FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Ideologische Grundlagen.

Inhalt:

I.     Marx und Engels - Gewerkschaften als „Klassenorganisation“

II.    Lenin - Gewerkschaften als „Organisatoren der Produktion“

III.   Die „Gewerkschaftsdiskussion“ in Russland 1920/21

IV.   Stalin - Gewerkschaften als Instrument der Partei

V.    Gewerkschaften im „realen Sozialismus“ der DDR

        Literatur


Fast die gesamte Zeit seines Bestehens begriff sich der FDGB als Gewerkschaftsorganisation, deren Tätigkeit auf den Lehren von Marx, Engels, Lenin - und anfangs auch noch von Stalin - fußte. Dies hat zu einer gesellschaftlichen Positionsbestimmung geführt, die nur aus diesem weltanschaulichen Hintergrund erklärbar ist:


I.   Marx und Engels - Gewerkschaften als „Klassenorganisation“

Ausgangspunkt, jedoch beileibe nicht Endpunkt der theoret. wie praktischen Ausrichtung des FDGB sind die Erwägungen von Karl Marx (*5.5.1818-†14.3.1883) und Friedrich Engels (*18.11.1820-†5.8.1895). Sie waren der Ansicht, „dass die gegenwärtige Gesellschaft im Wesentlichen in zwei große, antagonist. Klassen gespalten ist - auf der einen Seite die Kapitalisten, denen alle Produktionsmittel gehören, auf der anderen Seite die Arbeiter, die nichts besitzen als die eigene Arbeitskraft.“ Das Arbeitsprodukt müsse zwischen beiden Klassen geteilt werden, „und gerade um diese Teilung tobt ununterbrochen der Kampf“. Auf der Seite der Arbeiterklasse sehen Marx und Engels eine ökonom. und eine polit. Bewegung, die - wie zu zeigen sein wird - nicht ohne weiteres mit „Gewerkschaft“ und „Partei“ gleichzusetzen sind. Beide Bewegungen stünden in einer Wechselbeziehung: „Das political movement der Arbeiterklasse hat natürlich zum Endzweck die Erobrung der political power für sie, und dazu ist natürlich eine bis zu einem gewissen Punkt entwickelte previous organisation der working class nötig, die aus ihren ökonom. Kämpfen selbst erwächst. Andererseits ist aber jede Bewegung, worin die Arbeiterklasse als Klasse den herrschenden Klassen gegenübertritt und sie durch pressure from without zu zwingen sucht, ein political movement. Z.B. der Versuch, in einer einzelnen Fabrik oder auch in einem einzelnen Gewerk durch strikes etc. von den einzelnen Kapitalisten eine Beschränkung der Arbeitszeit zu erzwingen, ist eine rein ökonom. Bewegung; dagegen die Bewegung, ein Achtstunden-etc. Gesetz zu erzwingen, ist eine polit. Bewegung. Und in dieser Weise wächst überall aus den vereinzelten ökonom. Bewegungen der Arbeiter eine polit. Bewegung hervor, d.h. eine Bewegung der Klasse, um ihre Interessen durchzusetzen in allgemeiner Form […]“. Der erste Schritt zur Bewegung vollzieht sich demnach prinzipiell im ökonom. Bereich, von wo aus in den polit. Bereich fortgeschritten wird.
Gewerkschaften seien eine notwendige Bedingung am Anfang des organisator. Zusammenschlusses der Arbeiterklasse: „Mit Trade Unions etc. muss es anfangen, wenn's Massenbewegung sein soll“, meint Friedrich Engels. Anlass und vorläufige Funktion der Gewerkschaftsbildung sei es, die Konkurrenz unter den Arbeitern aufzuheben, um der Kapitalistenklasse in Lohn- und Arbeitszeitfragen geschlossen gegenüberzutreten. Dieses „unmittelbare Ziel der Gewerksgenossenschaft“, das sich „auf die Erfordernisse des Tages“ beschränke, stelle aber nicht das einzige dar: Das „eigentliche Resultat“ sei „nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter.“ Hiervon müsse sachgemäß Gebrauch gemacht werden: Gewerkschaften verfehlten „ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse“. Sie müssten „abgesehen von ihren ursprünglichen Zwecken […] lernen, bewusst als organisierende Zentren der Arbeiterklasse zu handeln, im großen Interesse ihrer vollständigen Emanzipation“. Sobald sich im Klassenkampf „alle Elemente für eine kommende Schlacht“ vereinigten und entwickelten, nehme „die Koalition einen polit. Charakter an“. Der Prozess führe also unabwendbar zum Endzweck des Arbeiterzusammenschlusses: dem polit. Kampf, d.h. der Revolution. Nur revolutionäre Gewerkschaften haben für Marx und Engels ihre hist. Mission verstanden.
Innerhalb der polit. Bewegung der Arbeiterschaft haben sich die beiden Theoretiker stets auch für die Schaffung einer Arbeiterpartei verwendet. Welche Beziehung sie zu den Gewerkschaften besitzt, ist für deren Autonomie und auch im Vorgriff auf Lenin von Belang. In erster Linie strebten Marx und Engels an, dass die Gewerkschaftsorganisation, die aus dem ökonom. in den polit. Raum hineinragt, mit der Partei, der polit. Organisationsform, „Hand in Hand arbeitet“. Dabei zögen „die unmittelbaren Vorteile, die die Gewerkschaften gewähren, […] viele sonst Gleichgültige in die polit. Bewegung hinein“. Beide Bewegungstypen sind den kommunist. Vordenkern wichtig; Engels fordert, „die Organisation der Partei wie der Gewerksgenossenschaften immer fester zusammenzuschließen“. Im Manifest der Kommunist. Partei prophezeien Marx und Engels 1848 die „Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur polit. Partei“. Dieser Parteibegriff ist derart weit, dass zwischen Partei, Gewerkschaften und gesamter Klasse kaum zu unterscheiden ist. Über- und Unterordnungen zwischen Gewerkschaften und Partei gestatten Marx' und Engels' Schriften keine eindeutigen Schlussfolgerungen. Mal überwiegt das eine, mal das andere; situationsbedingt weichen Aussagen voneinander ab. So gibt es durchaus Passagen, die eine Parteidominanz andeuten und später Lenin und Stalin sowie SED und FDGB hilfreich sein werden. Engels schreibt, er halte es für „nötig […], dass es (das Proletariat, U.G.) eine besondere Partei bildet, getrennt von allen anderen und ihnen entgegengesetzt, eine selbstbewusste Klassenpartei“. Diese Arbeiterpartei - so an anderer Stelle - sei „derjenige Teil der arbeitenden