FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Staatssicherheitsdienst.

Inhalt:

I.     Aufgaben und institutionelle Gliederung des Staatssicherheitsdienstes in der Industrie

II.    Informationen und „Inoffizielle Mitarbeiter“

III.   Abweichendes polit. Verhalten der Belegschaften

IV.   Das Macht-Kartell von SED und Staatssicherheitsdienst und der FDGB

V.    Betrieblicher Alltag und IM

VI.   FDGB-Funktionäre und Staatssicherheitsdienst

VII.  Politische Auswirkungen

        Literatur


Der S., die militär. organisierte und weit verzweigte Geheimpolizei der DDR, baute nur geringe institutionelle Verbindungen mit dem FDGB auf. Vernetzt waren beide Institutionen dadurch, dass zahlreiche Gewerkschaftsfunktionäre in Leitungspositionen als „Inoffizielle Mitarbeiter” (IM) in den Industriebetrieben angeworben wurden.
Ziele des S. in den Industriebetrieben waren die Kontrolle von Belegschaftsmitgliedern, die „Abwehr” von polit. Meinungsäußerungen und die Kontrolle von Industrieunfällen in der Produktion, in Ausnahmefällen auch die Überwachung sensibler Produktionsabläufe vor dem Hintergrund des zunehmend katastrophalen Anlagenverschleißes in allen Industriezweigen, insbesondere jedoch in der Chemieindustrie. Auf diesen Schnittfeldern von Arbeitsalltag und staatlichen Kontrollen wurde der Industriebetrieb zum Schauplatz einer problemat. Überkreuzung gewerkschaftsspezif. Handlungsmotivationen mit der Spionagetätigkeit der DDR-Geheimpolizei nach innen (vgl. Ideologie- und Verhaltenskontrolle). Darüber hinaus wurde auch die Binnenorganisation des nach dem Prinzip des demokrat. Zentralismus hierarch. strukturierten FDGB ausspioniert.


