritik, 1989. - H. Zimmermann, Überlegungen zur Geschichte der Kader und der Kaderpolitik in der SBZ/DDR (H. Kaelble/J. Kocka/H. Zwahr (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, 1994). - E. Schneider, Die politische Funktionselite der DDR. Eine empirische Studie zur SED-Nomenklatura, 1994. - A. Bauerkämper/J. Danyel/P. Hübner, „Funktionäre des schaffenden Volkes“? Die Führungsgruppen der DDR als Forschungsproblem (A. Bauerkämper u.a. (Hg.), Gesellschaft ohne Eliten? Führungsgruppen in der DDR, 1997). - M. Wagner, Gerüst der Macht. Das Kadernomenklatursystem als Ausdruck der führenden Rolle der SED (A. Bauerkämper u.a. (Hg.), Gesellschaft ohne Eliten? Führungsgruppen in der DDR, 1997). - Sabine Ross, „Karrieren auf der Lochkarte“. Der „Zentrale Kaderdatenspeicher“ des Ministerrats der DDR (A. Bauerkämper u.a. (Hg.), Gesellschaft ohne Eliten? Führungsgruppen in der DDR, 1997). - C. Boyer, Kaderpolitik und zentrale Planbürokratie in der SBZ/DDR (1945-1961) (S. Hornbostel (Hg.), Sozialistische Eliten. Horizontale und vertikale Differenzierungsmuster in der DDR, 1999). - R. Weinert, Die Wirtschaftsführer der SED: Die Abteilungsleiter im ZK im Spannungsfeld von politischer Loyalität und ökonomischer Rationalität (S. Hornbostel (Hg.), Sozialistische Eliten. Horizontale und vertikale Differenzierungsmuster in der DDR, 1999). - S. Hornbostel, Kaderpolitik und gesellschaftliche Differenzierungsmuster: Befunde aus der Analyse des Zentralen Kaderdatenspeichers des Ministerrats der DDR (S. Hornbostel (Hg.), Sozialistische Eliten. Horizontale und vertikale Differenzierungsmuster in der DDR, 1999). - P. Hübner, Durch Planung zur Improvisation. Zur Geschichte des Leitungspersonals in der staatlichen Industrie der DDR (Archiv für Sozialgeschichte 39/1999). - P. Hübner (Hg.), Eliten im Sozialismus. Beiträge zur Sozialgeschichte der DDR, 1999. - H. Best/S. Hornbostel (Hg.), Die Funktionseliten der DDR. Theoretische Kontroversen und empirische Befunde, 2003.