FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Betriebskollektivvertrag (BKV). Alljährlich zwischen der Betriebsleitung und der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) als gesetzliche Vertreterin des Betriebskollektivs aller Werktätigen abgeschlossener Vertrag zur Festlegung der Verpflichtungen bei der Erfüllung der Betriebspläne und bei der Gestaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen in einem Volkseigenen Betrieb (VEB).
Anders als bei der bundesdeutschen Betriebsvereinbarung, die nach dem Betriebsverfassungsgesetz auf der Basis von Tarifautonomie abgeschlossen wird, war die Gestaltungsfreiheit der vertragschließenden Parteien im Falle des BKV stark beschränkt: durch staatliche Planauflagen, amtlich sanktionierte Rahmenkollektivverträge (RKV) für die einzelnen Branchen und weitere gesetzliche Bestimmungen, etwa zur Lohnpolitik.
Für den FDGB stellte der BKV in erster Linie ein Instrument zur Arbeitsmobilisierung im Rahmen des sozialist. Wettbewerbs dar, doch verschaffte er seinen betrieblichen Gliederungen auch einige betriebliche Mitwirkungsrechte, insbesondere bei der Verabschiedung des BKV und bei der Kontrolle seiner Umsetzung.
Die am sowj. Vorbild (vgl. sowj. Referenzmodell) orientierten BKV wurden in der DDR mit der „Verordnung über den Neuabschluss der Kollektivverträge“ vom 15.2.1951 als „ein Mittel zur Planerfüllung“ eingeführt und sollten in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben möglichst noch für das laufende Jahr verabschiedet werden. Neben den Verpflichtungen zur Planerfüllung enthielten sie zunächst auch noch einige lohnrechtliche Bestimmungen, die aus den Rahmenkollektivverträgen abgeleitet waren (betr. Entlohnung und Arbeitsnormen). Bei der Verabschiedung der ersten BKV kam es im Sommer und Herbst 1951 gerade in der Lohnfrage in vielen Betrieben zu Konflikten, denn die Belegschaften fühlten sich in dieser Hinsicht von ihren Gewerkschaftsleitungen oft nicht richtig vertreten (vgl. Widerstand und Opposition). Die Belegschafts- und Delegiertenversammlungen, auf denen über den BKV abgestimmt werden sollte, gerieten für die BGL mancherorts zu einem Fiasko: In den Leunawerken zum Beispiel, einem der größten Industriebetriebe der DDR, in dem zuvor heftig über die Lohnfortzahlung bei Betriebsstörungen gestritten worden war, konnte eine ausreichende Mehrheit erst erreicht werden, nachdem die Belegschaft vier Wochen lang von einem „Instrukteurkollektiv“ des FDGB-BuV auf eine nur noch in kleinen, besser kontrollierbaren Gruppen durchgeführte Delegiertenabstimmung vorbereitet worden war; die Vorsitzenden der BGL mussten zurücktreten. Auch andernorts kam es zu erheblichen Verzögerungen bei der Verabschiedung der BKV. Schon ab 1952 wurde die heikle Lohnfrage aus den BKV weitgehend herausgehalten und per Verordnung geregelt; gleichzeitig ging das Interesse der Belegschaften an den neuartigen Kollektivverträgen deutlich zurück.
Künftig ging es in den BKV hauptsächlich darum, die jeweiligen Verpflichtungen von Betriebsleitung, BGL und Belegschaft zur Planerfüllung genau aufzuschlüsseln und terminlich festzulegen; in Hinblick auf Löhne und Gehälter standen nur noch Eingruppierungsfragen, Zuschläge für besondere Arbeitserschwernisse und - mit wachsender Bedeutung - betriebliche Prämienzahlungen zur Debatte. Immer breiteren Raum nahmen Gesundheitsschutz und Arbeitsschutz, Qualifizierung, Jugend- und Frauenförderung sowie die betriebliche Sozialpolitik, der Betriebssport (s. Betriebssportgemeinschaft (BSG)) und kulturelle Veranstaltungen ein.
