FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Friedliche Revolution und Wiedervereinigung.

Inhalt:

I.     Der Sturz von Harry Tisch und das vierwöchige Intermezzo von Annelies Kimmel

II.    Ein selbsternanntes Komitee und erste Anzeichen von Erosion

III.   Der außerordentliche FDGB-Kongress: Reformversuche und Chaos

IV.   Der Vorstand des neuen Dachverbandes auf Orientierungssuche

V.    Ein Sprecherrat sorgt für die Annäherung an den DGB

VI.   Die Vermögenssicherung als Hauptproblem

VII.  Der Auflösungskongress als Farce

        Literatur


I.   Der Sturz von Harry Tisch und das vierwöchige Intermezzo von Annelies Kimmel

Die im Verlauf des Jahres 1989 immer deutlicher zu Tage tretende Unzufriedenheit der DDR-Bevölkerung mit dem herrschenden Regime, die sich vor allem in der während des Spätsommers anschwellenden Fluchtbewegung zeigte, schien den FDGB zunächst unberührt zu lassen. Die Menschen demonstrierten auf den Straßen als Bürger, aber nicht als Mitglieder der größten Massenorganisation der DDR. Dies mag den FDGB-Vorsitzenden Harry Tisch bei einem Besuch in der BRD Mitte September zu der Aussage verleitet haben, dass die Führungsschicht der DDR die „Brandung“, in der sie sich gegenwärtig befinde, unbeschadet überstehen werde.
Indes wurde er schon wenige Tage später eines Besseren belehrt, als ihn Meldungen über zunehmende Unmutsäußerungen auch in den Betrieben erreichten und ihn „Gewerkschaftsmitglieder“ des VEB Bergmann-Borsig in einem offenen Brief aufforderten, sich für die „notwendigen Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen“ einzusetzen. Dennoch dauerte es geraume Zeit, bis Tisch Position bezog, sich auf die Seite der Reformer in der SED schlug und eine selbständig Rolle für die Gewerkschaften forderte.
Nachdem das Politbüro der SED, dem auch Tisch angehörte, am 11.10.1989 den „sachlichen Dialog“ als neue Parteilinie vorgegeben hatte, erschien er wenige Tage später bei Bergmann-Borsig und auf der Elbe-Werft Boizenburg, wo er sich gegen den „Dreiklang“ von Gewerkschaft, Betriebsleitung und Partei (SED) aussprach und die Werktätigen zu freimütiger Kritik aufforderte. Allerdings ging die Aktion, über die die Tribüne ausführlich berichtete, nach hinten los. Die Kollegen nahmen dem FDGB-Vorsitzenden Tisch seinen Sinneswandel nicht ab, zumal der Eindruck entstanden war, er wolle die Verantwortung „nach unten delegieren“. Es hagelte Protestbriefe gegen ihn und am 28.10.1989 forderte der BGL-Vorsitzende des VEB Elektrokohle Lichtenberg, Rainer Schramm, Tisch in einer Fernsehdiskussion auf, die Vertrauensfrage zu stellen. Als dieser einen Tag später im Präsidium des BuV des FDGB seinen Rücktritt anbot, lehnten die übrigen Mitglieder dies einhellig ab. Auf der am 30.10.1989 stattfindenden turnusmäßigen Sitzung des BuV stellte Tisch dann die Vertrauensfrage. Die von der Entwicklung der letzten Tage paralysierten Vorständler sahen sich jedoch zu einer Entscheidung außer Stande und verschoben die Abstimmung auf den 17.11.1989. Nachdem am nächsten Tag ob dieses zögernden Vorgehens eine landesweite Welle der Empörung über das Gremium hinweggebrandet war und erste Meldungen über Amtsmissbrauch und Korruption im FDGB kursierten, wurde die Sitzung am 2.11.1989 fortgesetzt. Das Rücktrittsangebot Tischs wurde angenommen und zur Nachfolgerin wurde die langjährige Berliner Bezirksvorsitzende und erfahrene SED-Funktionärin Annelies Kimmel gewählt.
