FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Mitbestimmung. Die meisten modernen Industriegesellschaften garantieren den abhängig Beschäftigten in ihrer Verfassung das Recht auf M., d.h. aktiv Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse, die Leitung der Unternehmen und Betriebe sowie die Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik des Staates zu nehmen. In der DDR, die sich als eine moderne Industriegesellschaft verstand, gingen die Vertreter des Marxismus-Leninismus allerdings davon aus, dass es die für den Kapitalismus charakterist. antagonist. Widersprüche und Konflikte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern nach Überführung der meisten Produktionsmittel in Volkseigentum nicht mehr gebe und folglich auch keine traditionelle M. mehr notwendig sei, wie sie von der organisierten Arbeiterbewegung seit dem Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert erkämpft worden war. Mit Blick auf das Postulat der gesamtgesellschaftlichen Interessenidentität wurde sie als überholt, mit Blick auf das gültige Herrschaftsprinzip des demokrat. Zentralismus sogar als hinderlich betrachtet. Allenfalls in der noch verbliebenen Privatwirtschaft sollte es sie weiterhin geben. In der volkseigenen Wirtschaft dagegen wurden die Beschäftigten nun offiz. als werktätige Miteigentümer am Volkseigentum betrachtet, die nicht etwa nur ein Recht auf M. beanspruchen durften, sondern allgemeine Mitverantwortung für die Planung und Leitung der Betriebe und die Verbesserung der eigenen Arbeitsbedingungen tragen sollten.
Die propagandist. auf gesamtdeutsche Wirkung ausgerichtete Verfassung der DDR von 1949 versprach den Arbeitern und Angestellten zwar noch ganz im traditionellen Sinne eine „maßgebliche M.“ bei der „Regelung der Produktion sowie der Lohn- und Arbeitsbedingungen in den Betrieben“, doch bestand zwischen dieser Verfassungsnorm und der gesellschaftlichen Realität bereits eine große Diskrepanz. Im Gesetz der Arbeit (1950) hieß es dann wenige Monate später ganz offen und apodikt., das Recht der Arbeiter und Angestellten zur M. werde künftig von den „demokrat. staatlichen Organen“ verwirklicht; alleiniger „gesetzlicher Vertreter“ der Beschäftigten sollte künftig der FDGB sein. Im Gesetzbuch der Arbeit (GBA) von 1961 war von M. schließlich überhaupt keine Rede mehr, nur von Mitwirkung.
Erst die Verfassung der DDR von 1968 nahm den Begriff der M. wieder auf. Im Kern sollte sie nun darin bestehen, auf die Einsetzung der gesellschaftlichen Machtorgane im Rahmen des demokrat. Zentralismus Einfluss zu nehmen, ihren Beschlüssen Folge zu leisten und von ihnen regelmäßig Rechenschaft zu fordern. In den nach dieser Verfassungsänderung erlassenen Gesetzen und Verordnungen sowie Dokumenten des FDGB tauchte der Begriff M. häufiger auf, allerdings ohne genauere Definition und Abgrenzung. Es war das kurz nach dem westdeutschen Mitbestimmungsgesetz von 1976 verabschiedete Arbeitsgesetzbuch der DDR (AGB) von 1977, das erstmals systemat. zwischen den Mitbestimmungs- und den Mitwirkungsrechten des FDGB als einzigem gesetzlichen Vertreter der Werktätigen unterschied: Die Rechte zur M. bezogen sich dabei vor allem auf die gesamtgesellschaftliche und volkswirtsch. Ebene und nur in geringem Umfang auch auf die betriebliche Ebene, die Rechte zur Mitwirkung dagegen ganz überwiegend auf die betriebliche Ebene.
Auf betrieblicher Ebene kam M., die in diesem Falle auch als betriebliche Mitwirkung mit ausdrücklicher Entscheidungsträgerschaft durch die Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) beschrieben werden kann, nur in zwei Bereichen zum Tragen: lediglich die Mittelverwendung der leistungsstimulierenden betrieblichen Fonds sowie die Aussprache einer Kündigung war zustimmungspflichtig durch die BGL. Wesentlich umfangreicher fielen die Rechte zur betrieblichen Mitwirkung ohne Entscheidungsträgerschaft aus. M. im Bereich der Volkswirtschaft sollte darin zum Ausdruck kommen, dass der FDGB erstens an der Vorbereitung und Ausarbeitung der Volkswirtschaftspläne beteiligt war, zweitens mit Ministerien und wirtschaftsleitenden Organen Vereinbarungen zur Regelung der Arbeits- und Lebensbedingungen, darunter die sog. Rahmenkollektivverträge (RKV), abschließen konnte, drittens eigenverantwortlich die Sozialversicherung verwaltete und viertens an der Arbeitsrechtsprechung durch die Kammern für Arbeitsrecht der Kreisgerichte teilhatte. M. auf gesamtgesellschaftlicher Ebene sollte darin zum Ausdruck kommen, dass der FDGB erstens als Massenorganisation der SED an den allgemeinen Einheitslistenwahlen teilnahm und eigene Abgeordnete in die Volksvertretungen entsandte (vgl. Volkskammerfraktion), zweitens ein Initiativrecht für die Gesetzgebung zur Gestaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen besaß und drittens bei der Besetzung staatlicher Ämter berücksichtigt wurde.
Diese Art von offiz. M. des FDGB in den Betrieben sowie in Wirtschaft und Gesellschaft hatte mit autonomer M. im traditionellen Sinne kaum noch etwas zu tun, denn der FDGB war keine unabhängige Interessenvertretung seiner Mitglieder mehr, sondern eine von der SED abhängige Massenorganisation.
F.S.