FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Ideologie- und Verhaltenskontrolle.

Inhalt:

I.    Politisch-ideologische Grundlagen der Ideologie- und Verhaltenskontrolle

II.   Wichtige Instrumente der Ideologie- und Verhaltenskontrolle

       a) Berichtswesen

       b) Gegenseitige soziale Kontrolle

       Literatur


Eine der Hauptaufgaben, welche die SED dem FDGB als ihrer mitgliederstärksten Massenorganisation zuwies, lag in der Ideologievermittlung und Erziehung sowie der damit eng zusammenhängenden - allerdings nach außen keineswegs genauso herausgestellten - I.-u.V. der Beschäftigten.


I.   Politisch-ideologische Grundlagen der Ideologie- und Verhaltenskontrolle

Ebenso umfassend wie der Anspruch der Ideologievermittlung und Erziehung, neue „sozialist. Persönlichkeiten“ heranzubilden, fiel auch der damit verknüpfte Anspruch auf I.-u.V. aus, zumal sich zeigte, dass die Überführung der Produktionsmittel in Volkseigentum nicht wie erhofft zu einem schnellen Bewusstseins- und Verhaltenswandel bei den nunmehr werktätigen Miteigentümern am Volkseigentum führte: Sie verstanden und verhielten sich ganz überwiegend weiterhin als abhängig Beschäftigte und zeigten wenig Neigung, sich ohne materielle Gegenleistungen ihres nunmehr staatlichen Arbeitgebers im sozialist. Wettbewerb für die Planerfüllung laufend gegenseitig zu überbieten, um das volkswirtsch. Wachstum anzukurbeln.
Aus dem hochgesteckten Ideologievermittlungs- und Erziehungsanspruch und den sich abzeichnenden Schwierigkeiten bei seiner Umsetzung ergab sich für den FDGB ein umfassendes Arbeitsfeld der I.-u.V., das er in engem Zusammenwirken mit dem SED-Apparat und dem Staatssicherheitsdienst abzudecken hatte. Mit seinen 15 eigenen Bezirksvorständen (BV) und zusätzlichen 211 BV der Einzelgewerkschaften, 237 eigenen Kreisvorständen und zusätzlichen 1 698 Kreisvorständen der Einzelgewerkschaften, gut 25 000 Abteilungsgewerkschaftsorganisationen (AGO) und 47 000 Betriebsgewerkschaftsorganisationen (BGO) in Betrieben und Verwaltungen sowie an der untersten Basis insgesamt mehr als 350 000 Gewerkschaftsgruppen (Zahlenangaben für 1988) stellte der FDGB ein organisator. Potenzial zur Verfügung, das von der SED eben nicht nur für Transmissionsaufgaben, sondern auch für Informations-, Kontroll- und Disziplinierungszwecke genutzt werden konnte - und intensiv genutzt wurde.
Grundsätzlich kann die in der DDR im Auftrag der SED-Führung vom Staatssicherheitsdienst sowie vom FDGB und anderen Massenorganisationen ausgeübte I.-u.V. als eine Art funktionales Äquivalent zu der ideolog. für überflüssig erklärten und polit. nicht erwünschten wechselseitigen Vermittlung von Interessen zwischen mündigen Bürgern und autonomen gesellschaftlichen Gruppierungen einerseits, den polit. Institutionen andererseits, wie sie für pluralist. Demokratien kennzeichnend ist, verstanden werden. Der Marxismus-Leninismus ging davon aus, dass die dem menschlichen Handeln als Motive zugrunde liegenden Interessen in erster Linie durch die Produktionsverhältnisse geprägt und somit „objektiv“ bestimmbar seien. Hatten demzufolge in der bürgerlichen Gesellschaft noch prinzipiell unversöhnliche - häufig antagonist. genannte - Interessengegensätze zwischen den privaten Eigentümern der Produktionsmittel und den abhängig Beschäftigten bestanden, so wurden diese nach Überführung der wichtigsten Produktionsmittel in Volkseigentum als aufgehoben betrachtet. Stimmten die „objektiv“ gegebenen Interessen und das „subjektive“ Interessenbewusstsein dennoch nicht überein, so konnte das der Ideologie zufolge nur am noch unzureichenden oder gar falschen Bewusstsein des Einzelnen liegen. Und es war Aufgabe der marxist.-leninist. Partei, dem Einzelnen mit Hilfe der von ihr geführten Massenorganisationen als Vermittlungsinstanzen nicht nur ein richtiges Bewusstsein von seinen objektiven Interessen zu vermitteln, um ihn zu einem richtigen Verhalten zu befähigen, sondern auch die Entwicklung des Verhältnisses zwischen objektiven Interessen und subjektivem Interessenbewusstsein sowie daraus möglicherweise resultierendem „Fehlverhalten“ laufend zu kontrollieren und zu sanktionieren. Anders gesagt diente das ideolog. Postulat gesamtgesellschaftlicher Interessenidentität, das in den 60er Jahren zwar durch die Anerkennung der Existenz nicht-antagonist. sozialer Konflikte leicht modifiziert, aber niemals grundsätzlich in Frage gestellt wurde, dazu, individuell oder kollektiv artikulierte autonome Interessen zu klassengegner., feindlichen Äußerungen abstempeln zu können, wann immer das von der SED-Führung für opportun befunden wurde. Indem der FDGB schon 1950 in seiner Satzung die führende Rolle der SED anerkannte, akzeptierte er zugleich auch dieses Verständnis von Interessenvertretung und die daraus resultierende Aufgabe der I.-u.V.


