FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Ungarn 1956. Die Revolution in U. 1956 stellte eine der schwersten Systemkrisen in den sozialist. Staaten dar. Von der Krise in Polen 1956 unterschied sie sich nicht nur durch die bewaffneten Kämpfe mit der sowj. Armee, sondern auch in ihren außenpolit. Zielen, die auf die Rückgewinnung der ungar. Souveränität, den Abzug der sowj. Truppen und den Austritt aus dem Warschauer Pakt gerichtet waren. In Polen wie in Ungarn spielten Arbeiterräte eine besondere Rolle.
Am 14. November bildete sich der „Zentrale Arbeiterrat von Groß-Budapest“. Er wurde geführt von Sándor Rácz (*17.3.1933) und entwickelte sich zu einer Gegenmacht zur Regierung János Kádár (*26.5.1912-†6.7.1989). Die in Moskau im Exil befindlichen ungar. Stalinisten schrieben am 18. November an das sowj. Politbüro: „Die Arbeiterräte stellen gegenüber der Regierung beinah eine zweite Macht dar“. Kádár versuchte zunächst, ihre Rolle auf die betriebliche Interessenvertretung einzugrenzen, vermied im Unterschied zu Gomulka in Polen die geforderte gesetzliche Anerkennung. Die Regierung bot Rácz an, drei Mitglieder des Zentralen Arbeiterrates in die Regierung aufzunehmen. Rácz lehnte dieses Ansinnen nicht nur ab, sondern fragte: „Wann ziehen die sowj. Truppen ab, wann kehrt Imre Nágy (*7.6.1896-†16.6.1958) in die Spitze der Regierung zurück, und wann werden die Arbeiterräte gesetzlich anerkannt?“ Am 23. November erfolgte seitens der Regierung die Anerkennung des Arbeiterrats. Aber bereits am 9. Dezember wurde der Budapester Arbeiterrat zusammen mit allen regionalen Arbeiterräten verboten. Anlass war der erfolgreiche Aufruf des Zentralen Arbeiterrates zu einem Generalstreik als Protest gegen das Blutbad von Salgotarjan. In dieser nordungar. Stadt richteten am 8. Dezember ungar. Sicherheitskräfte und sowj. Einheiten unter Demonstranten ein Blutbad an. Es gab 131 Tote und ungefähr 150 Verwundete. Rácz wurde verhaftet und zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt, nach der Begnadigung wurde er bis 1989 von der Staatssicherheit beobachtet.
Der Verlauf der ungar. Krise beunruhigte noch stärker als der polnische Oktober SED und FDGB. Offenkundig lag in Polen wie in Ungarn das gravierendeste Problem der dortigen Gewerkschaften in der mangelnden betrieblichen Interessenvertretung der Arbeiter durch die Massenorganisationen.
In einer internen Studie über die ungar. Gewerkschaften suchte der FDGB die Frage zu ergründen, wie es soweit kommen konnte. Das Referenzmodell für diese Arbeit waren die eigenen Erfahrungen um den 17. Juni 1953. Konstatiert wurde auch für die DDR eine unzureichende Interessenvertretung der Arbeiter in den Betrieben bei Verstößen „gegen die Sozialgesetze und die Rechte der Werktätigen“ seitens der Werkleitungen. Auslöser für die Fehlentwicklung oder das Versagen der ungar. Gewerkschaften in der „Konterrevolution“ waren für die FDGB-Funktionäre die Beschlüsse der ZK-Tagung der Partei der Ungarischen Werktätigen (so hieß die kommunist. Partei) vom Juni 1956, mit denen den Gewerkschaften größere Rechte zugestanden und zugleich größere Pflichten zugewiesen werden sollten. Ebenso wie am 17. Juni 1953 in der DDR blieb der Apparat der ungar. Gewerkschaften während der Zeit der „Konterrevolution“ intakt. Aber die in den Betrieben gebildeten „Arbeiterräte“ unterliefen in der Praxis die Zuständigkeit der Gewerkschaften. „Die Konterrevolution sah zur Festigung der Macht unter den Arbeitern ihre Hauptaufgabe in der Bildung der Arbeiterräte“, so der FDGB-Bericht, und er fügte hinzu, dass ideolog. nicht gefestigte Funktionäre Forderungen nach einem Streikrecht im Sozialismus sowie nach von der Partei „unabhängigen Gewerkschaften“ erhoben hätten.
Ende Oktober 1956 spitzte sich die Situation in den Betrieben der DDR zu und es kam zu Streiks und der Androhung von Streiks in Großbetrieben. Um die Kommunikation mit den Arbeitern zu verbessern, schlug nun die Partei- und Staatsführung vor, die Rechte der Arbeiter im Betrieb zu erweitern, wobei SED-Chef Walter Ulbricht von vornherein klarstellte, dass dies nichts mit „Autonomie oder gar Selbstverwaltung der Betriebe“, wie sie in Polen diskutiert wurde, zu tun habe. Der FDGB-Vorsitzende Herbert Warnke positionierte sich ebenfalls in dieser Frage. Er räumte erhebliche Probleme bei der Interessenvertretung der Arbeiter in den Betrieben ein und sprach sich deshalb für „Arbeiterkomitees“ aus, für die er als klangvollen Namen den der 1948 aufgelösten „Betriebsräte“ vorschlug. Der Vorschlag wurde von ihm auch mit Blick auf Westdeutschland gemacht: „Die Rechte der Betriebsräte in Westdeutschland sind bekanntlich sehr beschränkt, und eine Hauptforderung des Aktionsprogramms des DGB ist die auf Erweiterung der Mitbestimmungsrechte. Wir würden diesen Kampf durch die Schaffung eines solchen Organs und unter diesem Namen wesentlich unterstützen“. Das SED-Politbüro beschloss die Einführung von „Arbeiterkomitees“ als Modellversuch und begrenzte sie auf zwanzig ausgewählte Betriebe. FDGB-Funktionäre befürchteten jedoch, dass damit das Vertretungsmonopol der Massenorganisation gerade in den Betrieben in Frage gestellt würde. Da zudem ihr Status zwischen Betriebsleitung, BGL und BPO niemals geklärt wurde, blieb das Experiment in seinen Anfängen stecken. 1958 wurden die „Arbeiterkomitees“ wieder aufgelöst. An ihre Stelle traten die ständigen Produktionsberatungen.
M.W.