I.   Aufgaben und institutionelle Gliederung des Staatssicherheitsdienstes in der Industrie

Institutionell handelte es sich beim S. um eine paramilitär. staatliche Polizeiverwaltung. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in Berlin unterhielt nachgeordnete „Bezirksverwaltungen” in allen Bezirkshauptstädten und griff damit auf alle Regionen, Städte und Dörfer der DDR aus. Ziel der Geheimpolizei war die Herrschaftssicherung nach innen und nur sekundär die Auslandsspionage, insbesondere gegen die Bundesrepublik (vgl. Westarbeit). Bereits unmittelbar nach Kriegsende und unter Aufsicht der sowj. Besatzungsmacht wurde mit dem Aufbau verschiedener geheimpolizeilicher Apparate begonnen, die teilweise 1950 im MfS zusammengefasst wurden. Die Bedeutung des S. für die industrielle Arbeitswelt der DDR wird allein schon daraus ersichtlich, dass in seiner Gründungsproklamation von Februar 1950 die Überwachung der „Betriebe und Werke” als das wichtigste Aufgabenfeld genannt wurde. Anfang der 60er Jahre wurde die „polit.-operative Sicherung der Volkswirtschaft” erneut zum wichtigsten Schwerpunkt der Spionagetätigkeit erklärt und als solcher bis 1989 beibehalten. Das hatte auch histor. Gründe, denn während des Volksaufstandes um den 17. Juni 1953 hatte sich gezeigt, dass die Geheimpolizei das oppositionelle Potential in den Industriebetrieben vollständig unterschätzt hatte (vgl. Widerstand und Opposition).
Ideolog. orientierte sich die Selbststilisierung des S. als ein korporativ gefestigter Männerbund besonders linientreuer Stalinisten am Vorbild der sowj. Geheimpolizei (vgl. sowj. Referenzmodell). So sollte der S. mit den Mitteln der Spionage und der Repression den Machterhalt der “marxist.-leninist.” Staatspartei SED garantieren. Eine durch die permanente und unausgesprochene Gewaltandrohung und durch die selektive Gewaltanwendung gegen Inkriminierte befriedete Gesellschaft sollte dem gesellschaftspolit. Wandel, der von der SED in den 50er Jahren initiiert wurde, nichts entgegensetzen können. Widerstandspotentiale gleich welcher Art sollten durch frühzeitige Warnsysteme erkannt und zielgenau ausgeschaltet werden können.
Dieser weit gehende Machtanspruch aus dem langen Gründungsjahrzehnt der DDR bis zum Mauerbau 1961 erweiterte sehr schnell die Aufgabenfelder des S. und verstärkte kontinuierlich seine personelle Basis mit zuletzt 85 000 hauptamtlichen Geheimpolizisten in militär. Rängen und den ihnen zugeordneten 108 000 IM. Allerdings verblassten nach dem Mauerbau die klassenkämpfer. Feindbilder. An ihre Stelle trat sukzessive eine eher geschäftsmäßige staatliche Auftragsverwaltung, die im Grenzbereich zu einer repressiven Ordnungspolizei angesiedelt war und nur ein begrenztes Abschreckungs- und Disziplinierungspotential bediente, aber ein unbegrenztes Informationspotential entfaltete. Dennoch konnte sie einerseits nachhaltig in Berufsbiographien von Beschäftigten in der Industriewirtschaft eingreifen (vgl. Berufsverbot) und sich andererseits als Unfall- und sogar als Umweltpolizei innerhalb der Staatsverwaltung legitimieren.
Der S. verfügte über eine hierarch. aufgebaute und nach dem Befehlssystem organisierte, gewollt militärähnliche Polizeiorganisation. Sie war geprägt durch ein System gegenseitiger Kontrollen und weit verzweigter Absicherungen des Informationsflusses nach innen und außen. Die verdeckt gewonnenen Informationen wurden der Spitze der SED-Hierarchie zugeleitet, um ihre Entscheidungsfindung zu stützen und zu beschleunigen. In dem Bemühen nach umfassender Informationsbeschaffung über „Feinde” des Staatssozialismus für die SED-Hierarchie und einer vollständigen Durchdringung der DDR-Gesellschaft mit einer massenhaften Spitzelarmee, insbesondere in der Industriewirtschaft, die eine lückenlose Kontrolle von Personen, Arbeitern, Angestellten, Akademikern und Produktionsabläufen gewährleisten sollte, wurde eine totalitäre Alltäglichkeit geschaffen. So waren der S. und die Angst vor Bespitzelung und Denunziation einerseits omnipräsent und prägten den betrieblichen Alltag (vgl. Betrieb als Sozialisationsinstanz). Der S. war andererseits aber auch höchst ineffizient, gemessen am materiellen Aufwand, den seine krakenartige Organisation erforderte.
Zudem konnte der S. weder in die großen polit. Auseinandersetzungen eingreifen, welche die DDR am 17. Juni 1953 und schließlich seit September 1989 in der friedlichen Revolution erschütterten, noch lieferten seine Fehleranalysen dem Politbüro der SED handhabbares Material für effiziente Gegenstrategien im Sinne ihrer stalinist. Herrschaftsausrichtung. Denn die Planwirtschaft erwies sich, je länger je mehr, als beratungsresistent. In den späten 80er Jahren warnte etwa die für die „Sicherung der Volkswirtschaft” zuständige Hauptabteilung XVIII des S. die SED-Führungsspitze wiederholt in eindringlichen Berichten vor dem Staatsbankrott und kritisierte das unter Erich Honecker (*25.8.1912-†29.5.1994) propagierte System der angeblichen „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik”, das letztlich zur maßlosen Verschuldung der DDR geführt hatte, ohne jedoch Resonanz zu erzielen. Noch in den 50er Jahren ein radikaler Exponent des Verfolgungs- und Maßnahmenstaates, hatte sich die Geheimpolizei am Ende der DDR weitgehend zu einer einflusslosen Ordnungspolizei, zu einem Akteur des Ordnungsstaates gewandelt.

Institutionell orientierte sich die Binnenorganisation des MfS mit Sitz in Berlin an den Aufgabenbereichen der Staatsverwaltung. In der Hauptabteilung XVIII waren die Spitzeldienste über die DDR-Volkswirtschaft zusammen gefasst. Diese Hauptabteilung war wiederum in (zuletzt) 13 Abteilungen aufgegliedert, welche unterschiedliche Industriezweige abdeckten, so wie sie im System der DDR-Planwirtschaft staatlich organisiert wurden. Auf der dezentralen Ebene der Bezirke bestand eine ident. Organisation. Neben den Kreisdienstellen gab es in den besonders wichtigen Betrieben und KombinatenObjektdienststellen”. So verfügten alle größeren Chemiewerke in der Region Halle-Merseburg über solche „Objektdienststellen”.