II.   Wichtige Instrumente der Ideologie- und Verhaltenskontrolle

a) Berichtswesen

Wichtigstes Instrument des FDGB zur I.-u.V. war sein internes Berichtswesen, dem zuletzt rund 9,6 Mio. Mitglieder und damit fast sämtliche Beschäftigte in der DDR unterlagen (vgl. Mitgliedschaft). Mit seiner Hilfe konnten die aktuellen polit. Stimmungen, Meinungen und Verhaltensweisen der Beschäftigten nahezu flächendeckend erhoben, erfasst und ausgewertet werden. Das Berichtswesen besaß aber nicht nur eine allgemeine Informations- und Kontrollfunktion in Hinblick auf Umsetzung und Wirkungen der eigenen Politik sowie die daraus resultierenden Stimmungen, Meinungen und Verhaltensweisen der Beschäftigten, sondern es diente insbesondere dazu, möglichst jede polit.-ideolog. abweichende Meinung oder Verhaltensweise konkret und individualisiert zu erfassen, um die betreffende Person bzw. Personengruppe anschließend gezielt „bearbeiten“ und disziplinieren zu können, entweder mit verstärkten Integrationsbemühungen oder aber mit verschärften Repressionsmaßnahmen.
Da die vom FDGB mit Hilfe seines Berichtswesens gewonnenen Erkenntnisse stets auch der SED und in deren Auftrag teilweise zusätzlich dem Staatssicherheitsdienst zur Verfügung gestellt wurden, war in Hinblick auf die Disziplinierung aktenkundig gewordener abweichender Meinungen und Verhaltensweisen ein enges Zusammenwirken der Apparate sichergestellt. Wie die Zusammenarbeit zwischen FDGB und Staatssicherheit im Einzelnen aussah und sich im Verlauf der Zeit entwickelte, bedarf vor allem für die Ebene der Kombinate und Betriebe (vgl. Betrieb als Sozialisationsinstanz) noch genauerer Untersuchungen. Nach bisherigem lückenhaften Kenntnisstand scheint sie weniger durch die offiz. Kontakte zwischen den hauptamtlichen Funktionären beider Apparate, also durch das sog. polit.-operative Zusammenwirken (POZW), als durch die verdeckte Zusammenarbeit des Staatssicherheitsdienstes mit Inoffiziellen Mitarbeitern (IM), die dieser aus dem Kreis der haupt- wie ehrenamtlichen FDGB-Funktionäre in den 70er und 80er Jahren in immer größerer Zahl anwarb, getragen worden zu sein.
Neben der allgemeinen Informations- und Kontrollfunktion sowie der besonderen Disziplinierungsfunktion spielte eine prinzipiell zumindest denkbare ergänzende Rückkopplungs- und Korrekturfunktion des Berichtswesens nach bisher vorliegenden Erkenntnissen praktisch kaum eine Rolle: Die Flut der von unten nach oben durch den Gewerkschaftsapparat laufenden Berichte wurde an der Spitze offenbar zu keiner Zeit dazu genutzt, unvoreingenommen, d.h. ohne ideolog. Scheuklappen, Kenntnis von „abweichenden“ Interessen, Meinungen und Verhaltensweisen der eigenen Mitglieder zu nehmen und der SED-Führung eine entsprechende Korrektur des polit. Kurses zu empfehlen. Eine solche Rückkopplung autonomer individueller oder kollektiver Interessen durch die Massenorganisationen war unter den Bedingungen des von der SED mit Hilfe des demokrat. Zentralismus etablierten Herrschafts- und Machtsystems schlicht nicht vorgesehen (vgl. Stellung im polit. System).
