FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Sozialistische Arbeitsmoral. Arbeitsmoral bezeichnet die Bereitschaft von Arbeitern und Angestellten, ihre physischen und psychischen Ressourcen zur Erzielung einer quantitativ und qualitativ möglichst hohen Arbeitsleistung einzusetzen. Die Kombination mit dem Adjektiv sozialist. verweist auf das spezif. Verständnis von Arbeitsmoral in der DDR.
Neben der Einhaltung der Arbeitsordnung umfasste die s.A. auch ein positives Verhältnis zu techn. Wandel, die Bereitschaft zu polit.-ideolog. und fachlicher Qualifizierung sowie die Mitwirkung bei der leistungsgerechten Festsetzung von Arbeitsnormen. Als Unterbegriff der s.A. galt die sozialist. Arbeitsdisziplin.
Die Stärkung der s.A. war ein Kardinalproblem der DDR. Bei dessen Lösung war dem FDGB eine Schlüsselrolle zugedacht, der hier auf eine Kombination von ideellen und materiellen Anreizen setzte. Dass eine zentrale Aufgabe der sozialist. Gewerkschaften darin bestand, die Beschäftigten zur Steigerung ihrer Arbeitsleistung anzuhalten, ging auf Vorstellungen W.I. Lenins (*22.4.1870-†21.1.1924) zurück. Seiner Ansicht nach führte die Umwandlung der Produktionsmittel in Staatseigentum zu einer Übereinstimmung zw. den Interessen des Einzelnen und der Gesellschaft. Den Aufbau des Sozialismus beschrieb er 1919 als „Sieg über die eigene Trägheit, über die eigene Undiszipliniertheit, über den kleinbürgerlichen Egoismus“. Erst wenn „die neue gesellschaftliche Disziplin, die sozialist. Disziplin“ geschaffen worden sei, werde eine Rückkehr zum Kapitalismus unmöglich.
Der FDGB sollte bei seinen Mitgl. das „Eigentümerbewusstsein“ erzeugen, das als Triebkraft der sozialist. Wirtschaft galt. „Mehr produzieren - gerecht verteilen - besser leben“ hieß das Motto des 2. FDGB-Kongresses 1947, dem zahlreiche ähnliche Losungen in den kommenden vier Jahrzehnten folgten. Dass Rhetorik nicht ausreichte, machte die SMAD noch im gleichen Jahr deutlich, als sie den Befehl Nr. 234 „über Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität und zur weiteren Verbesserung der materiellen Lage der Arbeiter“ erließ. Sie knüpfte eine Ausweitung der Versorgung mit Nahrung, Kleidung und Heizstoffen an eine Steigerung der Arbeitsleistung. Der FDGB machte sich diesen Befehl zu eigen und rief dazu auf, „jedes Auftreten einer schlechten und ungesunden Arbeitsmoral“ zu bekämpfen.
Die 1948 vom FDGB initiierte Aktivistenbewegung hatte eine ideelle und eine materielle Komponente: Vordergründig sollte die Übererfüllung von Arbeitsnormen durch sorgsam ausgewählte Werktätige motivierend auf die übrige Bevölkerung wirken, hintergründig diente sie der Vorbereitung einer allgemeinen Heraufsetzung der Lohneckwerte. Den Aktivisten gelang es aber nicht, von ihren Kollegen als Vorbild akzeptiert zu werden, und die Verschärfung der Arbeitsnormen provozierte den Aufstand vom 17. Juni 1953.
Die SED setzte weiter auf die Schaffung eines „sozialist. Bewusstseins“. Walter Ulbricht verkündete 1958 die „10 Gebote der sozialist. Moral“ dessen siebtes lautete: „Du sollst stets nach der Verbesserung Deiner Leistungen streben, sparsam sein und die sozialist. Arbeitsdisziplin festigen.“ Ein Jahr später startete der FDGB die Wettbewerbsbewegung „Sozialist. arbeiten, lernen, leben“, bei der die Mitglieder von Arbeitskollektiven sich gegenseitig zu einer Steigerung ihrer Arbeitsleistung anspornen sollten.
Seit seiner Gründung propagierte der FDGB den Leistungslohn. Zu den häufig beklagten Verstößen gegen die s.A. zählten die Versuche von Beschäftigten, ihre Arbeitsleistung niedrig zu halten, um eine Verschärfung der Arbeitsnormen zu Lasten schwächerer Kollegen zu vermeiden. In der Tribüne wurde wiederholt zum Kampf gegen diese „Gleichmacherei“ aufgerufen. Dennoch unterstützten untere FDGB-Funktionäre den hinhaltenden Widerstand gegen neue Arbeitsnormen. In welchem Ausmaß diese Diskrepanz zwischen Spitze und Apparat nach den Säuberungen in den Gewerkschaften Ende der 50er Jahre fortbestand, bleibt zu untersuchen (s.a. Widerstand und Opposition). Die Lohnformen wurden ab 1957 durch ein System von Prämien ergänzt, das auf dem „Prinzip der materiellen Interessiertheit“ basierte. Die der DDR-Gesellschaft inhärenten nivellierenden Tendenzen, die nach dem Machtantritt Erich Honeckers (*25.8.1912-†29.5.1994) 1971 wieder zunahmen, setzten der Stärkung der s.A. durch materielle Anreize allerdings enge Grenzen.
Als Mobilisierungsinstanz für die Produktion hat der FDGB versagt (s.a. Arbeitsmobilisierung). Die vielfältigen Angebote der betrieblichen Kultur-, Bildungs- und Sozialpolitik wurden von seinen Mitgliedern zwar gern wahrgenommen, verfehlten aber die ihnen zugedachte ideelle Wirkung. Rudolf Bahro (*18.11.1935-†5.12.1997) konstatierte 1977 das Scheitern der Aktivisten- und Wettbewerbsbewegung sowie des Leistungslohns als Stimulanz für erhöhte Anstrengungen: „Man verdirbt einander nicht die Norm. Man verteilt die Prämien.“ In den letzten Jahren der DDR sank die s.A. weiter ab; die Ineffizienz der Arbeitsorganisation bewirkte, wie Harry Tisch 1993 zugab, eine „bestimmte Demoralisierung“.
A.S.