Klasse, welcher zum Bewusstsein der gemeinsamen Interessen der Klasse gekommen ist“. Ganz in diesem Sinne empört ihn die Behauptung, „dass die Trade-Unions die wahre Arbeitervereinigung und Grundlage aller Organisation zu sein hat“. Marx richtet nie solch einen Führungsanspruch an die Partei. Und beide zusammen wenden sich in jedem Falle gegen elitäre Anschauungen von ihr: „Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiterklasse selbst sein. Wir können also nicht zusammengehn mit Leuten, die es offen aussprechen, dass die Arbeiter zu ungebildet sind, sich selbst zu befreien und erst von oben herab befreit werden müssen“. Andererseits indizieren Passagen des Schrifttums von Marx und Engels, dass doch Gewerkschaften das entscheidende revolutionäre Element sein könnten. Engels tritt gegen die Vernachlässigung dieser Bewegung im SPD-Programmentwurf von 1875 auf: Dort sei „von der Organisation der Arbeiterklasse als Klasse vermittels der Gewerksgenossenschaften gar keine Rede“. Darin sehe er aber nun doch „die eigentliche Klassenorganisation des Proletariats, in der es seine täglichen Kämpfe mit dem Kapital durchficht.“ Sie gehöre ins Programm, und Engels empfiehlt, „ihr womöglich einen Platz in der Organisation der Partei offen zu lassen“. Unter anderem deshalb könnten sich sonst „Marx und ich nie zu der auf dieser Grundlage errichteten neuen Partei bekennen“. Noch deutlicher wird Engels, wenn er - wie so oft - die unrevolutionäre Haltung der englischen Gewerkschaften tadelt. Damit verletzten sie ihre "Pflicht als Vorhut (sic!) der Arbeiterklasse".
Marx und Engels befürworten also ein entschiedenes revolutionäres Miteinander von Gewerkschaften und Partei; allzu strikte Trennung oder die Betonung nur einer Seite liegen nicht in ihrem Sinne. In Deutschland steuern sie der parteiorientierten Einseitigkeit, in England der revolutionsunlustigen, gewerkschaftsorientierten Einseitigkeit entgegen.
Für die Gewerkschaftsbewegung ist es aber von höchstem Belang, wer über ihre Geschicke bestimmt: Ob sie selbst es tut oder eine andere Organisation, so nahe diese ihr auch stehen mag, ergibt einen elementaren Unterschied. Marx plädiert stets für Selbstbestimmung und Emanzipation, auch innerorganisator.: Er lässt wissen, „dass die zentralist. Organisation […] dem Wesen der Trade-Unions widerspricht. Wäre sie möglich - und ich erkläre sie tout bonnement für unmöglich - so wäre sie nicht wünschenswert.“ Für Marx „gilt es vor allem, ihn (den Arbeiter, U.G.) selbständig gehn zu lehren.“
Marx und Engels prophezeien bald nach der proletar. Revolution ein harmon. Gemeinwesen, frei von Klassenkämpfen. Gesellschaftliches Eigentum würde tatsächlich eine prinzipielle Übereinstimmung der Interessen hervorbringen. Halbwegs Spezif. zu ihrer „neuen Gesellschaft“ kann man aber allenfalls aus Stellungnahmen ableiten, die Marx und Engels zum einzigen revolutionären Experiment ihrer Lebzeiten abgeben: der Pariser Kommune von 1871. Sie feiern diese als „die endlich entdeckte polit. Form, unter der die ökon. Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte“ und fassen die Kommune als „Revolution gegen den Staat […], diese übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft“ auf, als „Rücknahme der Staatsgewalt durch die Volksmassen selbst“. Die angestrebte „Selbstregierung der Produzenten“ sei sie gewesen. Marx und Engels streben keinen neuen Staat, sondern eben eine neue Gesellschaft an. Eigentümerbewusstsein der Werktätigen und die daraus resultierende Arbeitsmotivation sehen sie offenbar auf genossenschaftlichem Wege sprießen, wobei die Gesamtheit der Genossenschaften sich freiwillig auf einen nationalen Plan verständigen müsste. Reibungsflächen der Betriebsangehörigen mit staatlich eingesetzten Betriebsleitern könnten gar nicht entstehen. Die „Beseitigung der Staatshierarchie überhaupt“ und nicht etwa die Etablierung neuer, weisungsgebundener Staatsfunktionäre in den Betrieben ist Ziel von Marx und Engels. Konkretes über die Form der Betriebsleitung führen sie freilich nicht aus.
Hierbei ginge es um die nachrevolutionäre Phase, in der sich die DDR und der FDGB nach eigenem Verständnis befanden. Marx und Engels haben es versäumt - wie man auch in der DDR einräumte -, „ein detailliertes Bild der kommenden Gesellschaftsordnung zu zeichnen.“ Gewerkschaften kommen in dieser verschwommenen Vision gar nicht vor.
Wo Marx und Engels über Gewerkschaften reden, liegt die kapitalist. Klassengesellschaft ihren Erwägungen zugrunde. Gewerkschaften sind demnach Klassenkampforgane, deren Funktion die Auseinandersetzung mit dem Klassengegner ist. Wenn das nach der Revolution herrschende Proletariat aber - wie es das Kommunistische Manifest vorsieht - „gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt […] auf.“ Damit entfiele der Gegner der Gewerkschaften, an dem sie definiert worden sind. Lenin behauptet bereits gut ein Jahr nach seinem Machtantritt, dass „es einen solchen Gegner […] nicht mehr gibt.“ Damit würde sich die Frage nach dem Fortbestand der Gewerkschaften stellen. „Man kann ihrer nicht entraten, solange die heutige Produktionsweise besteht“, hat Karl Marx geschrieben. Und danach? Marx und Engels haben eine gewerkschaftstheoret. Lücke hinterlassen, in die Lenin, Stalin und schließlich der FDGB eingedrungen sind.
Dennoch bleibt die Gewerkschaftstheorie von Marx und Engels die allg. ideolog. Grundlage für eine Gewerkschaftsorganisation, die sich wie der FDGB als marxist.-leninist. begriff. Auf andere gesellschaftliche Verhältnisse bezogen ließ sich diese Theorie freilich für die „nachrevolutionäre“ DDR nicht anwenden. Marx und Engels haben insofern schon ein Fundament für die FDGB-Ideologie gelegt - ein Fundament allerdings ohne den zugehörigen Bauplan für das darauf zu errichtende Gebäude.