Unter den zahlreichen verschiedenen Berichtsformen waren für die I.-u.V. die Berichte über die sog. „besonderen Vorkommnisse“ von zentraler Bedeutung. Mit Hilfe dieses Sammelbegriffs wurden Ereignisse erfasst, die in irgendeiner Weise als störend für den regulären Ablauf der Produktions- und Arbeitsprozesse betrachtet und deshalb als möglicherweise polit. brisant und den Interessen der sozialist. Staats- und Gesellschaftsordnung zuwiderlaufend eingestuft wurden. Die im zunehmend formalisierten Berichtswesen systemat. abgefragte Palette reichte dabei von einfachen technischen Störungen über Havarien, Brände, Unfälle und Massenerkrankungen bis hin zu Anzeichen für polit. Unzufriedenheit in den Belegschaften (vgl. Widerstand und Opposition). Jedes dieser offiz. registrierten Vorkommnisse stand prinzipiell unter dem Vorbehalt, möglicherweise ein wichtiges Indiz für eine subversive polit. Aktivität zu sein. Ganz besondere Aufmerksamkeit bei der systemat. Registrierung von Vorkommnissen widmeten die Gewerkschaftsleitungen seit dem 17. Juni 1953 den begrenzten Arbeitsniederlegungen und Streiks.
In den seit dem Jahr 1959 überlieferten „AK (S)-Informationen“ (die Abkürzung steht wahrscheinlich für „Arbeitskräfte (Streik)-Informationen) wurde minutiös festgehalten, wer sich wo an einer Arbeitsniederlegung beteiligte, wie die räumliche und branchenmäßige Verteilung solcher Aktionen im Überblick aussah und was im Einzelfall als unmittelbarer Anlass und als eigentliche Ursache anzusehen war. Die Beteiligten selbst führten als Anlässe meist administrative Normerhöhungen und schlechte Arbeitsorganisation sowie die damit verbundenen Lohnminderungen an. Die Berichterstatter konstatierten dagegen als eigentliche Ursache fast immer die mangelhafte Arbeit der zuständigen Gewerkschaftsleitungen, seltener auch polit. Sorglosigkeit gegenüber „klassenfeindlichen“ Aktivitäten. Ihre Hauptschlussfolgerung bestand folglich stets darin, dass die polit.-ideolog. und die sonstige Gewerkschaftsarbeit verbessert werden müsse und nicht etwa darin, wie eine die Mitgliederäußerungen ernstnehmende und ergebnisoffene Ursachenanalyse hätte ergeben müssen, dass der von der SED-Führung vorgegebene und vom FDGB als ihrer Massenorganisation vorbehaltlos zu vertretende wirtschaftspolit. und sozialpolit. Kurs möglicherweise zu überdenken und zu korrigieren war.
Bereits am Beispiel der AK (S)-Informationen wird überdeutlich, dass es beim Berichtswesen des FDGB in erster Linie um I.-u.V., nicht etwa um die Rückkopplung von Mitgliederinteressen und die Korrektur des polit. Kurses ging. Ein wachsendes Problem der I.-u.V. bestand allerdings darin, dass in den Betrieben vielfach die Tendenz vorherrschte, über Störungen und Konflikte nicht wie gewünscht sofort an übergeordnete Stellen zu berichten, sondern zunächst nach internen und auch informellen Arrangements zu suchen.
Darauf reagierte der FDGB-BuV mit einer immer stärkeren Regulierung und Formalisierung seines Berichtswesens. Auch der Katalog der streng berichtspflichtigen „besonderen Vorkommnisse“ wurde so ständig erweitert. Seit April 1973 umfasste er neben Unregelmäßigkeiten im Gewerkschaftsleben selbst (dazu zählten Unterschlagung, Einbruch und Diebstahl sowie die Verletzung von Kaderprinzipien - vgl. Kaderpolitik) erstens Massenerkrankungen, zweitens Havarien und Brände, drittens Zwischenfälle mit ausländ. Arbeitnehmern, viertens Arbeitskonflikte und Arbeitsniederlegungen sowie fünftens die sog. staatsfeindlichen Handlungen, worunter Wandschmierereien mit tatsächlich oder angeblich „faschist.