Volkskammer. Die V. war laut Verfassung der DDR das oberste staatliche Machtorgan und sie wurde alle vier bzw. seit 1971 alle fünf Jahre nach Einheitslisten der Nationalen Front gewählt. Die 1962 fällige Volkskammerwahl wurde um ein Jahr auf 1963 verschoben. Die erste provisor. V. entstand aus der Volkskongressbewegung, aus der wiederum der Deutsche Volkskongress hervorging. Der nach dem Prinzip der Einheitslisten am 16.5.1949 gewählte dritte Volkskongress wählte am 30.5.1949 den Deutschen Volksrat, der sich am 7.10.1949 als provisor. V. konstituierte. Die ersten allgemeinen und freien Wahlen zur ersten V. fanden am 15.10.1950 nach dem Prinzip der Einheitsliste der Nationalen Front statt. Die in der V. zu vergebenden Sitze wurden vom Demokrat. Block der Parteien und Massenorganisationen aufgeschlüsselt und auf der Einheitsliste der Nationalen Front aufgeführt.
Bis 1963 gehörten der V. 466 Mitglieder an, wobei 66 Sitze für die (Ost-)Berliner Stadtverordneten freigehalten wurden, danach 500. Von den 400 auf die DDR bezogenen Mandaten erhielten nach dem Verteilungsschlüssel der 1. Wahlperiode die SED 100, CDU und LDP je 60, FDGB 40, NDPD und DBD je 30, FDJ und Kulturbund je 20, DFD und VVN je 15 und VdgB und die Genossenschaften je fünf Sitze in der V. In den nachfolgenden Wahlperioden wurde der ohnehin dominierende SED-Einfluss noch in mehreren Schritten erhöht.
Parteien und Massenorganisationen, deren Volkskammerfraktionen mindestens 40 Mitglieder umfassten, mussten laut Verfassung entsprechend ihrer Stärke in der Regierung vertreten sein. Der FDGB erhielt somit als einzige Massenorganisation eine herausragende Stellung im polit. System der DDR. Da die Mehrheit der Mandatsträger der Massenorganisationen gleichzeitig Mitglied in der SED war, sicherte sich die SED über das System der Einheitslisten formal die absolute Mehrheit in der V. Durch die von der SED gelenkte Politik des Demokrat. Blocks der Parteien und Massenorganisationen, wurde die pluralist. Meinungsbildung in der V. um ein weiteres untergraben. Ihre Vorherrschaft sicherte sich die SED jedoch dadurch, dass sie die Verfassungswirklichkeit durch ihr Parteienstatut nachhaltig prägte. So legte sie in ihrer Geschäftsordnung und in Arbeitsrichtlinien fest, dass sämtliche Vorschläge für Gesetze und Verordnungen vor ihrer Verabschiedung durch die Regierung oder die V. dem SED-Politbüro bzw. dessen Sekretariat vorgelegt werden mussten. Darüber hinaus waren die SED-Mitglieder, also auch jene in den Massenorganisationen, dazu verpflichtet, gemäß den Beschlüssen der Partei zu handeln.
Die V. wählte den Vorsitzenden und die Mitglieder des Staatsrates, den Vorsitzenden und die Mitglieder des Ministerrats - der Regierung der DDR - und den Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates, den Präsidenten und die Richter des Obersten Gerichts der DDR sowie den Generalstaatsanwalt. Ihre eigentlichen Aufgaben führte die V. in Ausschüssen durch, deren wichtigsten in der Regel hochrangige SED-Funktionäre vorstanden. Durch die allseitige Steuerung der V., ihrer Gremien und Parteien des Demokrat. Blocks durch die SED konnte sich kein demokrat. Parlamentarismus entwickeln. Zudem gab es keine parlamentar. Opposition, da die im Demokrat. Block einbezogenen Parteien und Massenorganisationen den Führungsanspruch der SED anerkannt hatten.
Reden und polit. Argumente, vor allem aber Gesetzesvorlagen, wurden auf höchster Ebene zunächst abgestimmt. Im Rahmen des parlamentar. Verfahrens konnten die Fraktionen dann lediglich korrigierend Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen, hatten aber dennoch durch ihre Beteiligung am Verfahren Gelegenheit, die von ihren Parteien und Organisationen spezif. vertretenen bzw. repräsentierten Interessen einzubringen und auf den entsprechenden Vollzug hin kontrollierend zu wirken. Inwieweit diese formale und die oft informelle Einflussmöglichkeiten von den Mitgliedern der V. wahrgenommen wurden, ist noch weitgehend unerforscht.
Mit der Forderung nach freien Wahlen im Herbst 1989 wurde auch das Ende der V. eingeleitet. Nachdem sich die Mitglieder der V. zunächst recht unbeeindruckt von den Forderungen der Bevölkerung nach mehr Demokratie zeigten, schwenkten sie durch die Abwahl alter Regimerepräsentanten ein und veranlassten die erste freie Wahl in der Geschichte der DDR am 18.3.1990. Die neue V. beschloss am 20.9.1990 gegen die Stimmen der PDS und eines Teils der Fraktion Bündnis 90 dem Einigungsvertrag mit der Bundesrepublik zuzustimmen, worin der Übertritt der DDR zum Hoheitsgebiet der Bundesrepublik zum 3.10.1990 festgelegt worden war.
St.P.W.