II.   Lenin - Gewerkschaften als „Organisatoren der Produktion“

Wladimir Iljitsch Lenin (*22.4.1870-†21.1.1924) knüpft bei Marx und Engels an. Wie diese beiden deutet er Stellung und Aufgaben von Gewerkschaften - zunächst - unter kapitalist. Verhältnissen. In seiner Heimat, dem Russischen Reich, gab es so gut wie keine Gewerkschaftsbewegung. Erst als nach der Revolution von 1905 temporär Koalitionsfreiheit existierte, entstanden sehr schwache Ansätze - wie auch zwölf Jahre später nach der Februarrevolution von 1917. Lenins Partei war hingegen - und sei es, wie er selbst, im Exil - stets einigermaßen handlungsfähig geblieben.
Theoret. verpasst Lenin unter diesen Voraussetzungen der Arbeiterbewegung ein neues Organisationsmodell, das sich ab 1917 auch praktisch durchsetzt und später das Verhältnis von SED und FDGB bestimmen wird. Betrachteten Marx und Engels die Bewegung des Proletariats noch als gleichermaßen Gewerkschaften und Partei umfassend und erwarteten auch von den Gewerkschaften revolutionäre Impulse, teilt Lenin diese Hoffnung nicht. Er verweist die Gewerkschaften eindeutig ins zweite Glied und rät davon ab, sich „in einen eng verstandenen Rahmen des Klassenkampfes, hauptsächlich im Sinne der Gewerkschaftsbewegung, einzufügen.“ Zwar bekennt er sich zur doppelten Organisierung der Arbeiterschaft in Gewerkschaften und Partei, brandmarkt aber die „ökonomist.“ Auffassung als „sklavische Anbetung der Spontaneität“. Leichtfertig mache sie weis, sozialist. Bewusstsein, sozialist. Bewegung und letztlich sozialist. Revolution könnten mittels der von den Belegschaften und ihren Gewerkschaften ausgetragenen Konflikte zustande kommen. Es sei „die spontane Arbeiterbewegung […] an und für sich nur fähig, Trade-Unionismus hervorzubringen“, was ihre Politik „noch keinesfalls zur sozialdemokrat. Politik“ mache, worunter Lenin - in Abweichung zum heutigen Gebrauch dieses Begriffs - revolutionäre Politik verstand (seine Partei hieß damals auch noch Sozialdemokrat. Arbeiterpartei Russlands / SDAPR und hat sich erst später in Kommunist. Partei Russlands / KPR bzw. Kommunist. Partei der Sowjetunion / KPdSU umbenannt). Es könnten - so in diesem Sinne seine Schlüsselaussage - „die Arbeiter ein sozialdemokrat. Bewusstsein gar nicht haben.“ In einem organisierten Streik sieht Lenin „Keimformen des Klassenkampfes […], aber eben nur Keimformen.“ Den Arbeitern mangle es an der Einsicht in den unversöhnlichen Gegensatz ihrer Interessen zum gesamten gegenwärtigen polit. und sozialen System, es fehle „ihnen das sozialdemokrat. Bewusstsein.“ Es müsse ihnen daher „von außen gebracht werden“ (sic!).
Wer tut das? - Vorerst sei nicht die gesamte Arbeiterbewegung, sondern nur eine kleine Elite in der Lage, sich ein hohes Bewusstsein anzueignen. Diese Leute, „deren Beruf die revolutionäre Tätigkeit ist“, bildeten die Partei, welche „notwendigerweise nicht sehr umfassend und möglichst konspirativ sein“ müsse. Diese Partei habe ihr Augenmerk auf die Gewerkschaftsbewegung zu richten, um deren „trade-unionist. Politik in einen sozialdemokrat. Kampf zu verwandeln, die Funken polit. Bewusstseins, die der ökonom. Kampf in den Arbeitern entstehen lässt, auszunutzen, um die Arbeiter auf das Niveau des sozialdemokrat. polit. Bewusstseins zu heben.“ Lenin räumt dieser revolutionären Partei einen allumfassenden Vorrang ein. Gewerkschaften gewährt er in seinem Organisationsmodell der Arbeiterbewegung gerade den Einfluss, der dem unterstellten Bewusstseinsstand ihrer Mitglieder entspricht. Es existiere ein „Unterschied im Grad der Bewusstheit“, und die Gewerkschaftsorganisation sei nun einmal „primitiver, dem Bewusstsein der unterentwickelten Schichten zugänglicher“. Darin liege aber auch ein Wert. Die Partei, die den Erkenntnisvorsprung habe, erziehe die Arbeiterklasse und bediene sich dabei der Gewerkschaften als Wirkungsfeld. Darüber aber, dass Gewerkschaften „unter der Kontrolle und Leitung“ der Partei arbeiten, kann es für Lenin „unter Sozialdemokraten keine zwei Meinungen geben.“ So versetzt er Gewerkschaften bereits vor der Revolution in die Rolle eines Instrumentes der Partei - einer streng zentralist. Partei, die er als eine Art Generalstab mit entsprechenden Führungsstrukturen für die Armee des Proletariats begreift. Innerhalb dieser Struktur sei dann - wie bei Marx und Engels - unter vorrevolutionären Gegebenheiten „die Hauptaufgabe der Gewerkschaften der Kampf gegen das Kapital.“
Anders als seine beiden Vorbilder kann Lenin freilich die Gewerkschaftsfrage in der nachrevolutionären Gesellschaft nicht unbeantwortet lassen, ist er doch nicht nur Revolutionstheoretiker gewesen, sondern selbst zur Macht gekommen. Nach der „Oktoberrevolution“ von 1917 lässt sich das Problem nicht mehr umgehen. Ohne Umschweife verwirft Lenin die Annahme, Gewerkschaften hätten nunmehr ihre geschichtliche Aufgabe erfüllt. Sie seien eine Einrichtung, die noch immer „unumgänglich ist und die in der weiteren Zukunft in Frage gestellt sein wird.“ Erst „unsere Enkel werden sich darüber unterhalten.“ Lenin will Gewerkschaften jetzt als Mittel „des Herangehens an die Massen, der Gewinnung der Massen, der Verbindung mit den Massen“ verwenden - Grundaufgabe der Gewerkschaften in der neuen Gesellschafts- und Herrschaftsordnung. Deren Gliederung beschreibt Lenin zweieinhalb Jahre nach seinem Machtantritt: „Das Verhältnis zwischen Führer, Partei, Klasse und Masse und damit zugleich das Verhältnis der Diktatur des Proletariats und seiner Partei zu den Gewerkschaften hat bei uns jetzt konkret folgende Form angenommen: Die Diktatur wird durch das in den Sowjets organisierte Proletariat verwirklicht, dessen Führer die Kommunist. Partei der Bolschewiki ist […]. Die Partei […] wird vom Zentralkomitee geleitet […]; die laufende Arbeit in Moskau wird von noch engeren Kollegien geleistet, dem sog. >Orgbüro< (Organisationsbüro) und dem sog. >Politbüro< (Politisches Büro) […] Hier haben wir also eine regelrechte >Oligarchie<. Keine einzige wichtige polit. oder organisator. Frage wird in unserer Republik von irgendeiner staatlichen Institution ohne Direktiven des Zentralkomitees entschieden. Die Partei stützt sich bei ihrer Arbeit unmittelbar auf die Gewerkschaften […] Faktisch bestehen alle leitenden Körperschaften der weitaus meisten Verbände und in erster Linie natürlich der Zentrale oder des Büros aller Gewerkschaften ganz Russlands […] aus Kommunisten und führen alle Direktiven der Partei durch.“ Das Verhältnis zwischen Partei und Gew. gestaltet sich in der Praxis so, wie Lenin es zuvor erdacht hat: hier der Führer, dort die Geführten.
Neu ist, dass die Partei auch über den Staat gebietet. Gewerkschaftliche Beziehungen zum Staat sind damit für Lenin grundsätzlich neu zu ordnen. Die alte Parole vom Misstrauen gegenüber dem Staat sei hinfällig. Das genaue Gegenteil sei angesagt: „Die Gewerkschaften werden und müssen Staatsorganisationen werden, denen in erster Linie die Verantwortung zufällt für die Reorganisation des gesamten wirtsch. Lebens nach den Grundsätzen des Sozialismus.“
So ist die von Marx und Engels hinterlassene Lücke geschlossen: Gewerkschaften fallen jetzt organisierende und mobilisierende Aufgaben im Produktionsbereich zu, die sie in engster Zusammenarbeit mit dem Staate verrichten müssen. Zwischen dem Staat, der nach der Abschaffung des Privateigentums an den wesentlichen Produktionsmitteln gesamtgesellschaftliche Interessen verwirkliche, und den Gewerkschaften gebe es keinerlei Konfliktfeld. Von der zur Interessenerkenntnis befähigten Partei angeleitet, habe die Gewerkschaftsbewegung „eine besonders schroffe Wendung durchzumachen“. Lenin leitet die neue Rolle der Gewerkschaften aus der gewandelten Eigentums- und Herrschaftsstruktur her, die ihnen zwar keinen Gegner, aber jede Menge Aufbauchancen biete. Für Lenin „(ist) die Arbeitsproduktivität […] in letzter Instanz das Allerwichtigste, das Ausschlaggebende für den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung.“ In dieser bedeutenden Kampfzone, wo die erzwungene Arbeitsdisziplin des Kapitalismus allmählich „der freien und bewussten Disziplin der Werktätigen selbst“ das Feld räumen müsse, gebe es für Gewerkschaften jede Gelegenheit, sich zu betätigen. Sie seien nunmehr „Organisatoren der Produktion“. Das schließt nicht ein, dass ihnen etwa die Verfügungsgewalt über die Produktion zugesprochen würde. Lenin trennt zwischen leitenden und ausführenden Tätigkeiten und sieht die Gewerkschaften auf der ausführenden Seite. Rasch distanziert er sich aus ökonom. Gründen von der anfangs praktizierten Kollegialleitung der Betriebe unter Beteiligung der Gewerkschaften und tritt für die Einzelleitung der Betriebe ein. Er nennt dies „die Ernennung einzelner Personen, die die unbeschränkten Vollmachten von Diktatoren erhalten.“ Im Rahmen der Interessenübereinstimmungs-Ideologie garantierten diese Staatsfunktionäre „die unbedingte Unterordnung der Massen unter den einheitlichen Willen der Leiter des Arbeitsprozesses.“ Wirtschaftlich wie ideolog. könnte hierbei ein gewerkschaftliches Mitspracherecht nur stören (vgl. Mitbestimmung). Lenin fordert von den Gewerkschaften, das Prinzip der Betriebsleitung durch ernannte Beauftragte der Sowjetmacht vorbehaltlos mitzutragen: „Wir müssen vorwärts schreiten. Mit Energie und einheitlichem Willen müssen wir emporsteigen. Die Gewerkschaften werden dabei gewaltige Schwierigkeiten zu überwinden haben. Wir müssen erreichen, dass sie diese Aufgabe im Sinne des Kampfes gegen die Überreste des berüchtigten Demokratismus (sic!) auffassen. All das Geschrei über Ernennungen muss aufhören, dieser ganze alte, schädliche Plunder […] muss hinausgefegt werden.“ Die neuen Grundvorstellungen Lenins über Gewerkschaften sind vom Kriegskommunismus geprägt und somit radikal. Er sagt, Gewerkschaften müssten der Partei dienen. Er sagt, „dass die Umwandlung der Gewerkschaften in Staatsorgane unvermeidlich ist“ und spricht von der Aufstellung von „Arbeitsarmeen“. Er sagt damit auch, dass autonome Gewerkschaften nicht vorgesehen sind.