Die neue FDGB-Vorsitzende versprach die Abschaffung von Privilegien für die Spitzenfunktionäre, wobei sie als erstes Zeichen die Auflösung der so genannten Präsidiumsheime und deren Übertragung auf den Feriendienst anordnete. Des Weiteren versprach sie die Offenlegung der Finanzen, womit sie eine Entwicklung verstärkte, die sie wenige Wochen später hinwegfegen sollte. (Die Rede ist von den schon angesprochenen Skandalen um Amtsmissbrauch und Korruption, die mehrheitlich dem BuV angelastet wurden und in schöner Regelmäßigkeit in die Presse gelangten, so dass manche Altfunktionäre dahinter eine Verschwörungsstrategie vermuteten.) Schließlich rief sie die Funktionsträger in den Betrieben dazu auf, sich künftig in erster Linie als Kontrahenten der staatlichen Leitung zu verstehen, was vehemente Proteste unter den Direktoren und Betriebsleitern hervor rief und in mehreren Fällen dazu führte, dass Letztere die Gewerkschaftsarbeit vor Ort nach Kräften behinderten.
Behindert wurden auch erste Ansätze zu einer Reformierung des FDGB. Die Gewerkschaftshochschule in Bernau hatte hierzu ein Diskussionspapier erarbeitet, worin eine größere Eigenständigkeit und mehr Rechte für die Gewerkschaften sowie innergewerkschaftliche Demokratie gefordert und die Einberufung eines außerordentlichen FDGB-Kongresses vorgeschlagen wurde. Der BuV bildete entsprechende Arbeitsgruppen, und zur Umsetzung der Vorschläge wurde die Vorstandsverwaltung herangezogen, was Kimmel später als einen gravierenden Fehler bezeichnete, da der alte hauptamtliche Apparat mit einer Erneuerung nicht viel im Sinn hatte. Erste Ansätze zu einer größeren Eigenständigkeit der Fachverbände bzw. Einzelgewerkschaften scheiterten daran, dass einerseits der BuV die Finanzhoheit behalten wollte und andererseits die Bezirksebene um ihre Besitzstände fürchtete. Vor allem Letztere war es auch, die im Vorfeld des Kongresses republikweite Wahlen in den Grundorganisationen (BGO, BGL etc.) verhinderte.
Auf der turnusmäßigen Vorstandssitzung am 29.11.1989 wurde für Ende Januar/Anfang Februar 1990 ein außerordentlicher FDGB-Kongress einberufen. Des Weiteren wurde wegen der sich häufenden Skandalmeldungen ein Untersuchungsausschuss gebildet und Harry Tisch aus dem FDGB ausgeschlossen. Präsidium und BuV traten zurück. Letzterer sollte in Form eines Arbeitssekretariats mit Annelies Kimmel an der Spitze die Geschäfte bis zum Kongress weiterführen. Außerdem wurde das Präsidium auf ein dreiköpfiges Arbeitspräsidium reduziert.
Indes spitzte sich die Lage in den folgenden Tagen weiter zu. Anfang Dezember traten Zentralkomitee und Politbüro der SED zurück, der Honecker-Nachfolger Egon Krenz (*19.3.1937) verlor seine Ämter, und es gab weitere Enthüllungen über Missstände im FDGB-BuV (u.a. waren im Herbst 1988 vom Präsidium 100 Mio. Mark aus dem Solidaritätsfonds für das Pfingsttreffen der FDJ gespendet worden). Die Folge waren Demonstrationen gegen den BuV, wodurch sich wiederum die intern erhobenen Rücktrittsforderungen mehrten. Schließlich zogen Annelies Kimmel und die übrigen Mitglieder des BuV bzw. Arbeitssekretariates die Konsequenzen und erklärten auf der auf den 9.12.1989 vorverlegten 12. Vorstandssitzung ihren endgültigen Rücktritt.