Von dieser weit gestreuten Kaderorganisation wurde das Aufgabenfeld des FDGB unmittelbar berührt. Aber die FDGB-Binnenorganisation (vgl. Organisationsprinzipien und Gliederung) in den Industriebetrieben war mit dem S. nur indirekt verzahnt, nämlich über die Anwerbung von IM unter FDGB-Mitgliedern und -Funktionären. Daneben konnte der S. weitere Informationsquellen nutzen: Alle „staatlichen Leiter”, leitende SED- und FDGB-Funktionäre, (BPL bzw. BGL) mussten Informationen an das MfS weitergeben. Darüber hinaus wurden alle Sicherheitsbeauftragten als IM verpflichtet.
Schwerpunkte der Spionagetätigkeit in der Industriewirtschaft waren Industriebetriebe, deren Produktionsergebnisse für den Binnenmarkt und für den Export von ausschlaggebender Bedeutung waren. Hierzu zählte insbesondere die Chemieindustrie im Bezirk Halle mit ihren Standorten in Leuna, Schkopau und Bitterfeld. Die Bedeutung ihrer „Objektdienststellen” kann aus der Zahl der von ihnen angeleiteten IM abgeleitet werden: In den Buna-Werken Schkopau wurden Ende der 80er Jahre 260 IM gezählt und in den Leuna-Werken 247, das waren etwa 1% der Belegschaften, im Stammbetrieb des Chemie-Kombinats Bitterfeld waren es 158 und im Kombinat Carl-Zeiss Jena, dem Schwerpunktwerk der Mikroelektronik in der DDR, lag die Vergleichzahl mit 394 noch weitaus höher!


II.   Informationen und „Inoffizielle Mitarbeiter

Die Anwerbung und Betreuung von IM durch hauptamtliche Offiziere, sog. Führungsoffiziere, garantierte den kontinuierlichen Informationsfluss über die Arbeitsorganisation und das Produktionsgeschehen in den Industriebetrieben. Diesen schöpften die Offiziere des S. in kontinuierlich von den IM angefertigten Monatsberichten ab. Sie erstellten daraus fallweise Zusammenfassungen und genauere Analysen, wenn die dargestellten Vorgänge wichtig genug dafür erschienen.
Das jedoch war die große Ausnahme. In der Regel liefen eine Vielzahl völlig unerheblicher und ungenau formulierter Beobachtungen und Denunziationen bei den „Objektdienststellen” in den großen Industriebetrieben ein, mit denen die Offiziere des S. im Grunde wenig oder nichts anzufangen wussten: Stellenweise wurden nur 20% aller von den IM gesammelten Informationen als brauchbar eingeschätzt. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass wenigsten diese einmal verwendet wurden. So kundschaftete der S. in der zweiten Hälfte der 80er Jahre in der DDR insgesamt 5 000 Ereignisse („Operative Vorgänge”, OV) und Personen („Operative Personenkontrolle”, OPK) aus. Aber in den Monaten zwischen Januar und September 1989 wurden insgesamt nur sieben von diesen OV/OPK abgeschlossen. Alle diese überzähligen Informationen wurden dennoch akrib. gesammelt und archiviert, so dass sie heute ein beinahe unerschöpfliches Reservoir an überlieferten Alltagsbeobachtungen über die DDR-Gesellschaft bieten.
Die IM wurden nach einem Zielschema ausgewählt, welches die polit. Loyalität ins Zentrum stellte, um eine möglichst lang andauernde „Zusammenarbeit” mit dem S. zu gewährleisten. Die Zusammenarbeit wurde i.d.R. nicht honoriert. Oft war ein Brigadier oder der Leiter eines Betriebes oder einer Abteilung IM, weil diese den besten Überblick über ihren Arbeitsbereich hatten und zudem die einzelnen Mitarbeiter auch realitätsnah einschätzen und dies auch schriftlich darstellen konnten. Desgleichen wurden BGL- und AGL-Vors. um „Mitarbeit” angegangen. Trat der S. an einen bis dahin unbescholtenen Beschäftigten in Leitungsfunktionen oder Arbeiter (die weit überwiegende Mehrzahl der IM war Männer) eines großen Industriebetriebes heran mit der Aufforderung, die Kollegen am eigenen Arbeitsplatz auf längere Sicht verdeckt auszukundschaften und diese Informationen schriftlich an den S. weiter zu geben, geriet der Betreffende in einer Mehrzahl der Fälle in einen Gewissenskonflikt, da der Vertrauensbruch durch die Weitergabe von vertraulichen Informationen und vor allem die Denunziation moralisch generell geächtet sind. In den allermeisten Fällen entschieden sich die vom S. ausgewählten Zuträger dann für eine Spitzeltätigkeit, wenn sie sich dadurch berufliche Vorteile versprachen oder sich suggerierten, keine Alternative zu haben und nicht Nein sagen zu können, was aber in vielen Fällen durchaus möglich war. Manchmal wurde auf die „Zusammenarbeit” mit dem S. aber auch eingegangen, um für den eigenen Arbeitsbereich Vorteile zu erlangen in der Vermutung, diese würden sich aus der Informations-Weitergabe an den S. ergeben, auch wenn sehr unklar war, wie genau das geschehen sollte. Anzunehmen ist, dass die so motivierten IM hofften, die Offiziere des S. würden sich umgehend mit Partei-Dienststellen kurz schließen, um die Missstände aus dem Weg zu räumen, die in den IM-Berichten protokolliert wurden. Oft finden sich in ihnen Verweise auf unhaltbare Zustände in den Betrieben, welche von der Partei wider besseren Wissens nicht ausgeräumt würden. Der S. geriet dann indirekt in die Position eines Aufpassers über die SED-BPO, die er aber faktisch nicht ausfüllen konnte, da er von seinem Selbstverständnis her nur Beobachter sein sollte und in dieser Funktion von der SED domestiziert werden konnte.
Solche Loyalitäts- und Sanktionserwartungen, die von einzelnen IM indirekt an die Adresse der Staatsautorität in Gestalt des S. gerichtet wurden, waren in einem grundlegenden Vertrauen in die Regelungskompetenz hierarch. abgeschlossener Entscheidungsebenen begründet, das wiederum auf älteren autoritären Denk- und Verhaltensmustern basierte. Solche verbogenen Rationalitätsannahmen prägten den Erfahrungshaushalt der Beschäftigten in großen Industriebetrieben nachhaltig, weil sie mit der täglich erfahrenen, industriellen Systemrationalität dieser Regelungssysteme harmonisiert werden konnten. Sie wurden per Analogieschluss auf die staatlichen Parallelhierarchien übertragen, welche damit über einen - allerdings uneinlösbaren - Vertrauensbonus verfügten.
Dieser alltägliche Erwartungshorizont war vor dem Hintergrund der Erfahrungen vieler Zeitgenossen mit den verschlungenen Befehlswegen während des Nationalsozialismus nicht ungewöhnlich. Er konservierte totalitäre Denkmuster. Dennoch überrascht auf allen Ebenen der Betriebshierarchie in der DDR-Planwirtschaft das Potential für abweichende oder „oppositionelle” Entscheidungen. So ließen sich in Ausnahmefällen auch leitende Angestellte aus der bildungsbürgerlichen Führungsschicht der alten Intelligenz, wie etwa der Produktionsdirektor der Buna-Werke in Schkopau, Dr. Friedrich Moll, als IM anwerben mit der Motivation, die Chemiker und Ingenieure der Buna-Werke gerade vor dem Zugriff des S. zu schützen. Moll gab gezielt geschönte Informationen an den S. weiter, weil seine Mitarbeiter unmittelbar vor dem Mauerbau verstärkt unter polit. Druck geraten waren.