III.   Die „Gewerkschaftsdiskussion“ in Russland 1920/21

Zwischen Herbst 1920 und Frühling 1921 kommt es zur öffentlich ausgetragenen „Gewerkschaftsdiskussion“ innerhalb der Kommunist. Partei Russlands (KPR). Während Lew Dawidowitsch Trotzki (*7.11.1879-†21.8.1940) - in Anlehnung an Lenin - für die staatlich organisierte Militarisierung der Arbeit und der Arbeiterklasse eintritt, verlangt die dadurch provozierte „Arbeiteropposition“, hinter der bedeutende Einzelgewerkschaften stehen, „dass die gesamte Leitung der Volkswirtschaft als eines einheitlichen Wirtschaftsganzen in den Händen der jetzt als Gew. existierenden Produzentenorganisationen der Republik konzentriert wird.“ Augenblicklich dränge sich den Arbeitern die Frage auf, ob sie „Arbeitsvieh (seien), das jenen als Stütze dient, die sich von den Massen abgewandt und unter den verlässlichen Schutz des Parteifirmenschildes begeben haben und nun ohne unsere Führung, ohne unser schöpfer. Eingreifen als Klasse Politik machen und die Wirtschaft aufbauen“. Diesen Zustand und die damit verzahnte Motivationseinbuße unter der Arbeiterschaft will die „Arbeiteropposition“ aus der Welt schaffen: Es sollten „alle leitenden Organe der Volkswirtschaft sowohl im Zentrum als auch in der Provinz von den Vertretern der organisierten Produzenten gewählt werden.“ Das schaffe „die für die Organisierung der Volkswirtschaft notwendige Willenseinheit“ und zugleich „den breiten Arbeitermassen die reale Möglichkeit […], mit eigenen Initiativen auf die Organisation und Entwicklung unserer Wirtschaft Einfluss zu nehmen.“ Die Betriebsleitung hat in diesem Konzept ein Arbeiterkomitee inne, die gewerkschaftliche Grundzelle. So gelangten Gewerkschaften in die Funktion, die ihnen als größter Arbeiterorganisation zustehe. Die von ihr beobachtete „Schmälerung der Bedeutung und der faktischen Rolle der Gewerkschaftsorganisationen in Sowjetrussland“ rügt die „Arbeiteropposition“ hingegen als „Erscheinung bürgerlicher Klassenfeindschaft gegenüber dem Proletariat“. Die „Arbeiteropposition“ hat die Selbstverwaltung der Arbeiterklasse kraft ihrer Gewerkschaften erreichen wollen, die zum „Leiter und Schöpfer der kommunist. Wirtschaft“ berufen seien. Dies ist nicht als Gegenmacht zur KPR, der die Repräsentanten der „Arbeiteropposition“ alle selbst angehört haben, erdacht worden. Vielmehr ist es um eine Aufgabenteilung gegangen, die den Gewerkschaften die Wirtschaft, Partei und Staat aber alle anderen Lenkungsbereiche vorbehalten hätte.
Lenin hat die „Gewerkschaftsdiskussion“ für einen Fehler der KPR gehalten und sich nur notgedrungen daran beteiligt. Er teilt dabei nach zwei Seiten aus: in erster Linie gegen die „Arbeiteropposition“ und aus taktischen Erwägungen auch gegen Trotzki. Gleichwohl verändert er manche Aspekte seiner Gewerkschaftstheorie: Sein Positionspapier warnt „dringend und kategor. alle Parteiorganisationen und einzelnen Genossen vor jeder kleinlichen Bevormundung und Einmischung in die laufenden Arbeiten der Gewerkschaften“ doch am Grundprinzip rüttelt er nicht: „Die KPR beeinflusst durch ihre zentralen und lokalen Organisationen unbedingt wie bisher die ganze Arbeit der Gewerkschaften […]. Selbstverständlich muss die Auswahl des leitenden Personals der Gewerkschaftsbewegung unter der Führung und Kontrolle unserer Partei stattfinden.“ Die Parteiherrschaft steht für Lenin also absolut nicht zur Diskussion. Über die Art und Weise ihrer Durchführung lässt er bedingt mit sich reden, denn es könne die Partei als Avantgarde „ohne ein solches Fundament wie die Gew. zu besitzen, […] die Diktatur nicht verwirklichen, […] die staatlichen Funktionen nicht ausüben.“ Gewerkschaften müssten einerseits „die Verbindung der Avantgarde mit den Massen herstellen“ und andererseits „das >Reservoir< der Staatsmacht“ bilden. Sie werden von Lenin einer durch die Partei gesteuerten „Reihe von Zahnrädern“ zugewiesen, denn es lasse sich „die Diktatur nicht verwirklichen ohne einige >Transmissionen< von der Avantgarde zur Masse der fortgeschrittenen Klasse und von dieser zur Masse der Werktätigen.“ Ohne Selbstbestimmung zu genießen, erhalten Gewerkschaften in Lenins gewandelter Theorie eine Art Indikatorrolle: Es existiere für die Partei „die Gefahr der Loslösung von den Massen, die Gefahr, dass die Vorhut zu weit vorauseilt, ohne >die Front auszurichten<“. In diesem Fall würde „eine Katastrophe unseres sozialist. Aufbaus unvermeidlich, wenn der Transmissionsmechanismus zwischen der Kommunist. Partei und den Massen - den Gewerkschaften - falsch aufgebaut ist oder nicht richtig funktioniert.“
Der Partei nach wie vor untertan und dem Staate nah, ohne sein Organ zu sein, erhalten Gewerkschaften in Lenins gereifter Theorie „eigene“ Aufgaben zugewiesen. Sie liegen wie ehedem im Produktionsbereich, in der Steigerung der Arbeitsproduktivität (vgl. Arbeitsmobilisierung), und streifen Mitbestimmungsmomente allenfalls. Von der grundsätzlichen Funktionsfestlegung der Gewerkschaften beim Aufbau des Sozialismus weicht Lenin kaum ab. Doch er ahnt, dass das von ihm konzipierte System in der Praxis nicht konfliktfrei funktionieren wird. So entsteht das eigentlich Neue in seiner überarbeiteten Theorie: Er misst Gew. selbst nach der erfolgten sozialist. Umwälzung in aller Deutlichkeit Schutzfunktionen und -rechte für ihre Mitglieder bei. Lenin stellt fest, „dass unser Staat ein Arbeiterstaat mit bürokrat. Auswüchsen ist“, und fährt fort: „Was meinen Sie, haben in einem praktisch derart beschaffenen Staat die Gewerkschaften nichts zu schützen, kann man ohne sie auskommen, wenn man die materiellen und geistigen Interessen des in seiner Gesamtheit organisierten Proletariats schützen will? Das ist eine theoret. völlig falsche Argumentation. […] Unser heutiger Staat ist derart beschaffen, dass das in seiner Gesamtheit organisierte Proletariat sich schützen muss, wir aber müssen diese Arbeiterorganisationen zum Schutz der Arbeiter gegenüber ihrem Staat und zum Schutz unseres Staates durch die Arbeiter ausnutzen.“
Dieser Einsicht von 1920 in eine Schutznotwendigkeit gesellt sich hinzu, dass im Zuge der ab 1921 eingeführten Neuen Ökonom. Politik (NÖP) Staatsbetriebe in Konkurrenz zu wieder einzuführenden privatkapitalist. Betrieben stehen sollten - Lenin schlussfolgert: „Dieser Umstand, in Verbindung mit der gebieter. Notwendigkeit, die Arbeitsproduktivität zu steigern und zu erreichen, dass ein jeder Staatsbetrieb ohne Verlust, mit Gewinn arbeitet, sowie in Verbindung mit dem unvermeidlichen Ressortinteresse und der Übertreibung des Ressorteifers, erzeugt unausbleiblich einen gewissen Interessengegensatz zwischen der Arbeitermasse und den leitenden Direktoren der Staatsbetriebe oder deren übergeordneten Behörden. Darum haben die Gewerkschaften auch in Bezug auf die Staatsbetriebe unbedingt die Pflicht, die Klasseninteressen des Proletariats und der Werktätigen Massen gegen ihre Arbeitgeber (sic!) zu schützen.“ Lenin erkennt somit an, dass die theoret. hergeleitete Interessenübereinstimmung zwischen Staat und Belegschaften in der konkreten Umsetzung nicht unbedingt wirksam wird, sondern im Gegenteil einem - ebenso prinzipiell - schwelenden Konflikt zwischen gewinnorientierten Leitern und den Geleiteten weichen wird. Deshalb werde die Kampfform der Arbeitsniederlegung wieder denkbar; dabei könne jedoch „das Endziel des Streikkampfes nur die Festigung des proletar. Staates und der Staatsmacht gegen bürokrat. Auswüchse dieses Staates, gegen seine Fehler und Schwächen […] sein.“ Das ist ein Streik gegen und gleichzeitig für den Staat - eine neue Reservefunktion, doch zugleich eine böse Zwickmühle für Gewerkschaften. Lenin sieht „unvermeidlich Konflikte, Misshelligkeiten, Reibungen usw.“ heraufziehen und erstrebt, „sie unverzüglich beizulegen“. Dazu bedürfe „es einer höheren Instanz, die genügend Autorität besitzt.“ Für ihn sind dies „die Kommunist. Partei und die internat. Vereinigung der kommunist. Parteien aller Länder, die Kommunist. Internationale“ - ein Eingeständnis von Konflikten zwar, aber die herkömmliche „Konfliktlösung“...
Im Kommunist. Manifest von Marx und Engels heißt es, Kommunisten stellten „keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletar. Bewegung modeln wollen.“ Der Kommunist Lenin tut dies dennoch, und zwar insbesondere hinsichtlich der Führungsrolle der KP (s. führende Rolle) und dem letztlich umfassend anzuwendenden Prinzip des „demokrat. Zentralismus“. Marx und Engels wollten die Befreiung zum Werk der gesamten Arbeiterklasse machen, sobald deren große Masse zum Bewusstsein ihrer Lage gekommen ist. Eine Befreiung von oben herab wurde abgelehnt. Bei Lenin - so Rudi Dutschke (*7.3.1940-†24.12.1979) - ist dieser „Emanzipationskampf […] verschoben, abstrakt-ideolog. soll die Arbeiterklasse sich selber befreien, konkret-hist. soll die revolutionäre Arbeiterpartei diese Aufgabe in die Hand nehmen.“ Diese sich selbst als elitär begreifende Partei reklamiert auch nach der erfolgten Revolution den absoluten Führungsanspruch für sich. Das beruht weniger auf der tatsächlichen Auftragserteilung durch die Arbeiterschaft als vielmehr auf den Inhalten einer als wissenschaftlich hingestellten Theorie. Die als bewusstseinsmäßig unterentwickelt betrachteten Arbeitermassen (auch die gewerkschaftlich Organisierten) bestimmen nicht selbst, sondern ihre Interessen werden von einer angeblich zur Wahrheitserkenntnis allein befähigten Avantgarde definiert. Somit bestimmt die Partei in zweifacher Hinsicht für die Masse: ihr zum vermeintlichen Nutzen und an ihrer Stelle.