“ Inhalt und „klassenfeindlichen“, d.h. SED-kritischen Parolen, provokator. Auftreten gegenüber Funktionären von FDGB und SED, anonyme Drohbriefe und sonstige Schreiben, Unterschriftensammlungen aus polit. Anlässen sowie Republikflucht subsummiert wurden. In den 80er Jahren kam die offiz. zwar nicht verbotene, aber dennoch als polit. unzulässig eingestufte kollektiv verfasste Eingabe hinzu.
Neben den Berichten über „besondere Vorkommnisse“ erlangte in den 70er und 80er Jahren eine weitere Kategorie von Berichten für die I.-u.V. an Bedeutung: die Informationen und Analysen der Kreis- und Bezirksvorstände über „Vorschläge, Hinweise und Kritiken der Mitglieder“ - kurz: VHK -, wie sie in den Mitgliederversammlungen geäußert wurden. Auch sie wurden immer akrib. erhoben, erfasst und ausgewertet. Inhaltlich ging es dabei meist um den sozialist. Wettbewerb und die Planerfüllung, teilweise auch um arbeitsrechtliche und sozialpolit. Fragen. Grundlegende Kritik spiegelte sich in ihnen lange Zeit nicht wider, allenfalls fanden sich Hinweise auf Beschwerden über arbeitsorganisator. und soziale Unzulänglichkeiten. Die technisch und statist. immer aufwändigere Auswertung dieser Berichte durch die einzelnen Kreis- und Bezirksvorstände beschränkte sich im Endergebnis meist darauf, festzuhalten, dass die Werktätigen angeblich großes Vertrauen in die polit. Führung besäßen und sich durch verstärkte Anstrengungen für die Planerfüllung auszeichnen würden, dass sich in ihren VHK die angestrebte Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik bereits deutlich widerspiegele und die Tätigkeit der gewerkschaftlichen Leitungen sich ständig weiter verbessere.
Die bürokrat. Perfektionierung und gleichzeitig immer deutlichere Ignoranz gegenüber den real bestehenden Problemen führten das Berichtswesen des FDGB immer mehr ad absurdum. Als gegen Ende 1988 in den Gewerkschaftsversammlungen tatsächlich kritischere Stimmen laut wurden, die zum Beispiel die immer gravierenderen Versorgungsmängel, die verschwender. Subventionspolitik, die unzureichende Umweltpolitik, die rigiden Reiseeinschränkungen oder die schlechte Informationspolitik des SED-Regimes offen anprangerten, konnte das Berichtswesen im Grunde genommen nur die Hilflosigkeit der Funktionäre und Gewerkschaftsleitungen bis hinauf zum Sekr. des FDGB-BuV im Umgang mit solcher Kritik dokumentieren. Freimütige Kritik wurde nicht als Aufforderung zum polit. Handeln betrachtet und in diesem Sinne an die SED-Führung weiter vermittelt, sondern noch immer ausschließlich unter dem Aspekt der auftragsgemäß und in Zusammenarbeit mit dem Staatssicherheitsdienst auszuführenden I.-u.V. betrachtet, d.h. als Äußerung von provozierenden „negativen“ Kräften gedeutet, die es durch entsprechende „Bearbeitung“ zum Widerruf ihrer Kritik zu bringen oder mundtot zu machen galt. Immer häufiger mussten die damit beauftragten FDGB-Funktionäre 1989 im Zuge der friedlichen Revolution im Herbst allerdings feststellen, dass sich die betreffenden Personen „uneinsichtig“ zeigten.


