FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Systemkrisen in den sozialistischen Staaten.

Inhalt:

I.      „Nationale Wege zum Sozialismus“ 1945-48

II.     Säuberungen 1949-52

III.    DDR 1953

IV.    Polen und Ungarn 1956

V.     DDR 1960/61

VI.    Tschechoslowakei 1968

VII.   Polen 1970-80/81

VIII.  Das Ende des sowjetischen Imperiums 1989/90

          Literatur


Durch den sowj. Sieg über das Deutsche Reich kamen in Europa Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Polen, die tschechoslowak. Republik und die eigene Besatzungszone in Deutschland in den sowj. Machtbereich. Die Transformation zu Sattelitenstaaten erfolgte durch Übertragung des bolschewist. Sozialismusmodells, das Machtmonopol der nationalen kommunist. Parteien wurde etabliert. Die Transformation vollzog sich in zwei Phasen:


I.   „Nationale Wege zum Sozialismus“ 1945-48

In der ersten Phase entstanden auf der Basis „nationaler Wege zum Sozialismus“ in allen Ländern Regierungen der „Nationalen Front“, die von den kommunist. Parteien kontrolliert wurden, um konkurrierende Parteien auszuschalten. Unter dem Slogan der „Aktionseinheit“ wurden die Sozialdemokraten polit. durch Fusion mit den Kommunisten in „Einheitsparteien“ eliminiert. In dieser Phase der Etablierung der Diktatur wurden die Gewerkschaften gezielt zum Träger der Volksdemokratie erhoben und in ihrer organisator. Struktur in Massenorganisationen der Kommunist. Partei umgewandelt. Welchen Stellenwert die Gewerkschaftsfrage in der sowj. Transformationsstrategie in der SBZ einnahm, verdeutlicht ein Informationsbericht von Wladimir S. Semjenow (*16.2.1911-†18.12.1992), polit. Berater der SMAD, an den sowj. Außenminister Wjatscheslaw M. Molotow (*9.3.1890-†8.11.1986) vom März 1946 über die Gründung des FDGB in der SBZ, in dem Semjenow die erfolgreiche Durchsetzung einer KPD-dominierten Führung hervorhebt. Auf diesem Gründungskongress verkündete Otto Grotewohl (*11.3.1894-†21.9.1964) die Bereitschaft der SBZ-SPD mit der KPD zur Sozialist. Einheitspartei Deutschlands (SED) zu fusionieren.
Durch die Umwandlung der Gewerkschaften in Massenorganisationen der Partei wurde ein Grundkonflikt zwischen den Kommunisten und den Arbeitern konstituiert, der sich in allen S. zeigen sollte. Da die Arbeitnehmer über keine eigene Interessenvertretung verfügten, waren die regierenden Kommunisten entweder mit Streikkomitees, Arbeiterräten oder der Forderung nach neuen eigenständigen Gewerkschaften konfrontiert. Das Ende dieser ersten Phase der Diktaturdurchsetzung kam 1948 mit dem beginnenden Kalten Krieg zwischen den beiden sich in Europa formierenden Blöcken.
In Prag übernahm die Kommunist. Partei die ungeteilte Macht und die kommunist. geführten Gewerkschaften beförderten die Machteroberung mit ihren Drohungen einen Generalstreik zugunsten der Regierung von Klement Gottwald (KPTsch; *23.11.1896-†14.3.1953) durchzuführen. Ein von ihnen einberufener Betriebsrätekongress lieferte die pseudo-demokrat. Kulisse für diesen Staatsstreich.
Im gleichen Jahr erklärte die sowj. Führung die „nationalen Wege zum Sozialismus“ zu Irrwegen. Nun galt allein das sowj. Vorbild (vgl. sowj. Referenzmodell). Hintergrund war der Bruch der von Josip B. Tito (*7.5.1892-†4.5.1980) geführten jugoslaw. Kommunisten mit Josef W. Stalin (*21.12.1879-†5.3.1953) und das Ausscheren Jugoslawiens aus dem sowj. Machtbereich.


