FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Berichtswesen. Der FDGB, der als größte Massenorganisation der SED u.a. mit der Aufgabe der Ideologie- und Verhaltenskontrolle der Beschäftigten beauftragt war, unterhielt zu diesem Zweck ein hochgradig formalisiertes und zugleich feinverästeltes B., mit dessen Hilfe er systemat. und flächendeckend Informationen über die polit. Stimmung, die Meinungen und das Verhalten seiner Mitglieder in Wirtschaft und Verwaltung erhob, erfasste und auswertete. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse verwendete er nicht nur zu internen Zwecken, sondern stellte sie auch der SED und in deren Auftrag außerdem dem Staatssicherheitsdienst zur Verfügung. Nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 hatte die Geheimpolizei eigene „Informationsgruppen“ aufgebaut, um die Geschehnisse in den Betrieben (vgl. Betrieb als Sozialisationsinstanz) besser überwachen und die SED- und FDGB-Führungsgremien informieren zu können. Beginnend in den frühen 60er Jahren baute der FDGB dann jedoch sein eigenes B. massiv weiter aus, nicht zuletzt um vermehrt an sog. „Primärinformationen“ aus den einzelnen Gewerkschaftsgruppen zu kommen.
Die Zielsetzung dieses B. war eine dreifache: erstens sollte es laufend aktuelle Informationen über polit. Diskussionen, Meinungen und Haltungen der Funktionäre und Mitglieder auf allen Ebenen gewährleisten, zweitens sollte es eine kontinuierliche Kontrolle und Rückmeldung zur Umsetzung und Wirkung der eigenen Politik sicherstellen, um unbeabsichtigte Entwicklungen und Konfliktpotenziale möglichst frühzeitig erkennen und kanalisieren zu können und drittens sollte es ideolog.-polit. abweichende Meinungen und Verhaltensweisen möglichst konkret und individualisiert ausweisen, damit diese selektiv bearbeitet werden konnten, entweder durch verstärkte Integrationsbemühungen oder durch verschärfte Repressionsmaßnahmen.
Nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen über das interne B. des FDGB, dessen ganze Ausmaße und innere Systematik für Außenstehende erst nach 1989/90 erkennbar wurden, war diese dreifache Informations-, Kontroll- und Disziplinierungsfunktion stets wesentlich stärker ausgeprägt als eine prinzipiell zwar ebenfalls denkbare, in der straffen Hierarchie des demokrat. Zentralismus aber kaum praktikable Vermittlungs- und Korrekturfunktion: Umfassende Information, Kontrolle und Disziplinierung der eigenen Mitglieder spielten offensichtlich stets eine wesentlich größere Rolle als die Vermittlung von Mitgliederinteressen zur Korrektur des polit. Kurses.
Die konkrete Ausgestaltung des B. beruhte auf Beschlüssen des Sekr. des FDGB-BuV. Zentral gesteuert wurde es über die beim Sekretär für Organisation/Kader angesiedelte Abt. Organisation. Ihre in den späten 80er Jahren mehr als 30 Polit. Mitarbeiter erhielten entsprechend dem jeweils aktuellen halbjährlichen Informationsplan laufend Berichte aus den Bezirken, Kreisen und Betrieben zur Kenntnisnahme, Aufbereitung und Auswertung übermittelt. Die von ihnen erstellten „Informationen“ und „Analysen“ wurden i.d.R. dem FDGB-Vors. und seiner Stellvertreterin, den Sekretären, dem ZK der SED (Abt. Gewerkschaften und Sozialpolitik; Abt. Parteiorgane) sowie teilweise den ZV der inhaltlich betroffenen Einzelgewerkschaften zur Verfügung gestellt. Ging es um die polit. Stimmung sowie ideolog. abweichende Meinungen und Verhaltensweisen der Beschäftigten oder sonstige „besondere Vorkommnisse“, dann wurde stets auch der Staatssicherheitsdienst in den Verteiler aufgenommen, kenntlich gemacht durch ein „X“. Wesentlich seltener erhielt außerdem das Ministerium des Innern einen Durchschlag, im Verteiler markiert mit einem „Y“.
Bei den in der Abt. Organisation eingehenden Berichten grundsätzlich zu unterscheiden waren die regelmäßig-period. Sammelberichte und die stärker ereignisbezogenen Einzelberichte. Die regelmäßig-period. Berichterstattung aus den Betrieben, Kreisen und Bezirken informierte über die Durchführung von zentralen Beschlüssen, ging auf reguläre Partei- und Gewerkschaftstagungen und das alltägliche Gewerkschaftsleben ein, gab aktuelle Einschätzungen zum Verlauf des sozialist. Wettbewerbs und zur Planerfüllung und dokumentierte nicht zuletzt akrib. jegliche Veränderung in der polit. Stimmung der Beschäftigten. Die stärker ereignisbezogene Einzelberichterstattung ging dagegen auf gerade aktuelle polit. Kampagnen, etwa Gewerkschafts- oder Konfliktkommissionswahlen, und vor allem auf die bereits erwähnten „besonderen Vorkommnisse“ ein, wozu u.a. Havarien, Brände und Arbeitskonflikte zählten.
