FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Korruption. Die im Herbst 1989 überbordende Empörungswelle über die bekannt gewordenen Korruptionsfälle im FDGB verdeckte lediglich ein spätestens seit den 80er Jahren weit verbreitetes Wissen über die Korrumpierbarkeit des sozialist. Kaders. Diese war die Kehrseite der sich auf Grund der ausgeprägten „Herrschaft durch Kader“ entwickelten klientelist. Strukturen mit ihren auf „ideellen wie materiellen Interessen beruhenden Loyalitätsbeziehungen“. Begünstigt wurden diese Strukturen durch eine beinahe hermet. Fragmentierung der Zuständigkeitsbereiche in der Führung der SED. Da dieses Herrschaftssystem, gestützt auf den umfassenden Primat der Partei, nicht zur Diskussion, geschweige denn zur Disposition stand, wurde eine öffentliche Erörterung der K. erst während der „Wende“ möglich.
Die besonders empörungsbildenden Fälle waren, neben zwei „Millionenspenden“ an die FDJ und einer „schwarzen Kasse“ beim BuV (s. Amtsmissbrauch), Ungereimtheiten beim Eigenheimbau des damaligen IG Metall-Vorsitzenden (die Vorwürfe stellten sich später als unbegründet heraus), der Jagdsitz des FDGB-Vorsitzenden Harry Tisch in Eixen, dessen Ausbau aus Gewerkschaftsmitteln finanziert worden war (es handelte sich um knapp 4 Mio. Mark) sowie das Urlauberschiff „Arkona“ (bei dessen Erwerb hatte man sich der Hilfe des von Alexander Schalck geleiteten Bereiches „Kommerzielle Koordinierung“ bedient), das im Rahmen des Feriendienstes äußerst begehrte Reisen durchführte, bei deren Vergabe leitende Kader bevorteilt worden waren.
Daneben gab es eine Unzahl von Vorwürfen, die sich meist auf der Ebene der Bevorzugung der Nomenklatur mit gehobenen Verbrauchsgütern und Ähnlichem bewegten, wobei das Thema noch dadurch verstärkt wurde, dass seit dem Sommer 1989 vermehrt Versorgungsengpässe aufgetreten und Pläne für Preiserhöhungen bei „Delikaterzeugnissen“ bekannt geworden waren. Als zur Jahreswende 1989/90 auch verstärkt die gewerkschaftlichen Funktionsträger in den Betrieben (BGL bzw. ZBGL) in die Schusslinie gerieten, nahmen die Anwürfe teilw. kuriose Formen an. Neben weitverbreiteten Klagen, dass BGL-Vorsitzende die besseren Urlaubsquartiere bekämen, wurde gelegentlich auch deren Eignung für eine leitende Funktion in Zweifel gezogen, weil sie die Kollegen außerhalb des Betriebes nicht gegrüßt hätten.
Besonders die wegen ihrer Privilegien in die Kritik geratenen Mitglieder des BuV waren sich keiner Verfehlungen bewusst und vermochten vielfach nicht einmal die Fragwürdigkeit der Sonderrechte zu erkennen. Da dies alles auf Beschlüssen der Partei beruhe, die zu erfüllen seien, sahen sie darin keine wie auch immer geartete Form der Bereicherung, sondern betrachteten die gewährten Vorteile als eine Normalität, die ihnen auf Grund ihrer Position zugestanden habe. Viele sahen noch Jahre später in der geballten Berichterstattung über solche Fälle, vor allem in der Berliner Zeitung (dem Bezirksorgan der SED), ein Komplott von Seiten der Partei, die den Gewerkschaftsbund „geopfert“ habe, um selbst zu überleben.
Unabhängig davon traf den FDGB die öffentliche Entrüstung nicht allein deshalb, weil seine leitenden Kader sich - analog zum Politbüro - einen nach westlichen Maßstäben bescheidenen Luxus gewährten oder weil die Propagandisten eines realiter eher asket. Sozialismus in einer Mangelgesellschaft dieses Modell für sich selbst offensichtlich verwarfen, sondern auf Grund seiner Zuständigkeit für die Verteilung knapper sozialstaatlicher Leistungen. An dieser Nahtstelle entlud sich die durch eine Flut von Vermutungen, Gerüchten und Meldungen über die Sonderrechte der Nomenklatur im Herbst 1989 ansteigende Empörung am heftigsten. Daran vermochte auch das Bemühen der Tribüne mittels einer Art Vorwärtsverteidigung durch die Veröffentlichung zahlreicher Protestbriefe sowie einer ausführlichen Berichterstattung über die Diskussionen in den Betrieben das Problem zu entschärfen, nichts zu ändern.
F.-O.G.