II.   Säuberungen 1949-52

In den kommunist. Parteien begann eine neue Phase der „Parteisäuberungen“ und der Suche nach „amerikan. Agenten“ und „Nationalkommunisten“. In Ungarn, Rumänien, Bulgarien und der CSSR wurden zwischen 1949 und 1952 Schauprozesse gegen führende Funktionäre der regierenden Kommunist. Parteien durchgeführt. Bis auf die CSSR und die DDR waren die anderen sozialist. Staaten agrar. strukturiert und gemäß dem allein gültigen sowj. Weg zum Sozialismus begann die Industrialisierung dieser Länder mit dem Aufbau einer nationalen Schwerindustrie, die zugleich der militär. Aufrüstung diente. Diese Wirtschaftspolitik führte durch Vernachlässigung der Leicht- und Konsumgüterindustrie in Kombination mit der ebenfalls begonnenen Kollektivierung der Landwirtschaft zu erheblichen Versorgungskrisen in einzelnen Ländern. Inzwischen eine Massenorganisation der Kommunisten, erhoben die Gewerkschaften keinen Protest gegen die Verschlechterung der Lebenslage der Arbeitnehmer im Sozialismus. Ihre betriebliche Tätigkeit konzentrierte sich auf Produktionspropaganda und Verstärkung des Arbeitsdrucks (s. Arbeitsmobilisierung).


III.   DDR 1953

1953 starb Stalin - eine Zäsur die in der Sowjetunion zu Machtkämpfen an der Spitze der KPdSU führte. Die neue „kollektive Führung“ versuchte mit einem Neuen Kurs die krisenhafte Entwicklung zu korrigieren und das polit. System durch einen Kurswechsel zu stabilisieren. In der Sowjetunion führte dies zum Ende der Massenrepressalien, Gefangene im Archipel GULAG wurden amnestiert, in der Außenpolitik standen die Zeichen auf Entspannung gegenüber dem Westen und wirtschaftspolit. versprachen Stalins Nachfolger, die Lebenslage der Bevölkerung durch vermehrte Konsumgüterproduktion nachhaltig zu verbessern. Diese neue Linie galt auch für die Sattelitenstaaten inklusive der DDR.
Das Hauptproblem in der Entwicklung der Gesellschaften sowj. Typs war der Widerspruch zwischen dem totalitären Wesen der polit. Macht und ihrem Anspruch auf totale Kontrolle aller gesellschaftlichen Lebensbereiche einerseits und andererseits der Dynamik der industriellen Gesellschaft, die ein größeres Maß autonomen Verhaltens aller gesellschaftlichen Subjekte erforderte, als dieser Typ der polit. Herrschaft im Interesse seiner Erhaltung zulassen konnte. In der ersten Existenzkrise der DDR um den 17. Juni 1953 zeigte sich erstmals ein Grundmuster im Verlauf der Staatskrisen sowj. Typs:
1. Der kollektive Protest der Arbeitnehmer richtete sich direkt gegen die regierende Partei. Nur mit ihr wollten die Bauarbeiter am 16. Juni verhandeln.
2. Der hauptamtliche Apparat der zur Massenorganisation transformierten Gewerkschaft besaß weder Einfluss auf den Protest, noch wurde er als Verhandlungspartner für die Arbeiter von diesen akzeptiert.
3. Das Machtmonopol der SED wurde - im Fall der DDR mit sowj. Truppen - verteidigt.
4. Nach der Niederschlagung des Volksaufstandes wurde die Lebenslage der Arbeitnehmer verbessert.
Parallel zu den Ereignissen in der DDR kam es in Pilsen (CSSR) zu Streiks und Demonstrationen gegen die mangelnde Versorgung, die mit massivem Polizeieinsatz unterdrückt wurden.