Von den regelmäßig-period. Sammelberichten und den ereignisbezogenen Berichten, die den Gewerkschaftsapparat laufend ohne gesonderte Anforderung von unten nach oben durchliefen, abzusetzen sind die sog. Instrukteurberichte, die von den „Operativ-Instrukteuren“ der Organisationsabteilungen zur Untersuchung und Aufklärung bestimmter Vorgänge - oft aus einem Anlass, der erst durch die Auswertung der laufenden Routineberichterstattung sowie von Eingaben und Beschwerden der Mitglieder aktenkundig geworden war - erstellt wurden. Eines der wichtigsten Ziele dieser Instrukteurberichte war es, der allgemein festzustellenden Tendenz zur Verzerrung und Verfälschung von Informationen, die bei langen bürokrat. Instanzenwegen fast unvermeidlich war, entgegenzuwirken und den übergeordneten Leitungen sozusagen Bilder aus erster Hand zu verschaffen; sie konnten allerdings nur punktuell sein. Inwiefern es zu einer systemat. Verknüpfung der Tätigkeit von Operativ-Instrukteuren des FDGB und von Mitarbeitern der Staatssicherheit kam, ist von der Forschung noch genauer zu ergründen.
Einen Versuch, die Zuverlässigkeit des eigenen B. nicht nur punktuell, sondern auf breiter Basis zu erhöhen, stellte die Anwendung von EDV-Anlagen dar. Ende der 60er Jahre unter dem Schlagwort „wissenschaftliche Leitungstätigkeit“ vermehrt eingeführt, sollten sie die Gewerkschaftsleitungen in die Lage versetzen, ihre Entscheidungen auf der Grundlage einer technisch ausgereiften, effektiven, unverfälschten und stets aktuellen Informationsverarbeitung immer rechtzeitig und richtig zu treffen, die Durchführung der Beschlüsse permanent zu kontrollieren und die Arbeitsweise der jeweils nachgeordneten Leitungen sowie der einzelnen Funktionäre und Mitglieder entsprechend den „objektiven Erfordernissen“ zu regeln und zu steuern. Wie sich schnell zeigen sollte, waren das völlig überzogene Vorstellungen von den neuen technischen Möglichkeiten. Das Grundproblem des B., die tendenzielle Verzerrung und Verfälschung von Informationen, konnte mit ihnen jedenfalls nicht behoben werden.
In den 70er und 80er Jahren erlangte neben den genannten Berichtstypen eine neue Kategorie erheblich an Bedeutung, die sog. „Vorschläge, Hinweise und Kritiken der Mitglieder“ - kurz: VHK -, wie sie in den Mitgliederversammlungen der einzelnen Gewerkschaftsgruppen geäußert wurden. Diese VHK wurden von den Kreis- und Bezirksvorständen genauestens erfasst und statist. ausgewertet. Inhaltlich ging es in ihnen meist um den sozialist. Wettbewerb und die Planerfüllung, außerdem um arbeitsrechtliche und sozialpolit. Fragen. Grundlegende Kritik spiegelte sich in ihnen allerdings - anders als der Name suggeriert - nicht wieder, allenfalls finden sich Hinweise auf Beschwerden über arbeitsorganisator. und soziale Missstände. Bemerkenswert ist vor allem, dass sich die technisch und statist. immer aufwändigere Auswertung dieser Berichte durch die Kreis- und Bezirksvorstände inhaltlich meist darauf beschränkte festzuhalten, dass die Werktätigen angeblich großes Vertrauen in die polit. Führung besäßen und sich durch verstärkte Anstrengungen für den Wettbewerb und die Planerfüllung auszeichnen würden, dass sich in ihren VHK die angestrebte Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik deutlich widerspiegele und dass sich die Tätigkeit der gewerkschaftlichen Leitungen ständig weiter verbessere. Die bürokrat. Perfektionierung und gleichzeitig immer offenkundigere Ignoranz gegenüber real bestehenden wirtsch. und sozialen Problemen führte das B. des FDGB in den späten 80er Jahren schließlich völlig ad absurdum. Im Oktober 1987 konnte zum Beispiel selbst der Kreisvorstand der IG Chemie, Glas und Keramik des VEB Leuna-Werke „Walter Ulbricht“ gegenüber den übergeordneten Gewerkschaftsleitungen genau angeben, dass ihm im laufenden Jahr 4 084 VHK zum sozialist. Wettbewerb, 1 896 VHK zu den Arbeits- und Lebensbedingungen und weitere 1 232 VHK zum geistig-kulturellen Leben unterbreitet worden waren. Die daraus gezogene Schlussfolgerung, die Beschäftigten seien vor allem an Fragen der Planerfüllung interessiert, zeigt, wie wenig das technisch und statist. perfektionierte B. des FDGB die tatsächliche Stimmung der eigenen Funktionäre und Mitglieder widerzuspiegeln vermochte.
F.S.