FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Interessenvertretung. Der FDGB verstand sich auch nach seiner Transformation von einer ursprünglich zumindest formell überparteilichen I. seiner Mitglieder zu einer polit. abhängigen Massenorganisation der SED weiterhin als eine I., nun allerdings im marxist.-leninist. Verständnis als eine I. aller Werktätigen.
Der Marxismus-Leninismus ging davon aus, dass die dem menschlichen und gesellschaftlichen Handeln als Motive und Triebkräfte zugrunde liegenden Interessen in erster Linie durch die materiellen Existenzbedingungen einer histor. Gesellschaftsformation, vor allem durch ihre Produktionsverhältnisse, geprägt würden. Den Interessen wurde neben dieser „objektiven“ Seite aber auch eine „subjektive“ Seite zugestanden: Sie galten zwar grundsätzlich als „objektiv“ bestimmt, konnten dem Einzelnen jedoch nur „subjektiv“ als Bedürfnisse, Absichten oder Zielvorstellungen bewusst werden. Wo die „objektiv“ gegebenen Interessen und das „subjektive“ Interessenbewusstsein nicht zusammen fielen, konnte das der Ideologie zufolge aber nur am noch unzureichenden oder gar falschen Bewusstsein des Einzelnen liegen. Und es war Aufgabe und zugleich Existenzrechtfertigung der marxist.-leninist. Partei, dem Einzelnen mit Hilfe der von ihr geführten Massenorganisationen ein richtiges Bewusstsein von seinen „objektiven“ Interessen zu vermitteln und ihn damit zu befähigen, diese objektiven Interessen polit. und histor. durchzusetzen. Nur die Partei als Avantgarde der Arbeiterklasse verfügte angeblich über die Fähigkeit, die Erfordernisse der gesetzmäßigen Entwicklung der Gesellschaft zu erkennen, eine entsprechende polit. Strategie zu formulieren und - gestützt auf das Herrschaftsprinzip des demokrat. Zentralismus - erfolgreich umzusetzen.
Hatten nach den Vorstellungen des Marxismus-Leninismus in der bürgerlichen Gesellschaft antagonist., prinzipiell unversöhnliche Interessengegensätze zwischen den privaten Eigentümern der Produktionsmittel und den abhängig Beschäftigten bestanden, so wurden diese nach Überführung der wichtigsten Produktionsmittel in Volkseigentum als aufgehoben betrachtet. Die Interessen der nunmehr werktätigen Miteigentümer am Volkeigentum, von den einfachen Produktionsarbeitern über die technischen und kaufmänn. Angestellten bis zu den staatlichen Leitern eines Volkseigenen Betriebes (VEB), unterschieden sich demnach nicht mehr prinzipiell, sondern nur noch hinsichtlich der jeweils übernommenen funktionellen Verantwortung für die wirtsch. Mehrung des Volkseigentums.
Dieses Postulat gesamtgesellschaftlicher Interessenübereinstimmung unter sozialist. Produktionsverhältnissen, mit dessen Hilfe jegliche individuell oder kollektiv formulierten abweichenden Interessen zu klassengegner., feindlichen Äußerungen abgestempelt werden konnten, lag auch dem Selbstverständnis des FDGB und der von ihm offiz. praktizierten I. zugrunde. Schon mit dem Gesetz der Arbeit (1950) war er zum alleinigen „gesetzlichen Vertreter“ nicht nur seiner Mitglieder, sondern aller Beschäftigter in der DDR erklärt worden und hatte damit quasi ein Organisationsmonopol zur I. im beschriebenen Sinne zugesprochen bekommen. Unabhängige Betriebsräte hatten daneben keinen Platz mehr. FDGB-Funktionäre und Mitglieder, die sich als traditionelle Interessenvertreter verstanden, wurden als Nurgewerkschafter beschimpft und immer stärker an den Rand gedrängt. Abhängig von der konkreten Eigentumsform der Betriebe füllte der FDGB seine Aufgabe der I. allerdings zunächst recht unterschiedlich aus: Trat er in den verbliebenen Privatbetrieben eher im traditionellen Sinne als dezidierter Widerpart des Privatunternehmers auf, so richtete er seine Energien in den VEB schwerpunktmäßig darauf, die Beschäftigten für den sozialist. Wettbewerb und die nur gemeinsam mit den Betriebsleitungen zu erreichende Planerfüllung zu mobilisieren.
Dass nicht nur weiterhin unterschiedliche Eigentumsformen, sondern auch innerhalb der volkseigenen Betriebe soziale Unterschiede und daraus resultierende unterschiedliche kollektive und individuelle Interessen bestanden, die zu Konflikten führen konnten, gestand sich die SED-Führung jedoch erst in den 70er Jahren offen ein. Dem FDGB und seinen betrieblichen Gliederungen erlaubte dieses Eingeständnis eine Verstärkung seiner sozialen Schutzfunktionen und - begrenzt - auch eine etwas deutlichere Artikulation von unmittelbaren, nicht nur ideolog. konstruierten Belegschaftsinteressen. Einzuschätzen, welche Interessenlagen und Konflikte im Einzelfall polit. als „berechtigt“ angesehen und welche weiterhin als „reaktionär“ eingestuft werden würden, blieb jedoch bis zum Ende der DDR ein äußerst schwieriges Unterfangen - vor allem für die Beschäftigten.
F.S.