b) Gegenseitige soziale Kontrolle

Zur I.-u.V. trug der FDGB nicht nur mit seinem internen Berichtswesen, sondern auch durch die Einführung und Einübung zahlreicher Methoden der gegenseitigen sozialen Kontrolle bei.
Dazu zählten in den 50er Jahren vor allem die Rituale von Kritik und Selbstkritik, die u.a. in der Gewerkschaftspublizistik und in den Betriebszeitungen, im Schulungswesen und in persönlichen Aussprachen zwischen Funktionären und Beschäftigten sowie auf betriebsöffentlichen Versammlungen als Verhaltensnormen eingeübt und kontrolliert wurden. Die Rituale von Kritik und Selbstkritik sollten die Funktionäre und Mitglieder zur „Unversöhnlichkeit“ gegenüber Missständen und polit.-ideolog. abweichenden Meinungen und Verhaltensweisen erziehen, indem sie individuelles „Fehlverhalten“ anprangerten, Rechtfertigungen erzwangen und nach Möglichkeit propagandist. verwertbare Fehler- oder Schuldeingeständnisse zu erbringen hatten. Für die teilweise völlig unberechtigt beschuldigten Personen brachte das i.d.R. nicht nur erhebliche berufliche und gesellschaftliche Nachteile mit sich, sondern wurde von ihnen oft auch als eine persönliche Erniedrigung erfahren. Weniger eine auf überzeugende erzieher. Wirkung als vielmehr eine auf Denunziation, Zwang und Abschreckung beruhende Verhaltensnormierung war die Folge.
Die gegen Ende der 50er Jahre vom FDGB forcierte Bildung von Brigaden und die von ihnen unter dem Motto „Auf sozialist. Weise arbeiten, lernen und leben!“ verlangte Selbstverpflichtung auf die sozialist. Moral und Ethik dienten dazu, ihre Mitglieder nicht nur am Arbeitsplatz, sondern zusätzlich in ihrer Freizeit, durch vermehrte Bildungs- und Kulturangebote, einer wesentlich subtileren gegenseitigen sozialen Kontrolle zu unterwerfen (vgl. Betrieb als Sozialisationsinstanz). Doch dieser Erziehungs- und Kontrollanspruch und der betriebliche Alltag des Brigadelebens fielen deutlich auseinander: Dem FDGB gelang es auch mit Hilfe der Brigaden nicht, die Beschäftigten zu neuen „sozialist. Persönlichkeiten“ zu formen. Die Brigaden verlangten zwar die Einordnung des Einzelnen in ein Kollektiv und dehnten die gegenseitige soziale Kontrolle beträchtlich über die betriebliche Sphäre hinaus in den Freizeitbereich aus, setzten damit aber keine nachhaltigen Lernprozesse und Verhaltensänderungen in Gang, sondern schufen in erster Linie zusätzliche Möglichkeiten für das Aushandeln informeller Kompromisse zur Beschwichtigung und Begrenzung schwelender gesellschaftlicher und polit. Konflikte.
Ein weiteres Instrument der gegenseitigen sozialen I.-u.V. stellten die 1952/53 vom FDGB vermehrt ins Leben gerufenen betrieblichen Konfliktkommissionen dar, die für eine schnelle außergerichtliche Beilegung von Arbeitskonflikten direkt am Ort ihres Entstehens sorgen und das Aufkommen neuer Arbeitskonflikte vorbeugend eindämmen sollten. Offiz. galten die Konfliktkommissionen nicht als gewerkschaftliche Gremien, doch setzten sie sich fast ausschließlich aus FDGB-Mitgliedern bzw. besser aus Funktionären und besonders aktiven und zugleich linientreuen Mitgliedern zusammen. In den meisten Betrieben führten die Konfliktkommissionen zunächst nur ein Schattendasein, denn sie standen in dem Ruf, sich weniger um die unparteiische Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten als vielmehr um die Erziehung der Beschäftigten zur sozialist. Moral (vgl. sozialst. Arbeitsmoral) zu bemühen, was vielfach als unzulässige Einmischung in persönliche Angelegenheiten empfunden wurde. Erst als im April 1960 die Direktwahl der Kommissionsmitglieder durch die Beschäftigten eingeführt und ihre arbeitsrechtlichen Entscheidungskompetenzen beträchtlich erweitert wurden, gewannen sie im Betriebsalltag an praktischer Bedeutung. In den Konfliktkommissionsverfahren der 60er Jahre spielten die ursprünglichen ideologisierten Erziehungsziele zwar nach wie vor eine große Rolle, doch trat daneben nun vermehrt die beiderseitig einzufordernde Ahndung von Rechtsverletzungen. Seit 1968 waren sie für die erstinstanzliche Rechtsprechung in sämtlichen Arbeitsstreitfällen zwischen Beschäftigten und Betrieben zuständig. Obwohl die Konfliktkommissionen laut Gesetz dazu aufgefordert waren, ihre wichtigste Aufgabe im Schutz der Staats- und Gesellschaftsordnung sowie des sozialist. Eigentums zu sehen und die Beschäftigten zur „Unduldsamkeit“ gegenüber abweichenden Meinungen und Verhaltensweisen anzuhalten, wichen die offen repressiven Erziehungs- und Disziplinierungsaufgaben in der betrieblichen Praxis der 80er Jahren immer mehr einem Selbstverständnis, das auf die Entpolitisierung von Konflikten und deren einvernehmliche innerbetriebliche Beilegung gerichtet war (vgl. Arbeitsdisziplin). Hierin spiegelte sich ein deutlicher Trend zur Internalisierung der gegenseitigen sozialen I.-u.V. und des damit einhergehenden Bedürfnisses zur Harmonisierung der Arbeits- und Lebensumstände wider. Vor diesem Hintergrund gelang es den Konfliktkommissionen tatsächlich, für eine hohe Akzeptanz ihrer Kompromissvorschläge zu sorgen, auch wenn sie eher missmutig hingenommen denn als echte und dauerhafte Lösungen betrachtet wurden.