III.   Abweichendes polit. Verhalten der Belegschaften

In den 70er und 80er Jahren war die Spitzelei zu einem Alltagsphänomen in den Industriebetrieben der DDR geworden, das einem festen Mechanismus der Informationserhebung in einem lückenlos kontrollierten Systemzusammenhang folgte. Sobald beim S. von der betrieblichen oder gewerkschaftlichen Leitungsebene, den Sicherheitsbeauftragten oder den IM besonders auffällige „oppositionelle” Verhaltensweisen aus der Belegschaft oder gravierende Störfälle an den Produktionsanlagen gemeldet wurden, schritten hauptamtliche Geheimpolizisten ein und initiierten eine Vorabuntersuchung, aus der dann ggf. ein OV oder eine OPK resultierten, die oft mehrere Jahre andauerten. Sie waren ungleich auf die Hierarchie verteilt: In der Bezirksverwaltung Frankfurt/Oder kamen im Jahr 1983 drei Viertel aller in OPK Bespitzelten aus der betrieblichen oder der gewerkschaftlichen Leitungsebene, einfach weil deren Tätigkeit von größerer Bedeutung für die Geheimpolizei war, während nur ein Viertel einfache Produktionsarbeiter/innen waren.
Dennoch zeigen Nahanalysen, dass auch die Arbeiter dem Generalverdacht polit. Illoyalität ausgesetzt wurden, sobald sie sich gegen Betriebsabläufe wehrten. Anfang 1981 hatten beispielsweise sechs Hochofen-Arbeiter des Eisenhüttenwerkes in Eisenhüttenstadt ihre FDGB-Mitgliedsbücher aus Protest über eine durch den Produktionsverschleiß hervorgerufene Lohnkürzung zurückgegeben. Daraufhin wurde der „Initiator” dieses Protestes, der gleichzeitig Vertrauensmann des FDGB war, drei Jahre intensiv bespitzelt, obwohl fünf der sechs Protestierenden ihre Mitgliedsbücher bereits drei Tage nach dem Vorfall wieder entgegen genommen hatten und damit initiativ den Protest beendeten.
Im Verlauf dieser langjährigen Überwachungsaktion, in die drei IM eingeschaltet wurden, konnte zwar eine Vielzahl von Details aus dem Privatleben des Beschattungsopfers ermittelt werden, nicht aber ein gewollt oppositionelles Verhalten, so dass der ganze Vorgang nach über drei Jahren ergebnislos abgeschlossen wurde, ohne gravierende Nachteile für den Betroffenen nach sich zu ziehen. Nur in ganz seltenen Fällen führten Auffälligkeiten oder sogar Denunziationen am Arbeitsplatz zu diesem späten Zeitpunkt noch zu einer fühlbaren Disziplinierung oder gar zu Schlimmerem. Davor schützte nämlich auch der Mangel an Arbeitskräften, der bis zu einem gewissen Grade Freiräume in der Alltagspraxis der Beschäftigten in den großen Industriebetrieben beließ.
Kam es allerdings zu Gefährdungen am Arbeitsplatz oder zu Versorgungsmängeln, wurden diese Informationen mit Priorität vom S. an die SED-Leitungsebene weiter gegeben. Darin kann - bezogen auf die Ebene der Industriebetriebe - der Wandel seines Profils von einer auf die Spionageabwehr und die Repression gegen Dissidenten unter dem Primat des Machterhalts ausgerichteten investigativen Strafpolizei in Richtung auf die Konflikt- und Gefährdungsprävention am Arbeitsplatz, also auf ordnungspolizeiliche Aufgabenfelder, abgelesen werden. Dennoch behielt der S. immer seinen totalitären Anspruch auf Durchdringung der Betriebshierarchie zum Zwecke der vollständigen Informationsbeschaffung bei und schuf damit ein Klima der Angst und der Unsicherheit, das in allen Industriebetrieben der DDR bis Ende 1989 anhielt.


