FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Glasnost und Perestrojka. G.u.P sowie Demokratisierung waren die Schlüsselbegriffe in der ab 1985 verfolgten Reformpolitik des letzten Generalsekretärs der KPdSU, Michail S. Gorbatschow (*2.3.1931). G. umschrieb die Einführung von Meinungsfreiheit und offener Debatte über den Zustand des Landes und seiner Geschichte als Voraussetzung der Demokratisierung, P. bezog sich v.a. auf die Reform der sowj. Zentralverwaltungswirtschaft. Besonders die Demokratisierung und die damit verbundene Veränderung der führenden Rolle der kommunist. Partei in der sozialist. Gesellschaft stießen (intern) auf heftigen Widerspruch der SED. Der jahrzehntelang gefeierte „Kampfbund zwischen KPdSU und SED“ driftete polit. auseinander. Befördert wurde dieser Prozess durch die Veränderungen in der sowj. Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber dem Westen wie auch den sozialist. Staaten. Im November 1986 erklärte Gorbatschow anlässlich eines Treffens des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) den Verzicht auf den bisherigen Anspruch der Sowjetunion auf eine besondere Rolle in der sozialist. Gemeinschaft. Die Eigenständigkeit jeder Partei, „ihr Recht zur souveränen Entscheidung über die Entwicklungsprobleme ihres Landes, ihre Verantwortung gegenüber dem eigenen Volk“, dies seien die unabdingbaren Prinzipien im RGW. Die SED weigerte sich, polit. und ökonom. Reformen durchzuführen und verteidigte ihr absolutes Machtmonopol. Der FDGB folgte der Linie der SED.
Erst als im September 1989 die friedliche Revolution begann, gingen auch Kräfte im FDGB erste zögerliche Schritte in Richtung einer eigenständigen Politik. Die Abt. Organisation des BuV legte dem Vors. Harry Tisch einen Stimmungsbericht (vgl. Berichtswesen) aus den Betrieben vor, der sich auf die mangelhafte Versorgungslage und auf die Problematik der DDR-Flüchtlinge konzentrierte und forderte, darüber offen zu sprechen „und vor allem Schritte zur Veränderung bestehender Missstände“ einzuleiten. Tisch, der im SED-Politbüro zur Fronde von Egon Krenz (*19.3.1937) gehörte, um SED-Chef Erich Honecker (*25.8.1912-†29.5.1994) zu stürzen, entdeckte während einer Sitzung des Präs. des BuV Ende September 1989 plötzlich eine „selbständige“ Rolle der Gewerkschaften in der DDR. Die ideolog. Begründung lieferten einen Monat später die Gesellschaftswissenschaftler der Hochschule der Deutschen Gewerkschaften „Fritz Heckert“. Im FDGB-Zentralorgan Tribüne veröffentlichten sie ein Diskussionspapier, das eine „Wende in der Gewerkschaftsarbeit“ forderte. Die Autoren konstatierten einen „Autoritätsverfall“ und sorgten sich explizit „um die Rettung und Bewahrung der Einheitsgewerkschaften als wirkliche Interessenvertreter der Werktätigen“. Die von ihnen nun geforderte „Eigenständigkeit“ des FDGB leiteten sie ab aus dem (von ihnen offenbar erst im Oktober 1989 entdeckten) Artikel 44 der DDR-Verfassung, in dessen Absatz 2 es kurz und bündig heißt: „Die Gewerkschaften sind unabhängig.“ Ganz im Geist von G.u.P. verlangten sie ein Gewerkschaftsgesetz. Vordringlich erschien ihnen der gesetzliche Schutz „der Gewerkschaftsfunktionäre vor ungerechtfertigten Kritiken“. Zeitgleich hatte der FDGB seinen ersten Personalskandal. Die Berliner Zeitung berichtete am 1.11.1989 über den privaten Neubau des Vors. der IG-Metall Gerhard Nennstiel in Berlin. Informiert hatten die Redaktion Bauarbeiter, die „zeitweilig“ von einem U-Bahn-Betriebswerk abgezogen worden waren, um dieses Haus zu bauen. Mit dem Rücktritt von Nennstiel begann der personelle Neuanfang im FDGB. Am 3.11.1989 trat auch Tisch zurück. Seine Nachfolgerin wurde die Vors. des BV des FDGB-Berlin Annelies Kimmel. Sie versprach einen „Neuen Anfang“ im FDGB. Der BuV bildete acht Arbeitsgruppen zu den Schwerpunkten seiner künftigen Politik mit dem Auftrag, zu ihnen jeweils einen „gewerkschaftlichen“ Standpunkt zu erarbeiten.
Zeitgleich forderte der neue SED-Chef Krenz vom FDGB eine aktive Wahrnehmung seiner Mitbestimmungsrechte. Auf seiner 10. Tagung vom 8.-10.11.1989 beschloss das ZK der SED ein „Aktionsprogramm“, das umfassende Reformen der Staatsverfassung und „eine an den Marktbedingungen orientierte Planwirtschaft“ angekündigte. Den FDGB sah die SED „als Instrument der demokrat. Gegenkontrolle“ in dieser geplanten Wirtschaftsreform. Die neue FDGB-Vors. Kimmel protestierte heftig gegen die neuerliche Rollenzuweisung durch die SED und lehnte das Konzept der „Gegenkontrolle“ ab. Doch weder SED noch FDGB waren zu diesem Zeitpunkt noch Herren der Lage. Der Versuch, den Platz des FDGB in der reformierten sozialist. Marktwirtschaft zu bestimmen, endete am 9.12.1989 mit dem Rücktritt Kimmels und des gesamten FDGB-BuV und der Bildung eines Komitees zur Vorbereitung des außerordentlichen Kongresses des FDGB. Dessen Geschäftsbericht zog ein knappes kritisches Resümee der Haltung gegenüber der sowj. Reformpolitik: „Negativ wirkte sich aus, dass die weitreichenden Konsequenzen der Umgestaltungsprozesse in der UdSSR und anderen sozialist. Ländern in der gewerkschaftlichen Tätigkeit missachtet und abgelehnt wurden.“ Überheblichkeit in der Einschätzung der eigenen Entwicklung habe zudem „den Blick für eine realist. Beurteilung neuer Prozesse“ verstellt.
Es ging nun in der Tat nicht mehr um G.u.P., sondern um die Kooperation mit dem DGB und seinen Einzelgewerkschaften mit dem Ziel, ostdeutsche Gewerkschaftsstrukturen in das sich abzeichnende wiedervereinigte Deutschland hinüber zu retten.
M.W.