IV.   Stalin - Gewerkschaften als Instrument der Partei

Den geringen autonomen Aktionsradius, den Lenin zuletzt den Gewerkschaften belassen hat, schafft Josef Wissarionowitsch Stalin (*21.12.1879-†5.3.1953) bei der Durchführung des „sozialist. Aufbaus“ völlig ab. Die sog. Stalin-Verfassung von 1936 erwähnt zwar Gew. an erster Stelle der „gesellschaftlichen Organisationen“, eines Bündels von Verbänden, das Lenins Transmissionskonzept - zum bloßen Befehlssystem degeneriert - praktisch umzusetzen hat. Im selben Artikel wird der Befehlsgeber benannt: die KPdSU, die „den leitenden Kern aller Organisationen der Werktätigen, der gesellschaftlichen sowohl wie der staatlichen, bildet.“ Die Partei, an deren Spitze er bis zu seinem Tod unangefochten stand, als Befehlszentrum sämtlicher Sektoren des sowj. Gemeinwesens steht im Zentrum von Stalins Ordnungsvorstellungen. Ohne die KP sei die Arbeiterklasse „eine Armee ohne Stab“. Die Partei habe „alle wie immer gearteten parteilosen Organisationen der Arbeiterklasse (darunter die Gewerkschaften, U.G.) in Hilfsorgane und Transmissionsriemen zu verwandeln, die sie mit der Klasse verbinden.“ Es dürfe „keine einzige wichtige […] Frage durch unsere Sowjet- und andere Massenorganisationen ohne leitende Weisungen der Partei entschieden“ werden. Stalin fragt: „Stehen wir etwa auf dem Standpunkt der Unabhängigkeit unserer Gewerkschaftsverbände: der Staat sei eins, die Gewerkschaftsverbände aber seien etwas ganz anderes? Nein, auf einem solchen Standpunkt stehen wir nicht […].“ Im Gegenteil: „Wer da glaubt, unsere Gewerkschaftsverbände könnten sich keine staatlichen Aufgaben stellen“, gleite auf eine Position ab, die „wir […] nicht einnehmen (können).“ Des - auch nur potenziell oppositionellen - gewerkschaftlichen Führungspersonals entledigt sich Stalin gewaltsam. Letzten Endes versetzt er Gewerkschaften theoret. wie praktisch in ein gefügiges Partei- und Staatsinstrument ohne autonome Handlungsbefugnis.