IV.   Das Macht-Kartell von SED und Staatssicherheitsdienst und der FDGB

Die Objektdienststellen des S. in den großen Industriebetrieben und Kombinaten verfügten über eigene Büros in den Verwaltungstrakten auf dem jeweiligen Werksgelände. Sie waren i.d.R. den Parteidienststellen benachbart, um einen schnellen Informationsfluss in die polit. Führungsebene gewährleisten zu können. Besonders intensiv war die Zusammenarbeit des S. in den Industriebetrieben mit den dezentralen Parteidienststellen, also mit den SED-Kreisleitungen in den Betrieben, zumal diese ihrerseits eine Anleitungsfunktion für die dezentralen Dienststellen des MfS ausübten. Von diesem Informationsfluss, dem inneren Machtkartell von S. und SED, war der FDGB ausgeschlossen, so dass seine Verbindungen zum S. insgesamt als peripher eingeschätzt werden können. Dieser Umstand mindert eindeutig die Belastung von Gewerkschaftsfunktionären mit den repressiven Auswüchsen der SED-Diktatur. Sie trugen diese lediglich dann, wenn sie selbst IM waren oder regelmäßig Informationen aus ihrer Leitungsposition an den S. weiter gaben und damit als Zuträger, nicht jedoch in einer Entscheidungsfunktion in Erscheinung traten (vgl. Berichtswesen).
Innerhalb der Betriebsöffentlichkeit blieb der enge räumliche und auch machtpolit. Zusammenhang von S. und SED nicht verborgen. Auch wenn durchgängig versucht wurde, das zu verheimlichen, bestanden in den Belegschaften der Industriebetriebe immer relativ genaue Vorstellungen vom repressiven Potential dieser fatalen Doppelspitze im DDR-Totalitarismus, von der der FDGB deutlich ausgenommen war.
Insgesamt gesehen wurde die alltägliche Überwachungsarbeit der von S.-Offizieren angeleiteten IM in den großen Chemiebetrieben analog anderer Bespitzelungen in den Institutionen und Produktionsstätten der DDR organisiert. Wenn die S.-Offiziere eine Symbiose mit den dezentralen FDGB-Akteuren eingingen, also mit den Leitern der BGL und AGL oder den FDGB-Vertrauensleuten, dann lag die Schnittstelle dafür in der Personalunion von IM- und Gewerkschaftsfunktionen, um aus deren gehobenen hierarch. Positionen heraus Informationen über das Betriebsgeschehen vor Ort zu sammeln.
Mit dieser Auswahl von IM konnte das Betriebsgeschehen allerdings nur einseitig von der Spitze der Hierarchie aus wahrgenommen werden. Das aber war eine kaum mehr reflektierte perspektiv. Verengung, denn damit wurden die Erfahrungen und der Erlebnishorizont der Arbeiterschaft an der Basis der Betriebspyramide aus dem kollektiven Gedächtnis des Staatsapparates geradezu ausgeschlossen. Diese Schieflage bestimmte ungewollt auch die letztlich relevante Auswahl sensibler Themenfelder: Es wurden viel eher die Probleme der Planerfüllung, Fehler in der Instandhaltungs- und der Investitionstätigkeit und die nachlassende Disziplinierung der Arbeiterschaft thematisiert als die Sorgen und Nöte der Arbeiter selbst, ihre Erwartungen an die Arbeitswelt und ihr spezif. Sinndeutungshorizont.
Diese Schieflage geht beispielsweise auch aus den IM-Berichten in der besonders gefährdeten Karbidfabrik der Buna-Werke in Schkopau hervor, weil darüber ein Angestellter und nicht die Arbeiter selbst berichteten. Über den FDGB-Vertrauensmann und die AGL-Leiter wurde in diesem Arbeitsbereich allenfalls am Rande gesprochen, weil sie entweder im Betriebsgeschehen nicht hervor traten oder für die Analyse von Betriebsstörungen oder von Disziplinwidrigkeiten einfach nicht relevant waren.
Festzustellen ist, dass aus der lockeren Zuordnung des FDGB zum S. keine spezif. Interdependenz von Gewerkschaftsorganisation und Geheimpolizei im Industriebetrieb herrührte, so wie sie für die SED nachweisbar ist. Vielmehr ergab sich durch eine IM-Tätigkeit nur eine getrennt geführte Doppelbelastung des jeweiligen Gewerkschaftsfunktionärs, nicht eine Interdependenz von Machtpositionen und damit deren Kumulation zu Lasten der Belegschaften.