IV.   Polen und Ungarn 1956

Die nächsten beiden S. ereigneten sich 1956 in Polen und in Ungarn. Auslöser war der XX. Parteitag der KPdSU im Februar, auf dem der Erste Sekretär Nikita S. Chruschtschow (*17.4.1894-†11.9.1971) in einer geschlossenen Sitzung des Parteitages Stalins Terror gegen die eigene Partei und das Offizierscorps der Roten Armee aufdeckte und verurteilte. Ein Teil der betroffenen Opfer wurde rehabilitiert und Stalins Diktatur über die Partei als „Personenkult“ geächtet. Die offene Entstalinisierung seitens der KPdSU löste in der kommunist. Bewegung eine Glaubenskrise aus und führte in Polen zu einem Prozess der qualitativen Veränderung der kommunist. Diktatur. Am Anfang standen Streiks der Arbeiter in Posen. Sie führten im Oktober 1956 zu Veränderungen der Führung der kommunist. Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP). Der 1948 wegen „nationaler Abweichung“ aus der Partei ausgeschlossene und verhaftete „Nationalkommunist" Wladyslaw Gomulka wurde aus der Haft entlassen, rehabilitiert und am 20. Oktober vom ZK zum Ersten Sekretär der PVAP gewählt.
Dieser Schritt der polnischen Kommunisten war vorher mit Moskau nicht abgestimmt worden und führte zu einer direkten Konfrontation mit der sowj. Führung, die mit militär. Intervention drohte. Chruschtschow kam mit einer mitgliederstarken sowj. Delegation nach Warschau, bezeichnete Gomulka offen als „Verräter“, musste aber schließlich die vollendeten Warschauer Tatsachen akzeptieren. Die bereits auch in Ungarn mobilisierten sowj. Truppen kamen nicht in Polen, aber wenige Tage später in Ungarn zum Einsatz. Gomulka konnte sein Programm der polit. und wirtschaftlichen Erneuerung verkünden. Dazu zählte die Rücknahme der Kollektivierung der Landwirtschaft und die Einstellung des Kampfes gegen die kathol. Kirche. Viele Polen hatten das Gefühl, ein Stück nationaler Souveränität zurückgewonnen zu haben.
Die ungar. Revolution, die am 23.10.1956 ausbrach, unterschied sich vom „polnischen Oktober“ nicht nur durch die bewaffneten Kämpfe mit der sowj. Armee, sondern auch in ihren außenpolit. Zielen und der Aufgabe des Machtmonopols der Partei. Der Prozess begann am 6.10.1956 mit der öffentlichen Rehabilitierung der Opfer des Schauprozesses von 1949 gegen die ungar. „Nationalkommunisten“. Die Revolution wurde ausgelöst durch eine Solidaritätsdemonstration in Budapest für Polen, auf der u.a. die Rückkehr von Imre Nagy (*7.6.1896-†16.6.1958) in das Amt des Ministerpräsidenten gefordert wurde. Die ungar. Parteiführung zögerte, dieser Forderung nachzukommen, da sie auf die Ankunft einer sowj. Delegation wartete, die aus den Politbüro-Mitgliedern Anastas I. Mikojan (*15.11.1895-†21.10.1978) und Michail A. Suslow (*21.11.1902-†25.1.1982) bestand. Zugleich traf der Vorsitzende des KGB, General Iwan A. Serow (*29.9.1905-†1.7.1990), in Budapest ein. Zum Ausbruch bewaffneter Kämpfe kam es am 23.10.1956. Demonstranten vor dem Rundfunkgebäude wurden beschossen als sie versuchten, die Übertragung ihrer Forderungen durch den Rundfunk zu erreichen. Als sowj. Panzer in Budapest einrollten, wurden sie anders als in Berlin am 17. Juni 1953 angegriffen. Nach Straßenkämpfen zogen sich die sowj. Truppen am 25.10.1956 aus Budapest zurück. Einen Tag zuvor war Imre Nagy Ministerpräsident geworden und in den nächsten Tagen zerfielen die Strukturen der kommunist. Diktatur. Die Partei löste sich auf. Die „Moskauer Kader“ der Partei wurden nach Moskau ausgeflogen, ebenso wie ein Opfer des polit. Schauprozesses von 1949, János Kádár (*26.5.1912-†6.7.1989). Er gründete am 1.11.1956 die Partei unter dem Namen „Ungar. Sozialist. Arbeiterpartei“ (USAP) neu. Parallel begann der sowj. Aufmarsch gegen Ungarn. Die Regierung Nagy erklärte daraufhin den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt und appellierte an die UNO, „Ungarns Neutralität zu schützen“. Als am 4.11.1956 sowj. Truppen Budapest erneut besetzten, wurde die Regierung Nagy abgesetzt und eine von János Kádár geführte „Arbeiter- und Bauernregierung“ etabliert.
Mit der Niederschlagung der ungar. Revolution zog die sowj. Führung unter Chruschtschow eine blutige Grenzlinie für Veränderungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten ihres Imperiums: Weder die Zugehörigkeit der einzelnen Staaten zum eigenen Machtbereich noch das Machtmonopol der kommunist. Partei durften in Frage gestellt werden.
1956 gab es in Polen und Ungarn Streikkomitees und Arbeiterräte als Interessenvertretungen der Arbeiter, die sich gegen das Machtmonopol der kommunist. Parteien richten. In beiden S. zeigte sich bereits, dass sie auch in den Arbeiterprotesten über deren soziale Ursachen hinausgingen. Die Krisen erfassten alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, die Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik ebenso wie die polit. Verfassung. Nach der Entstalinisierung wurde von ihnen auch die Legitimität der kommunist. Macht erfasst. Nun wurden die Mittel diskutiert, mit denen die Kommunisten ihren Sozialismus durchsetzten. Konfliktstoff lag auch in der Frage der nationalen Souveränität angesichts der sowj. Hegemonie.