V.   Gewerkschaften im „realen Sozialismus“ der DDR

Die „Klassiker“ des Marxismus-Leninismus offerieren also zahlreiche, durchaus widersprüchliche Facetten für die ideolog. Grundlagen des FDGB in der SBZ und DDR. Welcher er sich bedienen würde, liegt aufgrund der Zeitumstände nahe. Dies legt das offiz. FDGB-Organ 1953 auch offen: „Marx und Engels wirkten in der Periode des aufsteigenden Kapitalismus. Sie legten vor allem die Grundsätze der Gewerkschaftsarbeit fest, die für diese Periode Gültigkeit hatten. Lenin und Stalin setzten das Werk von Marx und Engels fort und halfen den Gewerkschaften, ihre Aufgaben in der Epoche des Imperialismus und der proletar. Revolution zu lösen. Sie formulierten die gew. Aufgaben bei der Errichtung und Festigung der Diktatur des Proletariats und beim Aufbau des Sozialismus.“ Wie bedeutungslos Marx' und Engels' Schrifttum für den FDGB sein würde hatte, zeichnet sich hierin bereits ab. Der FDGB greift auf Lenins Gedanken zurück, zu jener Zeit selbstverständlich in der Stalinschen Interpretation. Diese Variante übernimmt von Marx und Engels nahezu gar nichts und von Lenin nur das ihr Gefällige. Doch das Zitat entstammt schon Stalins Todesjahr. Wird der FDGB wenigstens später noch „dem vollen Lenin“ gerecht? Beim gescheiterten Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 zählt er noch zu den Hauptattackierten. Während der erfolgreichen friedlichen Revolution 1989 wird sich fast niemand mehr für ihn interessieren. Zufall?
Nach der Niederschlagung der 1953er Erhebung trug die FDGB-Führung eine Doppelstrategie aus Bestrafung und Beschwichtigung mit. Danach kehrte in der zweiten Hälfte der 50er Jahre relative Ruhe um den FDGB ein - auf beiden Seiten haben der Aufstand und sein Resultat die Lageerkenntnis verschärft: Einerseits war die FDGB-Führung bemüht, ihre leninist.-stalinist. Gewerkschaftsaufgaben feinfühliger unter die Werktätigen zu tragen; andererseits wussten die FDGB-Mitglieder (vgl. Mitgliederentwicklung und -struktur), dass weder am FDGB noch an seinem Umfeld sich kurz- und mittelfristig etwas wandeln würde. Wenn man nicht in die Bundesrepublik floh, wurde widerwillige Duldung zur beherrschenden Einstellung gegenüber dem FDGB-Verhalten (vgl. Widerstand und Opposition). Nach dem Mauerbau 1961 setzte die DDR-Führung Wirtschaftsstrukturreformen durch (vgl. Neues Ökonom. System der Planung und Leitung (NÖSPL)), während die SED-Ideologie Kurs auf eine überzogene gesellschaftspolit. Harmonie nahm. Der FDGB als „Klassenorganisation der Arbeiterklasse“ geriet zunächst betrieblich wie überbetrieblich an den Rand des Geschehens; als die SED fürchtete, ihr könne es ebenso ergehen, reaktivierte sie den FDGB in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts gegen die mächtig gewordene Wirtschafts- und Wissenschaftselite. Unter Erich Honecker (*25.8.1912-†29.5.1994) wurde zu Beginn der 70er Jahre der extreme Harmonismus zurückgedrängt. Konflikte des FDGB mit Betriebsleitungen galten nicht mehr als völlig ausgeschlossen, wenngleich selbst die arbeitsrechtliche Präzisierung der FDGB-Rolle (s.a Arbeitsgesetzbuch von 1977 = AGB) nichts daran änderte, dass der FDGB konfliktvorbeugend sowie partei- und staatstreu zu handeln hatte. Das Bemühen ging dahin, den FDGB etwa kraft seiner Mitwirkung an sozialpolit. Aktionen aus der Rolle als bloßer Planerfüller zu lösen. Darin schwang die Hoffnung mit, dass er eben diese Rolle umso effektiver ausfüllen würde. Nach anfänglichem gewerkschaftspolit. Elan der neuen SED-Spitze erstarten Position und Aufgaben des FDGB. Desinteresse überwog als Verhaltensweise der über Jahrzehnte apathisierten FDGB-Mitgliedschaft. Die FDGB-Mitglieder waren von effizienter Einflussnahme bzw. von Mit- und Selbstbestimmung schon innerorganisator. abgeschnitten: Das Organisationsprinzip des „demokrat. Zentralismus“ verlagerte die sachliche Entscheidungsfindung ausdrücklich in höhere FDGB-Gremien, errichtete sodann eine Weisungshierarchie und versetzte untere Organe sowie Mitgliedschaft in den Rang, Entscheidungen auszuführen. Auch bei Personalentscheidungen machten Kaderpolitik und die Art und Weise der „Gewerkschaftswahlen“ die FDGB-Mitgliedschaft zu einer ignorierbaren Größe. Der hauptamtliche Apparat konnte ungerührt vom Mitgliederwillen über die FDGB-Rechte verfügen. Zudem handelte auch dieser Apparat nicht autonom, sondern nach dem Willen der SED mit ihrem parallelen, übergeordneten Apparat. Überdies kooperierte der FDGB im gesamtgesellschaftlichen Interesse auf zahlreichen Feldern mit dem Staat (vgl. Stellung im polit. System), was die Vertretung individueller Mitgliederinteressen mehr als behinderte. Dies galt auch und gerade auf Betriebsebene, wo sich solch eine Kooperation auf die ohne FDGB-Mitwirkung vom Staat eingesetzten Betriebsleiter bezog. „Mitwirkung der Werktätigen“ an der Leitung der Betriebe - laut AGB FDGB-Aufgabe - schränkte betriebliche Herrschaftsausübung im Sinne effektiver Kontrolle kaum ein und diente schon gar nicht der Mit- oder Selbstbestimmung der DDR-Belegschaften. Eher führte die Mitwirkung betrieblicher FDGB-Organe zu ihrer Einbindung in den betrieblichen Herrschaftsapparat (vgl. Betrieb als Sozialisationsinstanz), von wo aus sie den Belegschaften als eine von mehreren Herrschaftsinstanzen gegenübertraten. Zudem standen selbst die kaum mitbestimmungsförderlichen Rechte von BGL, AGL usw. häufig auf dem Papier, werden rituell vollzogen und durch das Prinzip der Einzelleitung und die Interessenübereinstimmungs-Ideologie ausgehöhlt.
Treffend hat es 1980 der aus einer fundiert-marxist. Position heraus argumentierende Rudolf Bahro (*18.11.1935-†5.12.1997) ausgedrückt: Es habe „die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln […] keineswegs ihre Verwandlung in Volkseigentum bedeutet. Vielmehr steht die ganze Gesellschaft eigentumslos ihrer Staatsmaschine gegenüber.“ Das „Volkseigentum“ war eine abstrakte Behauptung ohne Konsequenzen für die Rechte der angeblichen Eigentümer: Sie hatten auf die Verwendung der Produktionsmittel einen ähnlichen Einfluss wie ein Wehrpflichtiger auf die Berufung der Generalität. Auch der FDGB ermöglichte dem Volk keine Verfügungsgewalt über „sein“ Eigentum. Seine betrieblichen Organe waren keine Mit- oder gar Selbstbestimmungsinstrumente, sondern Agenturen der übergeordneten Organe und damit von Partei und Staat.