II.   Ein selbsternanntes Komitee und erste Anzeichen von Erosion

Als neues Führungsgremium präsentierte sich ein Komitee zur Vorbereitung des außerordentlichen Kongresses, das sich in den vorhergehenden Tagen in einer Art Palastrevolution aus den Zentralvorständen der Einzelgewerkschaften und Vertretern der mittleren und unteren Ebenen gebildet hatte. Ingesamt gehörten ihm 33 Mitglieder an, zum Vorsitzenden wurde der Chef der IG Druck und Papier Werner Peplowski bestimmt, der zwar, wie andere Mitglieder des Komitees auch, dem BuV angehört hatte, hinsichtlich der Missbrauchsvorwürfe jedoch eine zweifelsfrei weiße Weste hatte.
Am 13.12.1989 fand die konstituierende Sitzung des Gremiums statt, dessen programmat. Vorstellungen für eine „grundlegende Erneuerung des FDGB“ schon zwei Tage vorher in der Tribüne veröffentlicht worden waren. Danach sollte der FDGB auf die Funktion eines gewerkschaftlichen Dachverbandes reduziert und die Fachverbände in unabhängige Gewerkschaften umgewandelt werden, was einer Zerschlagung der Strukturen des FDGB und seines zentralist. Apparates gleichkam. Außerdem sprach sich das Komitee für eine Stärkung des Schutzes und der Rechte der Gewerkschaften mittels eines Gewerkschaftsgesetzes aus. Da der geplante organisator. Umbau des FDGB nicht über Nacht zu bewerkstelligen war, es in den Betrieben aber zunehmend Anzeichen für eine Erosion an der Basis gab, sah sich das Komitee genötigt, den sporad. auftauchenden Wildwuchs zu neutralisieren. So hatten schon im Oktober Beschäftigte des Geräte- und Reglerwerkes Teltow eine unabhängige Betriebsgewerkschaft Reform gegründet. Im November hatte sich eine Initiative für unabhängige Gewerkschaften gebildet und zur Gründung von Gewerkschaften außerhalb des FDGB aufgerufen. Im Dezember hatte dann eine Initiative für eine Vereinigte Linke die Wahl von Betriebsräten gefordert. Die Resonanz blieb zwar insgesamt dürftig, dennoch forderte das Komitee alle Gewerkschaftsleitungen in den Betrieben in Berlin auf, die „Aktivisten“ einzubinden und an „den Tisch zu holen“. Auch wenn diese der Einladung fernblieben, gelang es, eine dauerhafte Etablierung der Gruppen neben dem FDGB zu verhindern. Zwar kam es in der Zeit von Januar bis Mai 1990, vor allem in den Bezirken Halle und Leipzig, zur Gründung mehrerer „Betriebsräte“ durch sog. unabhängige Belegschaftsinitiativen, die vereinzelt Unterstützung bei den Bürgerbewegungen fanden, doch entfalteten sie kaum eine über die Region hinaus gehende Wirkung.


III.   Der außerordentliche FDGB-Kongress: Reformversuche und Chaos

Immerhin schaffte es das Komitee dem am 31.1.1990 zusammentretenden FDGB-Kongress einige vorzeigbare Ergebnisse zu präsentieren. Das wichtigste waren die Vorarbeiten zur Umwandlung der FDGB-Fachreferate in autonome Einzelgewerkschaften mit Tarifautonomie und Finanzhoheit nach bundesdeutschem Vorbild. Der in einen gewerkschaftlichen Dachverband umzuwandelnde Bund sollte im weitesten Sinne auf Dienstleistungsfunktionen beschränkt und der hauptamtliche FDGB-Apparat dementsprechend personell ausgedünnt werden. Der vorgelegte Entwurf für ein Gewerkschaftsgesetz sah quasi einen Alleinvertretungsanspruch der Gewerkschaften hinsichtlich der Interessen der Beschäftigen vor und eine rechtliche Mitsprache in allen Fragen, die die Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen betrafen. Durch eine rechtliche sowie finanzielle Absicherung der Tätigkeit der Gewerkschaftsvertreter in den Betrieben sollten schließlich die Grundorganisationen und damit das Überleben der Organisation FDGB als solche gesichert werden. Zur Erreichung dieses Zieles war man sogar zu einer massiven Einschränkung des Streikrechtes bereit.
Organisator. war der Kongress hingegen eher schlecht vorbereitet worden. Wichtige Unterlagen bzw. Berichte wurden den 2 500 Delegierten äußerst kurzfristig oder gar nicht vorgelegt bzw. nur mündlich vorgetragen, was den Delegierten meist nur die Zustimmung oder Ablehnung, aber keine Änderungen der Anträge erlaubte. Als im Zusammenhang mit der Erörterung des Berichtes des Ausschusses zur Untersuchung von Amtsmissbrauch und Korruption ein Ausschluss der hauptamtlichen Funktionäre vom Kongress gefordert und mit einfacher Mehrheit beschlossen wurde, drohte die Veranstaltung aus dem Ruder zu laufen. Die Kongressleitung erstellte für den weiteren Verlauf „parität. Rednerlisten“, was bedeutete, dass zu jedem Tagesordnungspunkt pro Gewerkschaft nur noch ein „legitimierter Sprecher“ das Wort ergreifen durfte.
Am zweiten Tag des Kongresses schien das ganze Unternehmen plötzlich in Frage gestellt, als der Plan des Ministerpräsidenten Hans Modrow (*27.1.1928) zu einer zügigen Annäherung der beiden deutschen Staaten bekannt wurde. Vielen Delegierten schien der Versuch, den FDGB zu reformieren auf einmal fragwürdig, denn Vieles würde in einem vereinten Deutschland keinen Bestand haben. Dies betraf in Sonderheit das erst wenige Minuten zuvor beschlossene Gewerkschaftsgesetz.
Die abschließenden Wahlen für den geschäftsführenden Vorstand spiegelten nochmals den chaot. Verlauf des Kongresses wider. Nicht der favorisierte Chef des Vorbereitungskomitees, Werner Peplowski, wurde zum neuen Vorsitzenden gewählt (nach heftigen Angriffen wegen seiner Mitgliedschaft in der SED-PDS zog er seine Kandidatur zurück), sondern eine völlig unbekannte Delegierte der IG Bergbau-Energie, die Wirtschaftswissenschaftlerin Helga Mausch, seit mehreren Jahren als Vertreterin der NDPD Mitglied im Cottbuser Stadtrat. Zu ihrer Stellvertreterin wurde Karin Schießl, Professorin an der Gewerkschaftshochschule in Bernau, bestimmt.