V.   Betrieblicher Alltag und IM

Ein als IM angeworbener Gewerkschaftsfunktionär erledigte einerseits seine Gewerkschaftsarbeit und leistete andererseits die Spitzeltätigkeit im Halbdunkel des Verborgenen ab, immer in dem Bemühen, nicht entdeckt zu werden, und ohne erkennbare Chance, diese machtpolit. verwerten zu können. Diese Spitzeldienste waren in ihrer Reichweite zudem auf den eigenen Arbeitszusammenhang des jeweiligen IM begrenzt; sie erschöpften sich i.d.R. in der Anfertigung der kontinuierlichen Monatsberichte. Sie konnten jedoch nicht als Entscheidungsgrundlage für die eigene gewerkschaftspolit. Arbeit verwendet werden, weil die disparaten Einzelinformationen der Observierung dafür völlig unbrauchbar waren, so dass sich ihr Eigenwert für den jeweiligen IM stark relativierte. Nur in Ausnahmefällen konnte die Routine eines belanglosen Arbeitsalltags durchbrochen werden, etwa wenn eine Havarie (ein Unfall) in der Chemieindustrie vorgefallen war und Schuldige dafür gesucht wurden. Hier lag denn auch das letzte erkennbare Reservoir an bedeutungsvollen Aktivitäten des S. im Industriebetrieb.
Streiks und offenkundige Proteste waren seit Anfang der 60er Jahre verschwindende Ausnahmefälle geworden. Deshalb fiel es gar nicht auf, wenn sich Routinen wiederholten, vielmehr war es sogar erwünscht nur über solche zu berichten. Damit aber legte sich die Rationalität der Spitzeldienste selber lahm. Denn die wirklich interessanten Vorgänge distanzierter Verhaltensweisen und abweichender Praktiken in Verhandlungen (Bargaining) der Arbeiter mit der betrieblichen Leitungsebene auf der Ebene der Schicht (shop-floor-Ebene), wie sie für die Karbid-Fabrik der Buna-Werke in den 80er Jahren nachgewiesen werden konnten, wurden nur in Ausnahmefällen von dazu besonders befähigten IM fest gehalten, jedoch nicht ausgewertet. Nur in Ausnahmefällen leitete der S. schwerpunktmäßige Untersuchungen über Havarien oder Produktionsausfälle ein und beauftragte hierfür einen „Offizier im besonderen Einsatz” (OibE) oder die „Auswertungs- und Kontrollgruppe” (AKG) der jeweiligen Bezirksverwaltung. Aber deren Ergebnisse wurden nicht automat. umgesetzt und in den 80er Jahren mangels Ressourcen zunehmend ignoriert.
Die völlig erfolglose Informationsverwertung regionaler Dienststellen des S. in den Bezirkshauptstädten kann am Beispiel des Bitterfelder Chemie-Kombinates aufgezeigt werden. In Bitterfeld ereignete sich 1968 der größte Industrieunfall in der Geschichte der DDR: Bei einer Explosion wurden 40 Beschäftigte getötet und 260 weitere verletzt und die maroden PVC-Produktionsanlagen gänzlich zerstört. Die Ursache war der Anlagenverschleiß gewesen. Weil die DDR-Planwirtschaft keine Mittel zur Reparatur der Infrastruktur in den Industriebetrieben bereit stellte, waren wichtige Produktionsanlagen nicht nur veraltet, sondern sie funktionierten aufgrund von gravierenden Mängeln nicht mehr störungsfrei und stellten in den allermeisten Fällen eine Bedrohung der Sicherheit am Arbeitsplatz dar. Nach Recherchen der Hauptabteilung XVIII war der industrielle Anlagenbestand der DDR im Jahr 1989 so marode, dass das Zweifache des jährlichen Nationaleinkommens an Investitionsmitteln benötigt würde, um diesen zu sanieren. Dennoch reagierte die Planwirtschaft auf die daraus herrührenden Gefährdungen nicht oder nur ganz unzureichend. Erst acht Jahre nach dem großen Chemie-Unfall, im Jahr 1976 (!), beschloss das SED-Politbüro, die Chemieanlagen in Bitterfeld durch umfassende Reparaturen zu modernisieren, aber es stellte dafür viel zu geringe Investitionsmittel bereit. Und erst als Mitte der 80er Jahre immer noch keine Veränderungen der gefährlichen Arbeitsbedingungen abzusehen waren, stellten Offiziere des S. in einer eigenen Fehleranalyse die Mängel des Produktionsregimes im Bitterfelder Chemie-Werk dar, allerdings ohne damit die erhoffte Resonanz bei der SED zu erzielen.
Infolgedessen ist der Einfluss des S. auf die Entscheidungsprozesse innerhalb der DDR-Planwirtschaft insgesamt als nachrangig, wenn nicht sogar als äußerst gering einzuschätzen, wobei keine Rückkoppelung zur Gewerkschaftsebene registriert werden kann. Wenn es gelungen war, prominente IM in einer Doppelfunktion des „Führungskaders” der Gewerkschaft als Spitzel zu gewinnen, hatte der S. bereits seine Maximalziele in der Gewerkschaftsorganisation erreicht. Insgesamt gesehen verhielt sich der S. in den Industriebetrieben zunehmend defensiv und ignorierte die Binnenorganisation des FDGB, weil sie ein polit. unwichtiges Machtpotential repräsentierte. Dennoch hat die personelle Verflechtung durch die IM den FDGB mehr oder weniger stark geprägt. So waren alle Gewerkschaftsfunktionäre in den betrieblichen Führungsfunktionen (BGL und AGL) seit 1969 zur Informationsweitergabe an den S. verpflichtet.