V.   DDR 1960/61

Ende der 50er Jahre und v.a. in den Jahren 1960/61 führte eine massive Fluchtbewegung aus der DDR diese erneut in eine Staatskrise, die am 13. August 1961 nur noch durch den Mauerbau in Berlin gelöst werden konnte. Der FDGB agierte auch hier als Instrument der SED.


VI.   Tschechoslowakei 1968

Die Metapher vom Prager Frühling bezeichnet in der Geschichte des 20. Jahrhunderts den Versuch der regierenden Kommunist. Partei der Tschechoslowakei (KPTsch), die diktator. Staats- und Gesellschaftsordnung sowj. Typs von oben zu demokratisieren, die Zentralverwaltungswirtschaft durch Einführung von Marktbeziehungen zu dezentralisieren und den Nationalitätenkonflikt zwischen Tschechen und Slowaken durch Aufhebung des Prager Zentralismus zu lösen. Im Januar 1968 wurde Antonin Novotny (*10.12.1904-†28.1.1975) mit Billigung des sowj. Generalsekretärs Leonid I. Breschnew (*19.12.1906-†10.11.1982) als Erster Sekretär abgesetzt und der Slowake Alexander Dubcek (*27.11.1921-†7.11.1992) vom ZK der KPTsch zu seinem Nachfolger gewählt. Die Reformkommunisten führten einen umfassenden Kaderwechsel in der Partei und der Staatsverwaltung durch. Die Zensur wurde abgeschafft und die Medien wurden zu Foren einer öffentlichen Debatte über den Zustand der Gesellschaft. Die Opfer der eigenen Phase des Stalinismus, insbesondere der Jahre 1948-52/53, in der CSSR wurden rehabilitiert. Das Aktionsprogramm der KPTsch vom April 1968 versprach einen Sozialismus mit menschlichem Gesicht und übte Selbstkritik: In der Vergangenheit hätten die Arbeiter nicht immer die Möglichkeit gehabt „ihre unmittelbaren und spezif. Interessen geltend zu machen“. Die Partei verzichtete auf eine zentrale Steuerung der gesellschaftlichen Organisationen inklusive der Gewerkschaften.
Der Einmarsch der Truppen von fünf Warschauer Pakt-Staaten (Sowjetunion, Polen, Ungarn, Bulgarien und DDR) beendete am 21.8.1968 diese Selbstreform der sozialist. Gesellschaft, die dem Machtmonopol der Kommunist. Partei Grenzen setzte und es damit faktisch auflöste.