IV.   Der Vorstand des neuen Dachverbandes auf Orientierungssuche

Der Vorstand, bestehend aus sieben gewählten Mitgliedern und den Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften (letztere wurden auch als „geborene“ Mitglieder bezeichnet), agierte in den folgenden Wochen nicht eben glücklich, ja sogar weitgehend orientierungslos, was einerseits seiner Unerfahrenheit und wohl auch Überforderung geschuldet war sowie andererseits der Abhängigkeit von dem alten Apparat, der sich zudem durch ein beträchtliches Beharrungsvermögen auszeichnete.
So verlief die Aufarbeitung der Skandale um Amtsmissbrauch und Korruption im Sande, obwohl der Kongress sogar eine Ausweitung der Arbeit des Untersuchungsausschusses beschlossen hatte; stattdessen wurde die Zahl seiner Mitglieder von zwölf auf drei reduziert. Die versprochene personelle Erneuerung blieb ebenfalls aus (die alten Leitungskader verblieben, sieht man von Spitzenfunktionären ab, mehrheitlich in ihren Funktionen) und die Personalreduzierung ging vor allem zu Lasten des Büropersonals. Versuche der Annäherung an den DGB scheiterten, weil dieser in einer seit dem Aufkommen der Reform- bzw. Bürgerbewegungen im Frühsommer 1989 bezogenen Wartestellung verharrte und noch von einer mehrjährigen Übergangsphase bis zur Wiedervereinigung ausging. Außerdem wusste man in Düsseldorf nicht, wie man die neue Spitze des FDGB einschätzen sollte. Deren Zick-Zack-Kurs hinsichtlich der zukünftigen Rolle der Gewerkschaften schuf in den Augen des DGB alles andere als Klarheit. Einerseits setzte man sich in Ost-Berlin für den Erhalt des kommunist. WGB ein (Helga Mausch war in diesem Zusammenhang Anfang April nach Moskau gefahren) und hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das Gewerkschaftsgesetz noch vor den Wahlen am 18.3.1990 durch die Volkskammer zu bringen, wohl wissend, dass man damit beim DGB auf wenig Gegenliebe stoßen würde. Andererseits hatte man das Gesetz wenige Wochen später zur Disposition gestellt, war aber gleichzeitig auf Konfrontationskurs gegen die neue DDR-Regierung unter Lothar de Maiziére (*2.3.1940) gegangen, wobei es vor allem um die Verhandlungen über den Staatsvertrag zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion ging. Gegen die Empfehlung der meisten Währungsexperten der BRD focht man gemeinsam mit der Mehrheit der Noch-DDR-Bürger für einen Umtauschkurs von 1:1 bei der bevorstehenden Umstellung auf die D-Mark. Damit verbunden war die Hoffnung, sich nach dem Niedergang in Folge der Korruptionsskandale des vergangenen Herbstes in der formal immer noch zahlreichen Mitgliederschaft eine neue Legitimationsbasis zu schaffen, mit deren Hilfe sich der gewerkschaftliche Machtanspruch untermauern ließ, den man trotz der sukzessiven Abkehr vom Gewerkschaftsgesetz keineswegs aufgegeben hatte. Dass hierbei auch persönliche Motive des um seine Zukunft bangenden Apparates eine Rolle gespielt haben dürften, liegt auf der Hand.
Mochte der überwiegende Teil der Gewerkschaftsvorsitzenden die Haltung des gewählten Vorstandes (verkürzt auch als Bundesvorstand bezeichnet) gegenüber der eigenen Regierung und implizit auch der Bundesregierung unterstützen, so sah dies in puncto Finanzen ganz anders aus. Waren die Beitragsgelder früher direkt an den FDGB gegangen, der daraus sämtliche Verwaltungs- und Personalausgaben, also auch die der Fachverbände, bestritt, so flossen sie ab April auf die Konten der Einzelgewerkschaften, mit der Folge, dass der Dachverband bald in finanzielle Nöte geriet. Zwar hatten sich die Zentralvorstände gemäß den Beschlüssen des außerordentlichen Kongresses