VI.   FDGB-Funktionäre und Staatssicherheitsdienst

Eine wichtige, bislang aber ungeklärte Frage ist, in welchem Umfang diese institutionelle Zuträgerfunktion (im MfS „polit.-operatives Zusammenwirken“ (POZW) genannt) auch mit einer gleichzeitigen IM-Tätigkeit gekoppelt war. Einerseits war es nicht unbedingt erforderlich die BGL- und AGL-Vorsitzenden sowie die Vertrauensleute zusätzlich abzuschöpfen (vgl. Berichtswesen), andererseits war der Zugriff des S. auf diese Funktionärsebene besonders groß. Sie konnte unmittelbar angeworben werden, indem die dominierende Loyalität der FDGB-Amtsträger als Staats- und nicht als Arbeiterrepräsentanten ins Spiel gebracht wurde. Wer sich hier anfällig zeigte, wurde schnell von der Geheimpolizei instrumentalisiert.
IM-Spitzelberichte gingen, insbesondere als OPK, aus Sicht des S. wesentlich über den Informationswert von period. Betriebsmitteilungen hinaus. Insofern kann angenommen werden, dass ein großer Teil derjenigen Gewerkschaftsfunktionäre, die in strateg. wichtigen Produktionsbereichen tätig waren, auch IM waren. Für eine solche Art gezielter IM-Rekrutierung spricht auch der Umstand, dass der S. laufend die Personalakten des FDGB einsehen und auswerten, also die in Frage kommenden IM genau einschätzen konnte. Allerdings blieben die daraus herrührenden Informationen in ihrer Bedeutung für die Betriebspolitik begrenzt, denn über die Besetzung von Funktionärsposten entschied nicht die Geheimpolizei, sondern allein die lokale SED-Parteiorganisation (vgl. Kaderpolitik).


