Polen 1956. Drei Jahre nach dem 17. Juni 1953 kam es am 28.6.1956 in Posen zu einem Streik der Arbeiter der Stalinwerke. Es ging um höhere Löhne und um bessere Versorgung. Der Protest der Arbeiter nahm sehr schnell einen ausgesprochen antisowj. Charakter an. Im Verlauf der dem Protest folgenden Straßenkämpfe, in denen die Staatsmacht mehr als 10 000 mit Panzern ausgerüstete Soldaten aufbot, starben 74 Menschen und einige 100 wurden verletzt. Wie 1953 in der DDR, wurden auch, beginnend im September, in Polen Prozesse gegen Provokateure durchgeführt und die Angeklagten zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt.
Im Unterschied zur DDR konnte die Lage nicht befriedet werden. Bis zum Ende des Sommers entstanden in vielen Großbetrieben Arbeiterräte zur Selbstverwaltung der volkseigenen Betriebe. Unterstützt von Teilen der Partei und mit ihr verbundener Intellektueller trat diese Selbstverwaltungsbewegung dafür ein, dass die Belegschaften die reale Kontrolle über die Tätigkeit der Betriebe übernehmen.
Die Systemkrise in Polen führte im Oktober zu Veränderungen an der Spitze der PVAP. Eine der ersten Handlungen des neuen PVAP-Chefs Wladyslaw Gomulka (*6.2.1905-†1.9.1982) war eine Neubewertung des Streiks in Posen. Zuvor war er, wie in der DDR der 17. Juni, in der offiz. Propaganda als Werk ausländ. Agenten diffamiert worden. Gomulka trat dieser Lüge schroff entgegen: Der plumpe Versuch, die schmerzliche Posener Tragödie als das Werk imperialist. Agenten und Provokateure hinzustellen, war wirklich polit. sehr naiv. Überall und immer können Agenten und Provokateure wirken, aber nirgends und niemals können sie die Haltung der Arbeiterklasse bestimmen. Wenn Agenten und Provokateure in der Lage gewesen wären, die Arbeiterklasse zur Aktion zu inspirieren, hätten die Feinde Volkspolens, die Feinde des Sozialismus, eine viel leichtere Aufgabe und könnten leichter ihre Ziele erreichen. Aber so ist es nicht. Gomulka ging noch einen Schritt weiter. Er rechtfertigte das Vorgehen der Arbeiter mit den Fehlern der Partei und zeigte Verständnis für Streiks als der Waffe der Arbeiter: Die Arbeiterklasse hat kürzlich der Parteiführung und der Regierung eine schmerzhafte Lektion erteilt. Als die Posener Arbeiter am >Schwarzen Donnerstag< im Juni die Waffe des Streiks ergriffen und auf den Straßen demonstrierten, haben sie mit lauter Stimme gerufen: Genug! So kann es nicht weitergehen! Macht auf diesem Weg kehrt! Die Arbeiterklasse hat niemals gedankenlos zum Streik als einer Waffe zum Kampf für ihre Rechte gegriffen. Besonders jetzt in Volkspolen, das im Namen der Arbeiter und im Namen der arbeitenden Menschen regiert wird, ist dieser Schritt nicht gedankenlos getan worden. Es ist offensichtlich, dass diese Aktion entstellt worden ist, und man kann niemals etwas ungestraft entstellen. Die Posener Arbeiter haben nicht gegen Volkspolen demonstriert, nicht gegen den Sozialismus, als sie auf die Straße gingen. Sie protestierten gegen das Böse, das sich in unserer Gesellschaftsordnung breit machte und sie quälte, gegen die Entstellungen der Grundprinzipien des Sozialismus, der ihre Idee ist. Die Arbeiterklasse verbindet mit der Idee des Sozialismus alle Hoffnungen für ein besseres Leben. Nach der gewaltsamen Niederschlagung der ungar. Revolution konnte Gomulka die Macht der PVAP wieder befestigen. Zu den sozial- und wirtschaftspolit. Zugeständnissen der PVAP an die Arbeiter gehörten die Erhöhung der Löhne und die Anerkennung der Arbeiterräte. Sie verloren aber bald jegliche Bedeutung.
Die Einrichtung der - allerdings nur kurzlebigen - Arbeiterkomitees in der DDR war eine Reaktion von SED und FDGB auf die Veränderung in der Organisation der betrieblichen Interessenvertretung in Polen und die Erfahrung mit den Arbeiterräten in der ungar. Revolution.
M.W.