bereit erklärt, einen Teil ihrer Beiträge abzuführen; doch da sich unter den Gewerkschaftsvorsitzenden (die Zahl der Gewerkschaften war mittlerweile auf 21 angestiegen) Unmut über das „undurchsichtige“ Finanzgebaren des Dachverbandes ausgebreitet hatte, waren die versprochenen Zahlungen unterblieben. Um den nach Ansicht des für Finanzen zuständigen Vorstandsmitgliedes Klaus Umlauf Ende April drohenden Bankrott abzuwenden, schlug er vor, die Einzelgewerkschaften sollten ihre Aufgaben ab sofort selber finanzieren. Auf der nächsten turnusmäßigen Vorstandssitzung am 9.5.1990 sollte dann über die Lösung der Finanzprobleme beraten werden.
Ein Grund für die zunehmende Distanz der Einzelgewerkschaften gegenüber ihrem Dachverband resultierte aus dem Umstand, dass man an Stelle der bislang disparaten Positionen der DGB-Gewerkschaften gegenüber ihren DDR-Pendants seit kurzem erste Anzeichen einer gemeinsamen Haltung zu erkennen glaubte. Hatten bisher lediglich die DGB-Gewerkschaften IG Metall und IG Chemie Kooperationsbereitschaft signalisiert (die Offerte der IG Chemie hatte allgemein überrascht, da sie zuvor, im Unterschied zu ihren Schwesterorganisationen, immer auf polit. Distanz bedacht gewesen war), so hatten sich die übrigen Gewerkschaften zurückgehalten oder, so die ÖTV und die GEW sowie teilweise die IG Bergbau und Energie, offiz. Kontakte kategor. abgelehnt. (Dennoch gab es vielfältige Kontakte, vor allem mit Beratungscharakter, doch beschränkten sich diese auf die betriebliche Ebene.) Ende März kam dann Bewegung in die Diskussion, als sowohl die ÖTV wie auch die IG Bergbau für ihre Bereiche Gewerkschaftsneugründungen in der DDR empfahlen bzw. dies unterstützen wollten; mit diesen könne man dann Verhandlungen über eine Vereinigung führen. In den folgenden Wochen fand diese Position auch bei den übrigen DGB-Gewerkschaften immer mehr Anhänger, so dass sich der FDGB-BuV zunehmend ins Abseits gedrängt sah. Und so unternahm man dort im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Kundgebungen zum 1. Mai einen letzten Versuch, doch noch eine Vereinigung der beiden Dachverbände in die Wege zu leiten. Man bot dem DGB die Bildung von Arbeitsgruppen an, in denen „gangbare Schritte“ von einer Konföderation bis zu einer „Gewerkschaftsunion“ beraten und vorbereitet werden sollten. In Düsseldorf lehnte man auch dieses Ansinnen ab, wozu man neben den bisherigen inhaltlichen und programmat. Erwägungen auch rechtliche Gründe anführte: das bundesdeutsche Vereinsrecht lasse einen Zusammenschluss von Bünden nicht zu. Auf der DGB-Kundgebung zum 1. Mai vor dem Berliner Reichstag verkündete dann der DGB-Vorsitzende, man wolle in Zukunft mit den aus den Betrieben heraus erneuerten DDR-Gewerkschaften zusammenarbeiten, nicht aber mit dem FDGB.
Darüber hinaus trafen in den ersten Maitagen Nachrichten ein, wonach die Zustimmung der Basis zur Politik des Dachverbandes anfange zu bröckeln, und mittlerweile kritisierten die meisten Bezirksvorstände, dass die „Kampfaktionen“ von oben „verordnet“ würden. Während der Tagung der Finanzkommission des Dachverbandes am 7.5.1990 kam es dann zum offenen Streit über die Offenlegung der Finanzen zwischen den gewählten und den „geborenen“ Vorstandsmitgliedern, was die Vorsitzenden der IG Metall, der Gew. der Eisenbahner sowie der Forstgewerkschaft bewog, mit möglichst breiter Unterstützung auf der für den übernächsten Tag anberaumten Vorstandssitzung für klare Verhältnisse sorgen zu wollen. Am 8.5.1990 wurde schließlich bekannt, dass die IG Bergbau dem BuV wegen ungeklärter Vermögensfragen das Misstrauen ausgesprochen hatte.


