FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Säuberungen. S. gehören zum festen Bestandteil einer marxist.-leninist. Partei. Der aus dem Russ. kommende Begriff ist eine euphemist. Umschreibung für die systemat. Entfernung solcher Personen aus Apparat und Organisation, die aus Sicht der Führung von der gerade gültigen Linie abweichen. S. wurden meist in einer geradezu „hysterischen“ Atmosphäre durchgeführt. Sie konnten einzelne Teile des Apparates betreffen oder auch die gesamte Organisation. Die Folgen für die „Gesäuberten“ waren recht unterschiedlich, reichten in der SBZ/DDR vom reinen Funktionsverlust über berufliche Benachteiligungen bis hin zu schweren strafrechtlichen Maßnahmen. Mit den S. verfolgte die SED-Führung einen doppelten Zweck: Einerseits sollten dissidente Personen ausgeschlossen oder aus Funktionen entfernt werden. Zugleich wurde mit den S. der „Nachweis“ feindlicher Tätigkeit in den eigenen Reihen erbracht und damit die Notwendigkeit unterstrichen, gegenüber allen Abweichungen wachsam zu sein. Zudem wirkten das schroffe Karriereende oder gar strafrechtliche Folgen disziplinierend auf verbleibende Funktionäre und die Mitgliedschaft. Nicht zuletzt waren S. ein Mittel der Kaderpolitik.
Auch im FDGB wurden S., vor allem Ende der 40er und in den 50er Jahren, von der SED mit Unterstützung der SMAD genutzt, um jegliche Form von Widerstand und Opposition zu bekämpfen. Die S. im FDGB wurden meist parallel zu solchen in der SED durchgeführt und von entsprechenden Kampagnen begleitet. Da zudem ein Großteil der Gewerkschaftsfunktionäre SED-Mitglieder waren, wirkten sich die S. in der SED mittelbar auch auf den FDGB aus, da in Parteiverfahren „Gesäuberte“ meist auch ihre Funktionen im FDGB verloren, insbesondere ab 1951, als nach der S. des SED-Apparates auch die einfachen Mitglieder überprüft wurden. Obwohl der FDGB gerade nicht als kommunist. Richtungsgew. in der Tradition der Revolutionären Gewerkschaftsopposition/-organisation (RGO) gegründet wurde, sondern der Gründungsaufruf die neue Gew. als alle polit. Strömungen umfassende Einheitsgew. auswies, war der FDGB doch von Anfang an kommunist. dominiert. Nichtsdestoweniger gab es in den ersten Jahren starke Einflüsse von Christdemokraten und vor allem Sozialdemokraten im FDGB. Die Versuche der SED, diese Einflüsse zurückzudrängen und schließlich völlig auszuschalten, können als erste S. im FDGB begriffen werden. Zunächst waren diese Versuche, linientreue Funktionäre durchzusetzen und renitente zu verdrängen, noch relativ unsystematisch. Ziel war vor allem, die Schwerpunktverlagerung in der Arbeit des FDGB, weg von einer Interessenvertretung der Arbeitnehmer hin zu einem Instrument von SED und SMAD zur Arbeitsmobilisierung und zur Planerfüllung möglichst reibungsfrei durchführen zu können. Nach der Bitterfelder Konferenz Ende 1948 wurden dann von der SED Richtlinien für eine Kaderpolitik im FDGB geschaffen, die die „führende Rolle“ der SED auch im FDGB sicherstellen sollten. Der Apparat sollte verjüngt und verstärkt Frauen als Funktionäre geworben werden, um gew. Traditionen verhaftete und erfahrene Gewerkschafter an den Rand zu drängen. Mitglieder anderer Parteien waren, anders als in der Gründungsphase, jetzt nicht mehr als Ausweis der angeblichen Überparteilichkeit in besonderer Weise zu berücksichtigen. Zudem sollte das Schulungswesen als Mittel der Ideologievermittlung und Erziehung ausgebaut werden. Der Kampf wurde unter den Parolen des Kampfes gegen das „Nurgewerkschaftertum“ und den „Sozialdemokratismus“ geführt. Bei den