FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Sozialpolitik. In der DDR wurde S. bis in die 60er Jahre hinein nicht als eigenständiger Politikbereich betrachtet und genauer definiert, sondern als ein immanenter Bestandteil der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik angesehen. Da es das proklamierte Ziel der SED-Führung war, mit der zentralen Planwirtschaft für ein stetiges Wirtschaftswachstum und ein ebenso stetiges Anwachsen des Lebensstandards der Bevölkerung zu sorgen, schien eine eigenständige S. überflüssig zu sein. Traditionelle S. im Sinne von Wohlfahrt, Fürsorge und Grundsicherung gegen die Risiken des Lebens lehnte man aus ideolog. Gründen offiziell ab, denn sie galt als ein Instrument des Kapitalismus, um die antagonist. Klassenwidersprüche künstlich zu übertünchen und das revolutionäre Potenzial der Arbeiterbewegung zu lähmen. Gleichwohl wurde sie de facto weiterhin praktiziert, wie etwa der konsequente Umbau des sozialen Sicherungssystems zu einer einheitlichen staatlichen Sozialversicherung und ihre Übergabe in die Verantwortung des FDGB zeigt. Erst Mitte der 60er Jahre, im Zusammenhang mit den deutlich erhöhten Leistungsanforderungen des Neuen Ökonom. Systems der Planung und Leitung (NÖSPL) an die Beschäftigten, wurden die ideolog. Scheuklappen gehoben und das Fortbestehen sozialer Probleme eingestanden: Als Folgen des langfristigen sozialen Wandels und auch als unbeabsichtigte Nebenwirkungen der zentralen Wirtschaftsplanung wurden soziale Konflikte und Problemlagen nun - unter der Prämisse, dass es sich bei ihnen ausschließlich um nicht-antagonist. Konflikte handelte - nicht mehr vollständig negiert; ihnen sollte jedoch mit einer eigenständigen sozialist. S. begegnet werden. Besonders der FDGB-BuV und die von ihm betriebene Gewerkschaftshochschule „Fritz Heckert“ bemühten sich um eine entsprechende Neukonzeption. Nach Maßgabe des gesamtgesellschaftlichen Interesses sollte sie bei ausgewählten sozialen Gruppen, für die differenzierte Maßnahmen der Förderung und Sicherung als notwendig erachtet wurden, einen Ausgleich zwischen subjektiven Bedürfnissen und objektiven Arbeits- und Lebensbedingungen herbeiführen. Ihre Hauptaufgaben wurden darin gesehen, erstens die Reproduktion des individuellen und des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens durch Gewährleistung eines sozialen Mindeststandards bei Arbeit, Gesundheit, Wohnung, Erziehung und Bildung, Bereitstellung von preisgünstigen Gütern des Grundbedarfs sowie bevölkerungspolit. Maßnahmen (Geburtenbeihilfen, Förderung berufstätiger Mütter etc.) dauerhaft zu sichern, zweitens verhaltensbedingte soziale Unterschiede durch Jugendhilfe, Gefährdetenfürsorge und Resozialisierungsmaßnahmen bis hin zur Arbeitserziehung und zum Strafvollzug zu mildern, drittens wirtsch. Ungleichheit, die nicht durch Anwendung des Leistungsprinzips zu rechtfertigen war, möglichst zu beheben und viertens bei unterschiedlichen Arbeits- und Lebensbedingungen dennoch die Chancen auf eine gleichwertige Reproduktion zu gewährleisten, etwa durch Sonderleistungen für Schichtarbeiter oder kinderreiche Familien. Sie reklamierte also - kurz gefasst - keinen Selbstzweck, sondern sollte helfen, die Arbeitsproduktivität zu steigern und das Wirtschaftswachstum zu fördern. Sie blieb auch weiterhin sehr stark auf eine lediglich ergänzende Funktion konzentriert, die darin bestand, unerwünschte Effekte der übergeordneten Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik abzufedern. Von der S. in der Bundesrepublik unterschied sie sich vor allem durch die starke Dominanz des Staates und des von ihm beauftragten FDGB, die große Bedeutung der Betriebe als Verwaltungs- und Verteilungszentren, den Vorrang des Versorgungs- vor dem Versicherungsprinzip sowie die starke Hervorhebung der Prophylaxe und - nicht zuletzt - das Fehlen einer unabhängigen Sozialgerichtsbarkeit.
Eine starke polit. Aufwertung erfuhr die S. mit der von Erich Honecker (*25.8.1912-†29.5.1994) proklamierten Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Wachstum erzielen wollte, indem sie auf Intensivierung und sozialist. Rationalisierung setzte, zugleich aber auch die Konsummöglichkeiten erweiterte und die sozialpolit. Leistungen massiv ausweitete. Besondere Schwerpunkte wurden nun auf eine umfassende Basissicherung durch die großzügige Subventionierung von Gütern und Dienstleistungen des Grundbedarfs, pränatalist. Maßnahmen zum Stoppen des Bevölkerungsrückganges und zur Förderung der Erwerbstätigkeit von Frauen sowie auf den Wohnungsbau gelegt. Die sozialpolit. motivierten Staatsausgaben stiegen zwischen 1971 und 1988 von 26,3 Mrd. Mark auf 110,7 Mrd. Mark. Diese S. überforderte die Leistungsfähigkeit des Wirtschaftssystems und erzielte zudem nicht die von der SED-Führung erhofften Loyalitäts- und Legitimierungseffekte.
F.S.