V.   Ein Sprecherrat sorgt für die Annäherung an den DGB

Angesichts dieser Gemengelage ging es auf der Sitzung am 9.5.1990 schon bald „hoch her“, zumal die gewählten Vorstandsmitglieder die gegen sie erhobenen Vorwürfe abzublocken suchten, mit der Folge, dass sich die Front der „geborenen“ Mitglieder nach und nach schloss. Der anschließende Versuch, den BuV zu stürzen, endete indes als „Wasserglasputsch“. Da eine Absetzung der vom Kongress gewählten Vorstandsmitglieder formal nicht möglich war, einigte man sich schließlich nach langer Diskussion darauf, dass der BuV in seinen Funktionen weitgehend auf das Innenverhältnis, also die Lenkung des Apparates, beschränkt wurde, wohingegen die Gewerkschaftsvorsitzenden schwerpunktmäßig die Vertretung nach außen sowie die Vorbereitung eines FDGB-Auflösungskongresses übernehmen sollten. Außerdem sollte er das FDGB-Vermögen offen legen und an die Gewerkschaften verteilen. Als neues Leitungsgremium wurde schließlich ein dreiköpfiger Sprecherrat gewählt. Die Funktion des ersten Sprechers übernahm der Vorsitzende der Gew. der Eisenbahner Peter Rothe.
Am nächsten Tag besuchte Rothe den DGB-Vorsitzenden Ernst Breit (*20.8.1924) in Düsseldorf und verständigte sich mit ihm darauf, dass das Gewerkschaftsgesetz zurückgenommen werden müsse und sich die jeweiligen Einzelgewerkschaften möglichst noch vor der polit. Vereinigung unter dem Dach des DGB zusammenschließen sollten. Zur Unterstützung seiner Arbeit stellte Breit dem Sprecherrat eine zuvor in West-Berlin eingerichtete Kontaktstelle zur Verfügung, die kurzerhand in eine „DGB-Verbindungsstelle Berlin“ umgewandelt wurde. Die Mitglieder des Verbindungsbüros standen dem Sprecherrat beratend zur Seite und nahmen auch an den Sitzungen teil.
In den nächsten Wochen verständigte man sich darauf, dass sich die FDGB-Gewerkschaften möglichst schnell auflösen und bis zum 30.6.1990 ihre Beschäftigten entlassen sollten; anschließend sollten die Mitglieder von den jeweils zuständigen DGB-Gewerkschaften übernommen werden, wobei die neuen Mitglieder innerhalb Monatsfrist wieder aus den DGB-Gewerkschaften austreten konnten. Mit Ausnahme von ÖTV und GEW, die auf einem individuellen Aufnahmeantrag bestanden, wurde entsprechend der Absprache verfahren, jedoch waren die Aufnahmekriterien bei den einzelnen Gewerkschaften unterschiedlich. Das Spektrum war weit gespannt und reichte von einer Übernahme ohne jede weitere Erklärung bis zu ausgefeilten Prüfungsverfahren. Allerdings zog sich der Auflösungs- bzw. Übernahmeprozess noch über Monate hin. Die erste Gewerkschaft war die IG Druck und Papier, die zum 1.10.1990 ihre Mitglieder an die IG Medien übertrug.