Richtig ist aber, dass es der FDGB nicht mehr mit privaten Produktionsmittelbesitzern - Unternehmern - zu tun hatte. Dass deren Rolle vom Staat bzw. der Partei übernommen worden war, die zudem monopolist. die polit. Macht ausübte, konnte aber - selbst nach Lenin - nicht heißen, dass Gewerkschaften als Vertreter der Arbeiterschaft Konflikte nicht mehr auszutragen gehabt hätten. Die Verfügungsberechtigung über die Gesamtheit der Produktionsmittel lag in der DDR formell beim Staat, materiell bei der wiederum über den Staat verfügenden SED bzw. deren Führungsgruppe. Für Kombinate und Betriebe war die Verfügungsgewalt auf die jeweiligen Leiter übertragen. Dort - so schrieb die Wirtschaftswissenschaftlerin Eva Altmann (SED; *17.12.1903-†1.3.1991) schon 1956 - fielen „Entscheidungen, die praktisch die Wahrnehmung von Funktionen der Gesellschaft als Eigentümer der Produktionsmittel darstellen“. Unwidersprochen und bis 1989 gültig blieb ihre Kritik, „dass wir in den Betrieben noch nicht jene Formen der Einflussnahme der Arbeiterklasse entwickelt haben, […] die den Arbeitern ihre neue Stellung im Betrieb unmittelbar durch die eigene Erfahrung bewusst werden lassen.“ Noch in den 80er Jahren war zu lesen - herausgegeben von der Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED (!) - es könne „sich das Gefühl bei den Betriebsangehörigen verstärken, dass der eigene Einfluss auf betriebliche und gesellschaftliche Prozesse sehr gering ist.“ Dieses Gefühl existierte - und zwar zu Recht.
Michail Gorbatschow hielt es für „naiv, wollten wir uns vorstellen, das Gefühl, Herr im eigenen Lande zu sein, könne einem durch Worte anerzogen werden. Die Einstellung zum Eigentum wird vor allem durch jene realen Bedingungen geformt, in die der Mensch versetzt worden ist, durch die Möglichkeiten seiner Einflussnahme auf die Organisation der Produktion, auf die Verteilung und Nutzung der Arbeitsergebnisse […] Man kann nicht Herr im Lande sein, ohne sich in seinem Werk oder seinem Kolchos, in seiner Abteilung oder in seiner Farm als wahrer Herr zu fühlen.“
Es hat zu Zeiten des FDGB zwei Versuche gegeben, Eigentümerbewusstsein nicht nur abstrakt, sondern über konkrete Mitbestimmung am Arbeitsplatz herzustellen: die Betriebsräte von 1945 bis 1948 und die „Arbeiterkomitees“ zwischen 1956 und 1958. Bezeichnenderweise ist beides am FDGB vorbeigelaufen und schließlich von oben her unterbunden worden. Mit- oder gar Selbstbestimmung der Werktätigen im Marxschen Sinne sowie ihr daraus abzuleitendes Eigentümerbewusstsein waren kein Systemziel der „sozialist.“ DDR. Man kam - scheinbar - ohne aus.
Die ideolog. Positionierung des FDGB war dafür mitverantwortlich. Statt ohne ihn oder anhand seiner inneren Demokratisierung den Werktätigen Mitbestimmungserfahrungen zu bieten, bemühte man sich, mit seiner Hilfe zum „richtigen Bewusstsein“ zu erziehen. Nicht, wie behauptet wurde, die Eigentümerrolle der Produzenten war Grund für arbeitsmobilisierende Tätigkeiten des FDGB; vielmehr gab es keine Eigentümerrolle und folglich auch kein Eigentümerbewusstsein der Werktätigen, das zu freiwilliger Arbeitsdisziplin geführt hätte - der FDGB bemühte sich kraft seiner Arbeitsmobilisierungsfunktion nur um Ersatz.
Wenn das Volkseigentum Fiktion war, erging es der daraus abgeleiteten Übereinstimmung von persönlichen, kollektiven und gesellschaftlichen Interessen nicht anders. Solch eine Behauptung führte zu einer den tatsächlichen Herrschaftsverhältnissen unangemessenen Armut direkter Interessenvertretung und Konfliktaustragung durch den FDGB. In seinem Handeln dominierte die Durchsetzung gesellschaftlichen Interesses. Dies war nicht die Bündelung der Einzelinteressen, sondern wurde von der SED „wissenschaftlich“, d.h. unabh. vom empir. Bevölkerungswillen, bestimmt. Interessen sind aber subjektiv bewusst gewordene Bedürfnisse; abgehoben von und unter Umständen gegen individuelles Wollen „objektive“ Interessen durchzusetzen, besaß weder Legitimation noch Aussicht auf Erfolg.
Die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit schied in der DDR als betriebliche Konfliktursache aus. Es gibt darüber hinaus aber einen prinzipiellen Gegensatz zwischen Leitern und Geleiteten, den auch der FDGB nicht dadurch ausgleichen konnte, dass beide Gruppen seine Mitglieder waren. Er verdeckte diesen Gegensatz allenfalls, etwa mit der Behauptung, es würden „im Sozialismus jene Werktätigen, die keine unmittelbare Leitungsfunktion innehaben, nicht von der Verfügungsgewalt über das gesellschaftliche Eigentum ausgeschlossen.“ Als „Beweis“ musste etwa die Plandiskussion herhalten. Aber auch hierbei wurden die Werktätigen lediglich unverbindlich hinzugezogen; von Verfügungsgewalt konnte keine Rede sein, die letzte Entscheidung trafen Zentralinstanzen.
Dies war in einem parteidiktator. System mit zentraler Planwirtschaft gar nicht anders möglich: Die Notwendigkeit, den Willen der Partei zu vollziehen und den von ihr als gesellschaftliches Interesse definierten Zentralplan aufzustellen und zu erfüllen, verbat eine ungelenkte Mitwirkung der Werktätigen. Hätte es effektive Mitbestimmung und freie Initiative gegeben, könnte das allzu leicht die Parteiherrschaft und den Planungsrahmen gesprengt haben. Statt des für unabdingbar gehaltenen und von der Partei gesteuerten Ineinandergreifens der verschiedenen Elemente ihres Ordnungssystems wäre ein unüberwachtes Kräftespiel entstanden. Der FDGB war ein Faktor der Lenkung der Gesellschaft - eine Rolle, aus der ihn die SED nicht entlassen wollte und konnte.
Dies hat anfangs zu schwerwiegenden innerorganisator. Spannungen geführt - vorwiegend zwischen höheren FDGB-Funktionsträgern und der FDGB-Basis, bestehend aus Mitgliedschaft und unterem Funktionärskörper. Die spektakulärste Offenlegung des gewerkschaftlichen Funktionszwiespalts war der Aufstand vom 17. Juni 1953. Danach verschwand der Zwiespalt nicht, wurde aber systemat. geleugnet. Im FDGB sollten unter dem Dach einer Organisation Teilinteressen und Gesamtinteresse Platz finden. Vorrang besaß das Gesamtinteresse, in das der FDGB die Teilinteressen zu integrieren hatte. Das Gesamtinteresse spiegelte der Verpflichtung des FDGB auf das Erreichen höchster Produktionsziele wider. Hierin bestand Einklang mit der Betriebsleitung. Dieser entfiel, wenn es um die Wahrnehmung von Teilinteressen ging, die nicht unbedingt produktionsfördernd waren. Hatten solche Teilinteressen schon innerorganisator. einen problemat. Stellenwert im FDGB, so kam es bei ihrer Vertretung nach außen zu noch größeren Schwierigkeiten.
So näherte sich der FDGB ideolog. nie dem „vollen Lenin“ an. Dessen Auffassung, Gewerkschaften müssten im Sozialismus in Gegnerschaft zu bürokrat. Auswüchsen des Staates gehen und hierfür unter Umständen sogar streiken, war in der gewerkschaftlichen DDR-Literatur stets ein Tabu und kam auch in keiner Weise in der Stellung des FDGB im polit. System bzw. im Wirtschaftssystem zum Ausdruck. Selbst beim Umbruch 1989/90 hat dies keine Rolle gespielt.