Für die Ausarbeitung wurden von der Betriebsleitung und der BGL meist besondere Kommissionen (vgl. Kommissionen der BGL) eingesetzt. Ihren Entwurf präsentierten sie auf Belegschafts- und Delegiertenversammlungen, meist in Verbindung mit der Rechenschaftslegung über die Erfüllung des BKV aus dem Vorjahr. Dabei nutzten sie die Gelegenheit vor allem, um eingehend die Ziele und Aufgaben des neuen Betriebsplanes zu erläutern und forderten die Belegschaft abschließend auf, eigene Änderungs- oder Ergänzungsvorschläge zu machen - die freilich den Rahmen der zentral vorgegebenen Bestimmungen nicht sprengen durften. Nach der nochmaligen Überarbeitung und der meist feierlich vollzogenen Unterzeichnung des Vertrages im Betrieb wurde er vom zuständigen FDGB-Bezirksvorstand (BV) inhaltlich geprüft und erst dann offiz. in Kraft gesetzt.
Ein BKV umfasste im Wesentlichen folgende fünf Gruppen von Verpflichtungen der Betriebsleitung einerseits, der BGL bzw. der Belegschaft andererseits:
1. Verpflichtungen betreffend die Gestaltung des sozialist. Wettbewerbs (Festlegung konkret abrechenbarer Ziele und der wichtigsten anzuwendenden Methoden, insbesondere in der Neuererbewegung);
2. Verpflichtungen betreffend die leistungsgerechte Entlohnung und die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen (Anwendung von bestimmten Lohnformen und Methoden der Wissenschaftlichen Arbeitsorganisation (WAO), gezielter Prämieneinsatz, Festlegung konkreter Maßnahmen zur Verbesserung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, zusätzliche soziale Einrichtungen etc.);
3. Verpflichtungen betreffend die Hebung des Kultur- und Bildungsniveaus der Werktätigen (berufliche Qualifizierung, polit. Schulung, Freizeit- und Feriengestaltung etc.; vgl. Schulungswesen; Ideologievermittlung und Erziehung);
4. Verpflichtungen betreffend die Verwendung der leistungsstimulierenden betrieblichen Fonds, vor allem des Lohnfonds, Prämienfonds, des Kultur- und Sozialfonds und des Leistungsfonds (in diesem Bereich wichen die BKV-Bestimmungen am häufigsten von den allgemeinen gesetzlichen Vorgaben ab und waren somit rechtlich gesehen unwirksam);
5. Verpflichtungen betreffend den Jugendförderungsplan und den Frauenförderungsplan (Aus- und Weiterbildung, Arbeits- und Lebensbedingungen, Einbeziehung in Planung und Leitung etc.).
Für diese fünf Gruppen von Verpflichtungen übernahmen die Vertragspartner allerdings keine gegenseitige Haftung, sondern vielmehr - im Sinne des demokrat. Zentralismus - eine rechtliche oder auch nur polit.-moral. Verantwortung gegenüber den jeweils übergeordneten Stellen.
Die BGL hatte das Recht und die Aufgabe, laufend die Umsetzung des BKV zu kontrollieren. Mindestens einmal jährlich, in größeren Betrieben aber auch halb- und vierteljährlich, wurden Belegschafts- oder Vertrauensleutevollversammlungen einberufen, auf denen sowohl die Betriebsleitung als auch die BGL Rechenschaft über die Erfüllung der Verpflichtungen abzulegen hatten. Beide Seiten mussten dabei regelmäßig Versäumnisse eingestehen, denn die Unzulänglichkeiten des Planungssystems, zum Beispiel die chronischen Stockungen in den Produktions- und Arbeitsabläufen, schlugen sich unweigerlich negativ auf die Umsetzung der übernommenen Verpflichtungen zur Planerfüllung oder zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen nieder. Besonderes Gewicht kam stets der Rechenschaftslegung über die Verwendung der betrieblichen Fonds und die Gewährung der Jahresendprämie zu, denn diese Punkte berührten ganz unmittelbar die materiellen Interessen der Beschäftigten. Ansonsten entwickelten sich die BKV-Rechenschaftslegungen zu reinen Pflichtveranstaltungen, die immer routinierter abliefen, ohne noch besonderes Interesse bei den Beschäftigten wecken zu können.
F.S.