VI.   Die Vermögenssicherung als Hauptproblem

Im Übrigen war das Hauptproblem, welches es bis zur Auflösung des FDGB zu bewältigen galt, die Sicherung des Vermögens. Schon im März hatte der Geschäftsführende Vorstand die Weichen hierzu gestellt und im April eine alte Gewerkschaftliche Vermögensverwaltungsgesellschaft reaktiviert, die für die Einzelgewerkschaften vor allem die Verwaltung der FDGB-Immobilien übernahm sowie die Kontrolle über weitere in den folgenden Wochen und Monaten gegründete Gesellschaften, vom Verlag Tribüne bis zum Feriendienst, ausübte. Die Gründe waren zunächst einmal, dass die liquiden Mittel für den laufenden Betrieb und vor allem für den sozialverträglichen Abbau, also die Zahlung von Abfindungen an die 25 000 Beschäftigten des FDGB (wovon 18 000 zum Feriendienst gehörten) bei weitem nicht ausreichten.
Als Ende Mai per Gesetz die Vermögenswerte der Massenorganisationen der SED und damit auch die des FDGB unter die treuhänder. Verwaltung einer Regierungskommission gestellt wurde, drohte die Lage kritisch zu werden. In Verhandlungen mit der Kommission erreichte man jedoch, dass der Gewerkschaftsbund weiterhin über sein Vermögen bestimmen konnte; allerdings wurde er verpflichtet, über die bisherigen Aktivitäten Bericht zu erstatten. Mit Unterstützung mehrerer DGB-eigener Gesellschaften (insbesondere der BG-Immobiliengesellschaft und der Bank für Gemeinwirtschaft) wurde Anfang Juli ein Finanzierungsplan erstellt. Es wurden über 100 Gästehäuser und Ferienobjekte verkauft und ein Kredit über 80 Mio. DM aufgenommen. Das verbleibende Immobilienvermögen fiel an die Vermögensverwaltungs- und Treuhandgesellschaft des DGB. (Zwar hatte es der DGB zuvor immer abgelehnt, Vermögen des FDGB zu übernehmen, bezüglich der vorhandenen Vermögenswerte der gemeinsamen Vorgängerorganisation ADGB schien dies jedoch unbedenklich.) Das nicht in den Finanzierungsplan einbezogene Restvermögen sollte an die Einzelgewerkschaften verteilt werden. Außerdem wurde die FDGB-Verwaltungsgesellschaft umorganisiert und bei dieser Gelegenheit in Gewerkschaftliche Vermögensverwaltungsgesellschaft „Märkisches Ufer“ mbH umbenannt.
Unbeschadet der Schwierigkeiten, die man in diesem Zusammenhang zu bewältigen hatte (so musste ein weiterer Kredit aufgenommen werden und der alte FDGB-Apparat behinderte den Personalabbau wo immer es ging), bediente man sich bei der Bewältigung von zwei „Problemfeldern“ gelinde gesagt recht dubioser Praktiken. So drohten im Feriendienst auf Grund der noch im Herbst 1989 verkauften Ferienschecks im Sommer 1990 Forderungen von bis zu 150 Mio. DM fällig zu werden. Die Regierung hatte für diesen Fall Zuschüsse zugesagt, allerdings verbunden mit der Forderung, den Feriendienst auszugliedern. Die Einzelgewerkschaften wollten indes via Gewinnausschüttung weiter an den Erträgen des Feriendienstes partizipieren, was die Regierungskommission zur Vermögensüberprüfung veranlasste, auf die Vorlage der schon mehrfach angemahnten Berichte zu dringen. Bei deren Vorlage versuchte der FDGB im Zusammenhang mit dem Feriendienst den Eindruck zu erwecken, als sei dieser rechtmäßiger Eigentümer aller ihm zugeteilten Immobilien. Ausgeblendet wurde dabei, dass 1953 in der „Aktion Rose“ rechtswidrig über 600 Hotels, Gaststätten usw. beschlagnahmt worden und anschließend in die Obhut des FDGB übergegangen waren.
Der andere Fall betraf den Solidaritätsfonds. Angesichts der Finanzmisere im Mai und der Tatsache, dass sich die „geborenen“ Vorstandsmitglieder weiterhin weigerten, den Dachverband mit Mitgliedsbeiträgen zu stützen, war diesem nichts anderes übrig geblieben, als in den „Solitopf“ zu greifen - und das nicht zum ersten Mal. Allerdings war der illiquide Bestand durch andernorts vorhandene Mittel immer noch gedeckt gewesen. Um das Problem nun endgültig zu beseitigen und das Vorgehen quasi zu legalisieren, wandelte man den Solidaritätsfonds kurzerhand in einen Ausgleichsfonds um, wodurch die Einzelgewerkschaften wiederum Ersparnisse erzielen wollten, die sie als „Hochzeitsgeld“ in die Vereinigung mit den westdeutschen Schwesterorganisationen einzubringen gedachten. Als im Laufe des Sommers Rufe nach einer Verstaatlichung des FDGB-Vermögens laut wurden und das Vorgehen ruchbar zu werden drohte, suchte man nach Auswegen und beschloss, dem Auflösungskongress zu empfehlen, den Solidaritätsfonds, der seiner Natur nach eigentlich ein Barfonds war, „in Form von Immobilien abzudecken“ (wofür sich das Ferienobjekt Graal-Müritz geradezu anbot, da dessen Wert auf 160 Mio. DM taxiert worden war, was in etwa dem Bestand des Fonds vom März 1990 entsprach) und diese an das Kinderhilfswerk Unicef der Vereinten Nationen zu übertragen. Auch die Revisionskommission des Dachverbandes gab ihre Zustimmung. Dass das Vorgehen insgesamt der vor rund einem dreiviertel Jahr bekannt gewordenen Zweckentfremdungspraxis des damaligen FDGB-Vorstandes kaum nachstand, kümmerte niemanden.