Ulrich Gill


Lit.: N. Lenin/G. Sinowjew u.a., Ueber die Rolle und Aufgaben der Gewerkschaften (Russische Korrespondenz, Heft 3 / 4, 1921). - J.W. Stalin, Werke, 1951. - K. Helbig, Marx und Engels zu einigen Fragen der Gewerkschaften (Die Arbeit, Heft 3, 1953). - E. Altmann, Über die demokratischen Rechte der Arbeiter in den sozialistischen Betrieben (Einheit, Heft 12, 1956). - K. Marx/F. Engels, Werke, 1962. - U.-J. Heuer, Demokratie und Recht im neuen ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, 1965. - F. Kool/E. Oberländer (Hg.), Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur (Dokumente der Weltrevolution, Bd. 2), 1967. - W.I. Lenin, Ausgewählte Werke in sechs Bänden, 1970. - R. Dutschke, Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen. Über den halbasiatischen und den westeuropäischen Weg zum Sozialismus, 1974. - R.N. Berlinger, Die Gewerkschaften in der Theorie von Marx und Lenin. Grundlagen für eine immanente Kritik des FDGB, 1976. - R. Bahro, Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, 1980. - P. Kroh u.a., Wie steht es um die Arbeitsdisziplin?, 1983. - M.S. Gorbatschow, Politischer Bericht des ZK der KPdSU an den XXVII. Parteitag der KPdSU (Presse der Sowjetunion, Sonderheft 3, 1986). - U. Gill, Der FDGB. Theorie - Geschichte - Organisation - Funktionen - Kritik, 1989.