VII.   Politische Auswirkungen

Direkte Eingriffe des S. in die Tagespolitik des FDGB waren große Ausnahmen. So wurde der FDGB-BuV im Jahr 1960 erst- und einmalig gezwungen, eine bereits in der Staatsverwaltung durchgesetzte Anordnung über Zeitnormative, also über die Koppelung der Arbeitsleistung von Lohnabhängigen an Zeitbegrenzungen, auf Druck des S. wieder zurück zu nehmen. Einflussnahmen von Geheimpolizei-Offizieren auf den FDGB im Nachgang großer polit. Erschütterungen der DDR lassen sich ebenfalls nur in Einzelfällen nachweisen. Hierbei darf allerdings nicht übersehen werden, dass, anders als am 17. Juni 1953, die Betriebe nicht der Ort der revolutionären Energie in der friedlichen Revolution im Herbst 1989 waren. Wenn S.-Berichte seit 1987 eine anwachsende Unruhe in den Industriebetrieben vermerkten, dann wurde fast ausschließlich über die sich verschlechternde Versorgungslage und über Havarien berichtet.
Ein relativer Erfolg der Spionagetätigkeit und der Verkoppelung von Informationen des FDGB und des S. über das Betriebsgeschehen lag allerdings darin, dass selbst fortgesetzte schwere Betriebsunfälle in der Chemieindustrie nicht dazu führten, dass sich die Arbeiterschaft in den großen Chemiewerken oppositionell hervor getan hätte. Die polit. Lethargie der Industriearbeiter in der DDR hielt vielmehr bis November 1989 an. Und erst dann besannen sich einzelne Vertrauensleute des FDGB auf ihre eigentliche Funktion, Sammelpunkt für Belegschaftsinteressen zu sein und diese publik zu machen (vgl. unabhängige Belegschaftsinitiativen). Aber selbst noch zu diesem späten Zeitpunkt in der Geschichte der DDR wurden die Grundfesten des Produktionsregimes, zu denen auch die Bespitzelung durch den S. am Arbeitsplatz gehörte, nicht massiv in Frage gestellt.
Gewissermaßen lief das umstürzler. Potential in der DDR am Überwachungsapparat des S. in den Industriebetrieben vorbei. Das Amt für Nationale Sicherheit (AfNS), der kurzlebige Nachfolgers des S. in der SED-Regierung Hans Modrow (*27.1.1928), wurde im Januar 1990 durch die DDR-Bürgerrechts-Opposition aufgelöst. Durch ihr beherztes Eingreifen konnte überdies fast die gesamte schriftliche Überlieferung des S. vor der geplanten Vernichtung gerettet werden. Per besonderem Bundesgesetz wurde sie der öffentlichen Archivnutzung zugänglich gemacht. Im Gegensatz zu allen anderen Geheimdiensten und -polizeien der Welt können deshalb sämtliche Facetten der inneren Spionagetätigkeit des S. durch wissenschaftliche Forschung aufgearbeitet werden.

Georg Wagner-Kyora


Lit.: M. Haendcke-Hoppe-Arndt, Die Hauptabteilung XVIII Volkswirtschaft (MfS-Handbuch), 1997. - A. Lüdtke, "... den Menschen vergessen"? (ders./P.Becker, Akten. Eingaben. Schaufenster, 1997) - N. Franke, Verstrickung. Der FDGB Leipzig im Spannungsfeld von SED und Staatssicherheit 1946-89, 1999. - D. Haupt, Einfluss des Ministeriums für Staatssicherheit auf die Wirtschaft der DDR, Diss. 2000. - R. Hürtgen, Der Vertrauensmann des FDGB in den 70er und 80er Jahren. Funktionsloser Funktionär der Gewerkschaften? (R.Hürtgen/Th.Reichel (Hg.), Der Schein der Stabilität, 2001). - H.-H. Hertle/F.-O. Gilles, Zur Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit in der DDR-Wirtschaft (Der Schein der Stabilität, 2001). - G. Wagner-Kyora, Karbidarbeiter in der Bargaining-Community. Klassenlage und Identitätskonstruktion (Der Schein der Stabilität, 2001). - B. Gehrke/R. Hürtgen (Hg.), Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989: Die unbekannte Seite der DDR-Revolution, 2001. - W. Süß, Terror und Repression im Kommunismus. Ministerium für Staatssicherheit - Wandel der Repressions- und Manipulationstechniken in der Honecker-Ära (Kommunismus. Utopie und Wirklichkeit, Hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung), 2002. - R. Hürtgen, “...wir wußten schon, daß die im Betrieb waren, nur nicht, wer nun wirklich dabei war...” Operative Personenkontrollen des MfS im DDR-Betrieb (Deutschland-Archiv 2003). - Dies., “Den Plan mit Sicherheit erfüllen.” Operative Personenkontrollen des MfS im DDR-Betrieb der 70er und 80er Jahre (Horch und Guck 3, 2003).