VII.   Der Auflösungskongress als Farce

Der Auflösungskongress geriet im Übrigen schon im Vorfeld zur Farce. Zunächst als ordentlicher Bundeskongress beschlossen, wurde er im August zu einem außerordentlichen umdeklariert. Der Grund war ein drohender Satzungsverstoß wegen nicht eingehaltener Fristen. Als man merkte, dass die Vorlauffrist für einen außerordentlichen Kongress mittlerweile ebenfalls verstrichen war, entschied man sich, Fristen hin oder her, es bei einem ordentlichen Kongress zu belassen. Bei der Wahl der 112 Delegierten war ebenfalls gegen die Satzung verstoßen worden. Und als die formal immer noch amtierende Vorsitzende (Helga Mausch hatte am 22.8.1990 resigniert die Brocken hingeworfen, offiz. war sie jedoch krankgeschrieben) dem für den 14.9.1990 anberaumten Kongress fernblieb und es daher keinen Rechenschaftsbericht gab, störte sich auch daran niemand mehr.
Der mit vielen Formfehlern behaftete Kongress wurde zur reinen Formsache und diente im Wesentlichen nur noch dem Zweck, die in den letzten acht Monaten geschaffenen Fakten abzusegnen und die Vermögenstransaktionen zu einem formalen Ende zu bringen. Dies schlug sich auch in den Beschlüssen nieder:
- Der FDGB wurde zum 30.9.1990 aufgelöst und der Sprecherrat als notwendig und „ohne Alternative“ definiert, womit man ihn nachträglich legitimierte.
- Das Vermögen des FDGB sollte in eine Vermögensverwaltungsgesellschaft eingebracht werden, die für die Gewerkschaftsarbeit notwendigen Immobilien sollten an die Vermögensverwaltungs- und Treuhandgesellschaft des DGB übertragen und das Restvermögen auf die Einzelgewerkschaften aufgeteilt werden.
- Das Vermögen des Feriendienstes sollte an die Treuhandanstalt übergeben werden.
- Das Vermögen des Solidaritätsfonds sollte in Form des FDGB-Gästehauses Graal-Müritz der Unicef übertragen werden.
Der Beschluss zum Solidaritätsfonds, der ohne Zustimmung der Regierungskommission gefasst worden war, wurde von dieser wenige Tage später kassiert, weil das Grundstück, auf dem das Gästehaus stand, nicht dem FDGB gehörte, sondern Volkseigentum war. Auch die übrigen vermögensrelevanten Beschlüsse hatten keinen Bestand, nachdem das Amtsgericht Berlin-Charlottenburg im April 1991 alle im Zusammenhang mit der Vermögensverwaltungsgesellschaft des FDGB ab Mitte der 50er Jahre gefassten Beschlüsse für ungültig erklärt hatte. Dementsprechend wurde der größte Teil des FDGB-Vermögens zunächst der Treuhandanstalt unterstellt. Die Liquidation des Gewerkschaftlichen Dachverbandes FDGB zog sich noch bis in das Jahr 1999 hin. Die endgültige Klärung der Vermögensfragen war zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht abgeschlossen.

Franz-Otto Gilles


Lit.: W. Eckelmann/H.-H. Hertle/R. Weinert, FDGB-Intern. Innenansichten einer Massenorganisation der SED, 1990. - Th. Pirker u.a., Wende zum Ende. Auf dem Weg zu unabhängigen Gewerkschaften?, 1990. - Günter Simon, Tischzeiten, Berlin 1990. - H. Hertle/R. Weinert, Die Auflösung des FDGB und die Auseinandersetzung um sein Vermögen, 1991. - Volker Klemm, Korruption und Amtsmißbrauch in der DDR, Stuttgart 1991. - M. Wilke/H. Müller, Zwischen Solidarität und Eigennutz. Die Gewerkschaften des DGB im Vereinigungsprozeß, 1991. - M. Fichter/M. Kurbjuhn, Spurensicherung. Der DGB und seine Gewerkschaften in den neuen Bundesländern 1989-1991, 1993. - F.-O. Gilles/R. Weinert, Der Zusammenbruch des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, 1999.