FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Arbeitsdisziplin. Der Marxismus-Leninismus ging davon aus, dass die beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus veränderten Produktionsverhältnisse bei den werktätigen Miteigentümern der nunmehr volkseigenen Produktionsmittel zur Ausprägung einer neuen, bewussten und freiwilligen A. führen werde. Es gehörte zu den Aufgaben des FDGB und seiner betrieblichen Gliederungen, dort, wo sich diese neue sozialist. A. nicht von selbst einstellte, die Werktätigen im Rahmen seines auf Ideologievermittlung und Erziehung, Ideologie- und Verhaltenskontrolle sowie Arbeitsmobilisierung zielenden Wirkens auch zu einem disziplinierten Verhalten am Arbeitsplatz zu motivieren. Das gelang ihm jedoch nur begrenzt.
Als zentrale Werte der sozialist. A. definierte das Gesetzbuch der Arbeit (GBA) von 1961 die „kameradschaftliche Zusammenarbeit“, die „gegenseitige Hilfe und Achtung“ sowie die „gewissenhafte Erfüllung aller Arbeitsaufgaben zur Verwirklichung der Betriebspläne“. Den Betriebs-, Abteilungs- und Arbeitsgruppenleitern, die gegenüber den Beschäftigten im Rahmen der allgemeinen betrieblichen Arbeitsordnungen und der individuellen Arbeitsverträge weisungsberechtigt waren, wurde die Aufgabe zugewiesen, gute Voraussetzungen für die Herausbildung der sozialist. A. zu schaffen: Sie sollten für eine effektive Arbeitsorganisation, leistungsfördernde Arbeitsbedingungen sowie Ordnung und Sicherheit am Arbeitsplatz sorgen. Von den Werktätigen wiederum verlangte das GBA eine aktive und umsichtige Ausübung ihrer verfassungsgemäßen Pflicht zur Arbeit: Ihre von den staatlichen Leitern erteilten Arbeitsaufgaben sollten sie ordnungs- und fristgemäß erledigen, dabei die Arbeitszeit und die zur Verfügung gestellten Produktionsmittel voll ausnutzen, zugleich Ressourcen möglichst sparsam verwenden, auf Qualität achten, Arbeitsnormen und andere Auflagen erfüllen, Bestimmungen zum Unfall-, Brand-, Gesundheitsschutz und Arbeitsschutz einhalten und - nicht zuletzt - das Volkseigentum vor Schäden und Verlusten schützen. Schuldhafte Verstöße gegen die A. konnten mit Disziplinarmaßnahmen gegen Werktätige (dazu zählten vor allem der Verweis, der strenge Verweis und die fristlose Entlassung) geahndet werden. Mit dem Arbeitsgesetzbuch der DDR (AGB) von 1977 änderte sich an diesen Bestimmungen zur Gewährleistung der A. nichts Wesentliches.
In der betrieblichen Praxis ließ vor allem die Einhaltung und Auslastung der Arbeitszeiten vielfach zu wünschen übrig, zum einen, weil die von ständig neuen Stockungen geprägten Produktions- und Arbeitsabläufe in den Betrieben dem entgegen standen, zum anderen weil auch die Betriebsleitungen die chronischen Versorgungsprobleme der Beschäftigten kannten und ihnen informell zugestanden, diese zumindest teilweise während der Arbeitszeiten zu lösen. Das Überziehen von Pausen sowie das verspätete Beginnen und vorzeitige Beenden der täglichen Arbeitszeit gehörten deshalb in den 80er Jahren fast zu den Gewohnheitsrechten der Beschäftigten.
Der FDGB war zwar offiz. aufgefordert, für die Entfaltung der sozialist. A. zu sorgen und notfalls auch Disziplinarmaßnahmen gegen Werktätige aktiv herbeizuführen, doch faktisch hatten die BGL den informellen Kompromissen zwischen Betriebsleitung und Beschäftigten meist nichts entgegen zu setzen, denn die weit verbreitete und akzeptierte Disziplinlosigkeit der Beschäftigten war letztlich eine direkte Folge der chronischen Steuerungsdefizite der zentralen Planwirtschaft, in Hinblick auf die Produktion wie in Hinblick auf die Konsumtion. Bei der Mehrzahl der Beschäftigten konnte von einem neuen Bewusstsein, werktätige Miteigentümer des zu schützenden und stetig zu mehrenden Volkseigentums zu sein, keine Rede sein. Diesen Befund unterstreicht nichts so deutlich wie die Tatsache, dass in den 80er Jahren volkseigene Produktionsmittel in immer größerem Umfang „privatisiert“ - d.h. im Klartext: gestohlen - wurden, um sie für private Zwecke, etwa den Ausbau der Gartenlaube, zu nutzen.
F.S.