Gewerkschaftswahlen 1952/53 mussten dann 65% der alten Gewerkschaftsfunktionäre neuen Kadern weichen. In den Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL) waren 1953 sogar 71,4% aller gewählten Funktionäre neu in ihrer Funktion. Ergebnis dieser starken Fluktuation war, dass kaum noch erfahrene Gewerkschafter, ehemalige Sozialdemokraten, Christdemokraten sowie Liberale in gewerkschaftlichen Funktionen waren, Vertreter letzterer beider Richtungen waren allerdings, von regionalen oder branchenspezifischen Ausnahmen abgesehen, auch vorher nicht sonderlich stark. Gleichzeitig stieg der Anteil der Parteilosen im FDGB an, je niedriger die Hierarchieebene, um so mehr. Der Anteil der parteilosen Funktionäre in den Abteilungs- und Betriebsgewerkschaftsleitungen lag 1952/53 bei 67,2%. Im FDGB-Bundesvorstand (BuV) waren aber 1953 bereits 96% der polit. Mitarbeiter SED-Mitglieder. Nachdem aus Sicht der SED der FDGB vor und während des Arbeiter- und Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 total versagt hatte, kam es erneut zu S. im FDGB. Nun ging es gegen jene Gewerkschafter, die während des Aufstandes nachgaben, wankelmütig wurden oder sich gar auf die Seite der Streikenden schlugen. Spätestens jetzt wurden die Einzelgew. im FDGB völlig gleichgeschaltet.
Obwohl die Transformation des FDGB von einer Gew. im traditionellen Sinn zu einer reinen Massenorganisation der SED Anfang der 50er Jahre im Wesentlichen abgeschlossen war, gab es auch später noch S. In der Folge der Krisen in Polen und Ungarn 1956 wurden auch in DDR-Betrieben Forderungen nach mehr Möglichkeiten betrieblicher Mitwirkung erhoben, etwa durch Arbeiterräte. Parallel zu Machtkämpfen in der SED-Führung kam es nun auch wieder zu S. im FDGB. Deren Führung ging jetzt gegen Funktionäre vor, die angeblich „neutralistische“ und „revisionistische“ Positionen bezogen hatten. Jenen Funktionären wurde vorgeworfen, sie hätten sich passiv verhalten angesichts der Versuche, „die Gewerkschaften von der Partei des Sozialismus zu trennen“. Betroffen waren nun vor allem die IG Metall, die IG Chemie und Gewerkschaft Land und Forst. Insgesamt waren es einige hundert Funktionäre, die in diesem Zusammenhang im FDGB ihre Funktionen aufgeben mussten. Ende der 50er Jahre gab es unter dem Slogan des Kampfes gegen das „Nurgewerkschaftertum“ noch einmal S. größeren Ausmaßes, von der Betriebs- bis in die Leitungsebene. Schätzungsweise wurden ein Drittel aller hauptamtlichen Funktionäre der Bezirksvorstände von ihren Funktionen entbunden. Auf dem 5. FDGB-Kongress 1959 wurden 199 Mitgl. des Bundesvorstandes (BuV) gewählt, wobei von den bis dahin 155 Mitgl. des BuV 95 nicht in ihrer Funktion bestätigt wurden, 70% waren also neu. Auf der 1. Sitzung dieses neuen BuV wurden von 32 Vollmitgliedern oder Kandidaten des Präsidiums des BuV 21 nicht wieder berufen. Im Sekretariat des BuV behielten von den 10 Sekretären nur 3 ihre Posten.
Eine von SED und FDGB-Führung ungewollte S. des FDGB wurde während der 50er Jahre und insbesondere zu deren Ende durch die Massenflucht aus der DDR in den Westen Deutschlands erreicht, waren unter den Flüchtenden doch auch hunderttausende FDGB-Mitglieder. Die Flucht wurde von SED und FDGB als „Verrat an der Arbeiterklasse und am sozialist. Aufbau“ gebrandmarkt und auf eine systemat. Abwerbung durch den Klassenfeind (vgl. Klassenkampf ) zurückgeführt und konnte schließlich nur durch den Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 eingedämmt werden. Systemat. und umfassende S. waren in den folgenden Jahren nicht mehr notwendig.
S.K.