VII.   Polen 1970-80/81

1970 lösten die Streiks und die Demonstrationen der Werftarbeiter in Danzig gegen die beabsichtigte Erhöhung der Lebensmittelpreise eine polit. Krise in Polen aus. Der massive Einsatz von Sicherheitskräften gegen die Demonstranten hatte namentlich in Danzig Tote und Verletzte zur Folge und führte zur Ausweitung der Streiks an der polnischen Ostseeküste. Die PVAP stürzte dieser Konflikt in eine Führungskrise, der Erste Sekretär der PVAP Gomulka musste zurücktreten. Sein Nachfolger wurde Edward Gierek (*6.1.1913-†29.7.2001), dieser stellte sich auf einer Betriebsversammlung dem Streikkomitee auf einer Stettiner Werft. Der Forderungskatalog mit dem sich Gierek auseinandersetzen musste, reichte von der Rücknahme der Preiserhöhung für Lebensmittel, der Bezahlung der Streiktage, bis zu grundsätzlichen Forderungen wie der nach Veröffentlichung der Forderungen der Arbeiter, demokrat. Wahlen der Leitungen der Gewerkschaften, der Partei und im Jugendverband. Die Liste schloss mit dem Satz: „Wir fordern, dass die Sicherheitsorgane augenblicklich aufhören, die Arbeiter, die am Streik teilnehmen, zu schikanieren, einzuschüchtern und zu verhaften. Der Streik ist kein Verbrechen, da nirgends ein Verbot ausgesprochen ist.“
Der nächste Konflikt zwischen Arbeitern und der Staatsmacht entzündete sich im Juni 1976 erneut in Polen an der Preiserhöhung für wichtige Grundnahrungsmittel. Im Zentrum der Auseinandersetzung standen das Traktorenwerk Ursus bei Warschau und eine Munitionsfabrik in Radom. Wieder kam es zu einem massiven Einsatz der Sicherheitskräfte, um diese Streiks zu unterdrücken. Arbeiter wurden entlassen, verhaftet und im Schnellverfahren abgeurteilt. Im Gegensatz zu 1970, als die verfolgten Arbeiter ohne gesellschaftliche Solidarität blieben, solidarisierten sich nun Schriftsteller mit den Entlassenen und Verhafteten. Am 23.9.1976 kam es zur Gründung des „Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (KOR)“. Das Komitee sammelte Namen von Verhafteten, organisierte Geldspenden und half bei der jurist. Verteidigung vor Gericht. In der Gründungserklärung heißt es: „Wir erinnern nochmals daran, dass überall im Land, wo es von Repressalien betroffene Menschen gibt, es die Pflicht der Bevölkerung ist, sich zu deren Verteidigung zu organisieren. In jedem Milieu, in jedem Betrieb müssten sich mutige Leute finden, die Formen von gemeinsamer Hilfe anregen. Wir appellieren an die von Übergriffen der Staatsmacht betroffenen Mitbürger, dass sie zu ihrer Verteidigung sämtliche ihnen zustehenden Rechte ausnutzen. Das Komitee ist gern bereit, ihnen auch hier im Rahmen seiner Möglichkeiten behilflich zu sein. Das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter bittet weiterhin die Bevölkerung um finanzielle, rechtliche und ärztliche Hilfe für die von Repressalien Betroffenen. Wir appellieren auch, dem Komitee solide, für seine Arbeit notwendige, Informationen zukommen zu lassen.“ Die kulturelle Elite Polens rief die Gesellschaft dazu auf, sich nicht auf die Selbstverteidigung gegen die repressive Staatsgewalt zu beschränken, sondern zur Selbstorganisation der Gesellschaft überzugehen. In der DDR sorgte die Biermann-Ausbürgerung für einen Konflikt der SED mit der kulturellen Elite des Landes.
1978 bildete sich in Polen ein Gründungskomitee „Freier Gewerkschaften des Küstengebiets“. Die Deklaration des Gründungskomitees stellte fest: „Die Gewerkschaftsbewegung in Polen hat vor 30 Jahren aufgehört zu existieren […] Die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei machte aus der Gewerkschaftsarbeit eine Verlängerung ihrer eigenen Struktur und ein gehorsames Werkzeug der organisierten Ausbeutung aller Gesellschaftsschichten“. Wie in den klassischen Gründungsdeklarationen der westeuropäischen Gewerkschaften im 19. Jahrhundert wird das Ziel der Freien Gewerkschaft formuliert: die „Organisierung der Verteidigung der ökonom., rechtlichen und humanitären Interessen der Arbeitnehmer“. Zwei Jahre später im Sommer 1980 wurde dieses Ziel mit dem großen Streik der Danziger Werftarbeiter und der Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc durchgesetzt. Mit Solidarnosc wurde zum ersten Mal in einem sozialist. Staat sowj. Typs eine von der Partei unabhängige Gewerkschaft anerkannt, die innerhalb weniger Wochen Millionen Mitglieder organisierte. Rückblickend ist die Katalysatorfunktion der Gründung von Solidarnosc im Prozess der Überwindung des sowj. Imperiums unverkennbar. KPdSU und SED waren sich der Gefahr bewusst. Doch auch die Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 und das Verbot der Gewerkschaft konnten diese nicht bannen. Als mit der sowj. Reformpolitik von Glasnost und Perestrojka 1987 eine grundlegende Veränderung der internationalen Rahmenbedingungen eintrat, nahm die polnische Regierung das Verbot zurück. 1988 begann am „Runden Tisch“ zwischen der Staatsmacht und der Gewerkschaft Solidarnosc die Verhandlung über die Demokratisierung des polnischen Staates, die 1989 vollzogen wurde.