Friederike Sattler


Lit.: S. Mampel, Die Konfliktkommissionen in den Betrieben und in den Verwaltungen der SBZ (Beiträge zum Arbeitsrecht in der sowj. Besatzungszone Deutschlands, 1963). - W. Eckelmann u.a., FDGB intern. Innenansichten einer Massenorganisation, 1990. - R. Weinert, Massenorganisationen in mono-organisationalen Gesellschaften. Über den strukturellen Restaurationszwang des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes im Zuge des Zusammenbruchs der DDR, 1991. - J. Roesler, Inszenierung oder Selbstgestaltungswille? Zur Geschichte der Brigadebewegung in der DDR während der 50er Jahre, 1995. - Rechtspflege - Arbeitsrechtsverfahren der Konfliktkommissionen 1972 bis 1988, 1995. - H.-H. Hertle, Funktion und Bedeutung der Massenorganisationen in der DDR am Beispiel des FDGB (Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Band II/1, 1995). - P. Hübner, „Sozialist. Fordismus“? Oder: Unerwartete Ergebnisse eines Kopiervorganges. Zur Geschichte der Produktionsbrigaden in der DDR (Amerikanisierung. Traum und Alptraum im Deutschland des 20. Jahrhunderts, 1996). - A. Lüdtke, „... den Menschen vergessen“? oder: Das Maß der Sicherheit. Arbeiterverhalten der 1950er Jahre im Blick von MfS, SED, FDGB und staatlichen Leitungen (A. Lüdtke/P. Becker, Akten, Eingaben. Schaufenster, 1997). - T. Reichel, „Jugoslawische Verhältnisse?“ Die „Brigaden der sozialist. Arbeit“ und die „Syndikalismus“-Affäre (1959-1962) (Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, 1999). - N. Franke, Verstrickung. Der FDGB Leipzig im Spannungsfeld von SED und Staatssicherheit 1946-1989, 1999. - W. Kothe, Konfliktkommissionen zwischen paternalist. Interessenwahrnehmung und ordnender Erziehung (Der Schein der Stabilität. DDR-Betriebsalltag in der Ära Honecker, 2001). - R. Hürtgen, „Was hat der FDGB in 40 Jahren für uns getan?“. Gewerkschaftliche Interessenvertretung in der DDR (Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989: Die unbekannte Seite der DDR-Revolution. Diskussion - Analysen - Dokumente, 2001). - Dies., Der DDR-Betrieb als konflikt- und herrschaftsfreie Zone? Zum Konfliktverhalten von Arbeitern in den 70er und 80er Jahren (Die mitteldeutsche Chemieindustrie und ihre Arbeiter im 20. Jahrhundert, 2005). - Dies., Zwischen Disziplinierung und Partizipation. Vertrauensleute des FDGB im DDR-Betrieb, 2005.