FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Streiks. Diese Form des Arbeitskampfes war in der DDR aus dem offiziellen Sprachgebrauch spätestens seit dem 17. Juni 1953 verschwunden und von SED, Staat und FDGB als Äußerung politischer Gegnerschaft verfolgt. Obwohl das Streikrecht noch bis zur Verabschiedung einer neuen Verfassung der DDR 1968 dort verankert gewesen war, galt in der DDR immer ein quasi Streikverbot. Die SED- und Staatsführung legitimierte die Unterdrückung von „Arbeitsniederlegungen“, wie die Streiks partei-, staats- und gewerkschaftsintern genannt wurden, sowie die Repressalien, welche unter bestimmten Umständen für die Beteiligten an einem Streik folgten, mit der „Feindtätigkeit“, welche in solchen Aktivitäten zum Ausdruck käme. Dabei hatte sie es nach 1945 mit einer Arbeiterschaft zu tun, zu deren Erfahrungen Streiks als legitime Kampfform im Arbeitsleben durchaus noch gehörten; der aktive Teil von ihnen stand in einer arbeiterbewegten, meist gewerkschaftlichen, sozialdemokratischen oder kommunistischen Tradition von vor 1933, was am 17. Juni im Anspruch auf Streik und Demonstrationen seinen Ausdruck fand. Mit der Verhaftung, öffentlichen Verurteilung, Kriminalisierung und z.T. jahrzehntelangen Verfolgung der „Rädelsführer“ stellte die Partei- und Staatsführung unmißverständlich klar, dass Streiks verboten sind. Nach dem 17. Juni 1953 begann der Ausbau eines immer gigantischer werdenden Kontroll- und Überwachungssystems in den Betrieben der DDR, welches seine Wirkung auch auf das Streikgeschehen haben sollte. SED, MfS und FDGB haben bis 1989 die Anzahl von Streiks in der DDR im Zusammenhang mit den „Besonderen Vorkommnissen“ im Betrieb registriert. Danach läßt sich eine Tendenz der jährlichen Streikgeschehen von bis über zweihundert in den 50er Jahren feststellen, welche sich allmählich auf zwei Streiks in den 80er Jahren zurück entwickelte (s. Tabelle). An den Streiks der 80er Jahre beteiligten sich nur noch einige wenige Beschäftigte, so daß kaum noch von einem solchen gesprochen werden kann. Seit der Niederschlagung des 17. Juni erreichten die Streiks ohnehin keine Öffentlichkeit mehr, sie fanden hinter den Werkstoren statt und wurden meist nicht einmal von den Beschäftigten der anderen Abteilungen desselben Betriebes registriert. Das MfS tat alles, um solche Konflikte im Vorhinein zu unterbinden, wenigstens aber, sie nicht bekannt werden zu lassen. Weitere „Spielregeln“, die von den Beschäftigten in der DDR auch zunehmend eingehalten wurden, bestanden in der Vermeidung des Eindrucks, der Streik sei kollektiv geplant gewesen oder würde sich mit einer Kritik an Staat und SED verbinden. Am häufigsten wurde in den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Halle, Dresden und Gera gestreikt sowie von Mitgliedern der Gew. Bau-Holz, Metall, Textil-Bekleidung-Leder; in den 70er Jahren kamen die Gew. Chemie Glas Keramik und Handel Nahrung und Genuss hinzu. Der Streik war auch in der DDR eine Domäne der Produktionsarbeiter und Handwerker der Betriebe, in den Streikforderungen kam vor allem deren Interessenlage zum Ausdruck: Schichtprobleme, Normen, Löhne, Prämien, Schichtversorgung oder schlechte sanitäre Einrichtungen wurden von den Streikenden am häufigsten thematisiert. Zumeist verabredete sich eine kleine Gruppe spontan in der Pause oder vor Schichtbeginn, die Arbeit nicht wieder aufzunehmen, um auf einen aus ihrer Sicht unhaltbaren Zustand hinzuweisen, welcher sich auf andere Weise nicht hatte beseitigen lassen. Forderungen die über den alten Standard hinausgingen, wurden nicht gestellt. Wenn sich dies auf der Ebene der Betriebsleitung realisieren ließ, wurde der Streik vom MfS meist als „berechtigt“ eingestuft, Forderungen, die an die staatlichen Organe gerichtet waren oder eine Kritik an diese enthielten, werden in den Akten „unberechtigte“ genannt. Unabhängig von derartigen internen Kategorisierungen wurden die „Rädelsführer“ von Streiks in der DDR stets diszipliniert; dies war vorrangig die Aufgabe von Gewerkschaftsfunktionären und Meistern. Das MfS registrierte jedes Streikgeschehen und nahm bei Bedarf die Observierung von Beteiligten auf. War der Streik also immer mit einem Risiko verbunden, brachte er zudem in den 70er und 80er Jahren selten Erfolge; die Arbeiter und Angestellten bedienten sich zunehmend anderer Formen, z. B. der Eingabe, ihre Interessen durchzusetzen.
R.H.

Anzahl der vom Bundesvorstand des FDGB registrierten Streiks in DDR-Betrieben

Jahr

Arbeitsniederlegungen

1960

166

1961 (I. bis III. Quartal)

98

1962

117

1963

138

1964

57

1965

25

1966

41

1967

18

1968

15

1969

28

1970 (bis 10.12.)

26

Oktober 1970-April 1971

63(1)

1971

48

1972

39(2)

1975

26

1976

ca. 25

1977

ca. 25

1978

15

1979

8

1980

6

1981

14

1982

6

1983

1

1984

-

1985

5

1986

2

1987

2

1988

2


(1) Überraschenderweise werden für diese Monate Arbeitskonflikte und Arbeitsniederlegungen zusammen erfasst.

(2) So heißt es in einer Einschätzung des Standes besonderer Vorkommnisse im Jahre 1972: „Der vorhandene Überblick zeigt, dass sich bei den gemeldeten besonderen Vorkommnissen die Arbeitskonflikte, Arbeitsniederlegungen und feindlichen Provokationen relativ verringerten …, daß es gegenüber 1971 eine absolute Zunahme von Bränden gibt …“