VIII.   Das Ende des sowj. Imperiums 1989/90

In der finalen Systemkrise in den Satellitenstaaten des sowj. Imperiums 1989/1990 standen die Frage der Rückgewinnung nationaler Souveränität, das Ende des Machtmonopols der kommunist. Parteien und die Transformation der sozialist. Staaten in parlamentar. Republiken im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Streiks und Demonstrationen der Arbeitnehmer dienten diesen Zielen. Erst zu diesem Zeitpunkt entdeckte auch der FDBG - bei dem Versuch einer Art nachholender Politik von Glasnost und Perestrojka - die Bedeutung der Eigenständigkeit der Gewerkschaften.

Manfred Wilke


Lit.: Rote Fahnen über Polen. Seit wann schießt die Arbeiterklasse auf sich selbst? Protokoll der Streikversammlung auf der Stettiner Werft, 19.1.1971, Hrsg. vom Trikont-Verlag, 1972. - V. Horsky, Prag 1968. Systemveränderung und Systemverteidigung, 1975. - J. Pelikan/M. Wilke (Hg.), Menschenrechte. Ein Jahrbuch zu Osteuropa, 1977. - A.-Th. Dross (Hg.), Polen. Freie Gewerkschaften im Kommunismus?, 1980. - P. Tigrid, Arbeiter geben den Arbeiterstaat. Widerstand in Osteuropa, 1983. - Z. Mlynar, Krisen und Krisenbewältigung im Sowjetblock, 1983. - W. Brus, Geschichte der Wirtschaftspolitik in Osteuropa, 1987. - W. Heckelmann u.a., FDGB-intern, 1990. - A. Mitter/St. Wolle, Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, 1993. - G. Litvan/J.-M. Back (Hg.), Die Ungarische Revolution 1956, 1994. - M. Kubina/M. Wilke (Hg.), „Hart und kompromißlos durchgreifen“. Die SED kontra Polen 1980/1981, 1995. - J. Pauer, Prag 1968. Der Einmarsch des Warschauer Paktes, 1995. - L. Prieß u.a., Die SED und der „Prager Frühling“ 1968. Politik gegen ein „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, 1996. - G. Alföldy, Ungarn 1956. Aufstand, Revolution, Freiheitskampf, 1997. - A. Hegedüs/M. Wilke (Hg.), Satteliten nach Stalins Tod, 2000. - J.-P. Laufer/G.-P. Kynin (Hg.), Die UdSSR und die deutsche Frage 1941-1948 (Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der russischen Föderation, Bd. 2, 2004). - M. Wilke, Die Streikbrecherzentrale. Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) und der 17. Juni 1953, 2004.