FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Amtsmissbrauch. Anfang November 1989 mehrten sich in der DDR Meldungen über A. und Korruption unter den leitenden Funktionären aus dem Apparat der SED und den staatlichen Behörden, die eine Welle der Empörung hervorriefen und am 13.11.1989 zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses durch die Volkskammer führten. Auch der FDGB blieb von dem Thema nicht unberührt, mit der Folge, dass am 29.11.1989 ein eigener (allerdings interner) „Ausschuss zur Untersuchung von A. und Korruption im BuV des FDGB“ eingesetzt wurde. Da dessen Arbeitseifer nach Auffassung des Komitees zur Vorbereitung des außerordentlichen Kongresses jedoch zu wünschen übrig ließ, setzte das Gremium am 13.12.1989 einen neuen Ausschuss ein, dem weder Mitglieder des alten BuV noch des Präsidiums noch des Sekretariats angehörten. Dieser legte am 1.2.1990 einen vorläufigen Bericht vor, der neben zahlreichen Details persönlicher Vorteilsnahme ein „System von A., Korruption und Veruntreuung gewerkschaftlichen Eigentums“ offen legte. In der Hauptsache richtete sich die Kritik jedoch gegen den alten Führungskader um den ehemaligen Vorsitzenden Harry Tisch. Eine grundsätzliche Debatte über die Politik des FDGB und die verkrusteten bürokrat. Strukturen der Fachverbände bzw. Einzelgewerkschaften wurde dadurch nicht angestoßen. Diese weitgehende Personalisierung passte durchaus in das Konzept des Vorbereitungskomitees insofern, als man dort befürchtete, eine tiefgehende Erörterung der strukturellen Hintergründe könne den vorgesehenen organisat. Umbau des FDGB gefährden. Zwar wurde der Aufgabenbereich des Untersuchungsausschusses vom Kongress noch erweitert, faktisch wurde er in den folgenden Wochen jedoch weitgehend lahm gelegt. Den vorgesehenen Endbericht legte er nicht mehr vor.
Eine explizite Trennung der Fälle in solche von A. mit oder ohne Merkmale persönlicher Vorteilsnahme wurde nicht vorgenommen und war auch nur schwer möglich. Im Übrigen hätte dies auch den Auftrag des Ausschusses gesprengt, denn eine entsprechende Untersuchung hätte zwangsläufig eine Aufdeckung der Verstrickung des FDGB in das Herrschaftssystem der SED bzw. der Funktion der Massenorganisationen als verlängerter Arm (s. „Transmissionsriemen“) der Staatspartei bedeutet.
Einige Missbrauchsfälle ohne direkte Korruptionsmerkmale gehörten ob ihrer Dimension auch zu den spektakulärsten. Zum einen handelte es sich um einen Verfügungsfonds bzw. eine „schwarze Kasse“, die bei der Abt. Internationale Gewerkschaftsbeziehungen des BuV geführt wurde, unmittelbar dem FDGB-Vorsitzenden unterstand und keiner Revisionskontrolle unterlag. In dem Fonds befanden sich zum Zeitpunkt seiner Offenlegung Anfang Dezember 1989 Devisen in Höhe von 2 Mio. DM. Zum anderen ging es um zwei Zuschüsse in Höhe von jeweils 100 Mio. Mark an die FDJ, die der FDGB-BuV in den Jahren 1984 und 1988 bewilligt hatte. In beiden Fällen war das Geld aus dem Solidaritätsfonds entnommen worden, was formal sogar zulässig war.
Besonders der Griff in die Solidaritätskasse sorgte nach dem Bekanntwerden der Vorgänge für gesteigerten Unmut, vor allem deshalb, weil die Solidaritätsspenden, obwohl sie de facto eine Zwangsabgabe darstellten, in der Bevölkerung weitgehend akzeptiert waren, da mit ihnen in der Regel notleidende Länder in der Dritten Welt, Katastrophenopfer usw. unterstützt wurden. Das Verschieben von Geldern, die eigentlich humanitären Zwecken dienen sollten, von einer Massenorganisation zur anderen war in den Augen vieler Mitglieder mehr als die weit verbreitete Veruntreuung von Volksvermögen, die seit einigen Jahren, insbes. im FDGB, merklich zugenommen hatte. Vielmehr sah man in den Vorgängen besonders schändliche Fälle von „Täuschung“ und „Betrug“ zu Lasten der Werktätigen, die um so schwerer wogen, als sie von der Institution begangen worden waren, der im Herrschaftssystem der SED die Vertretung der Interessen der Werktätigen oblag und die allg. für soziale Belange (s.a. Soziale Dienste) zuständig war und der man daher noch am ehesten „Vertrauen“ entgegengebracht hatte, auch wenn nach internen Erkenntnissen der Organisationskommission (s.a. Kommissionen) seit Mitte der 80er Jahre in dieser Hinsicht ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen war. Ob der Griff in die Solidaritätskasse tatsächlich ein Fall von A. war oder nicht, spielte keine Rolle mehr.
F.-O.G.