FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Biermann-Ausbürgerung. Der Dichter und Sänger Wolf Biermann (*15.11.1936) wurde 1976 von der Jugendabteilung der westdeutschen IG-Metall zu einem Konzert nach Köln eingeladen. Wider Erwarten genehmigte die DDR seine Ausreise. 1965 war der Liedermacher Biermann auf dem 11. ZK-Plenum der SED von Walter Ulbricht beschuldigt worden, zusammen mit Robert Havemann (*11.3.1910-†9.4.1982), Stefan Heym (*10.4.1913-†16.12.2001) und anderen eine Gruppe gebildet zu haben, „die einen polit. Kampf gegen die Arbeiter- und Bauernmacht zielbewusst geführt hat und führt.“ Ulbricht sah in den Liedern und der Kritik von Biermann keine Frage künstler. Freiheit, sondern eine der Macht: „Also worum geht es? Um die Gewährung der Freiheiten in der DDR, die in der bürgerlichen Gesellschaft des Westens üblich sind. - Aber wir haben viel weitergehende Freiheiten; wir haben nur keine Freiheit für Verrückte, sonst haben wir absolute Freiheiten überall. (Kurt Hager: Und keine für solche Konterrevolutionäre!) Für Konterrevolutionäre haben wir auch keine Freiheiten, das nicht.“ Seit dieser Ausgrenzung hatte Biermann in der DDR Auftrittsverbot, seine Texte und Lieder mussten im Westen erscheinen und fanden dort große Resonanz, namentlich in dem Teil der sozialist. Linken, der an der Vision eines freiheitlichen Kommunismus als Alternative zur eigenen kapitalist. Gesellschaft und dem realen Sozialismus im sowj. Imperium festhielt. Mit großem Erfolg trat Biermann am 13.11.1976, zum ersten Mal nach zwölf Jahren, vor westdeutschem Publikum auf, die ARD strahlte eine Aufzeichnung aus, die auch in der DDR empfangen wurde. Als Zugabe sang er seine „Ballade vom preußischen Ikarus“. In ihr geht es um Biermanns Angst vor der Verbannung aus der DDR und damit aus dem sozialist. deutschen Staat. Die gedichtete Vorahnung trog ihn nicht, am nächsten Tag wurde ihm die Staatsbürgerschaft der DDR entzogen. Er wurde ausgebürgert. In der Bundesrepublik, aber vor allem in der DDR, kam es zu Protestaktionen. Am 17.11.1976 protestierten prominente Schriftsteller der DDR gegen die Ausbürgerung und baten um die Rücknahme dieser Maßnahme. In ihrem Brief an die SED-Führung hieß es: „Wir identifizieren uns nicht mit jedem Wort und jeder Handlung Wolf Biermanns und distanzieren uns von den Versuchen, die Vorgänge um Biermann gegen die DDR zu missbrauchen. Biermann selbst hat nie, auch nicht in Köln, Zweifel darüber gelassen, für welchen der beiden deutschen Staaten er bei aller Kritik eintritt. Wir protestieren gegen seine Ausbürgerung und bitten darum, die beschlossenen Maßnahmen zu überdenken.“ Mit diesem Schreiben solidarisierten sich dann weitere Schriftsteller und Künstler. Die Biermann-Ausbürgerung führte in der DDR zu Verhaftungen, u.a. von Jürgen Fuchs (*19.12.1950-†9.5.1999), Gerulf Pannach (*24.6.1948-†3.5.1998) und Christian Kunert (*20.5.1952). Angesichts der für die SED unerwarteten Reaktion auf ihre Maßnahme, begann eine Politik der Differenzierung. Schriftsteller, Künstler und Schauspieler bekamen die Erlaubnis mit und ohne DDR-Pass nach Westen auszureisen. Somit bürgerte die SED nicht allein Biermann aus, sie trieb einen großen Teil des künstler. Potentials der DDR außer Landes.
Der FDGB verhielt sich in diesem Fall wie in allen anderen Kampagnen, die seitens der Partei- und Staatsführung durchgeführt wurden:
1. Ein staatlicher Willkürakt, wie es die Ausbürgerung von Biermann darstellte, wird vom FDGB begrüßt und verteidigt.
2. Der FDBG-Apparat weist seine Kader an, die ideolog. Auseinandersetzung in den Betrieben (vgl. Betrieb als Sozialisationsinstanz) offensiv zu führen.
3. Aus den Betrieben gibt es freiwillige und weniger freiwillige Erklärungen, in denen sich einzelne oder Kollektive zustimmend zu der getroffenen Maßnahme äußern. Diese Erklärungen werden veröffentlicht.
4. Die Funktionäre vor Ort werden beauftragt, in Berichten (vgl. Berichtswesen) die Diskussion über diesen Fall in den Betrieben festzuhalten und besonders die Stimmen zu registrieren, die „gegner. Propaganda“ kolportieren (vgl. Ideologie- und Verhaltenskontrolle).
5. Wurde seitens des Apparates immer wieder auf ein Allheilmittel zurückgegriffen: Die polit.-ideolog. Arbeit mit „unseren Menschen“ muss verstärkt werden.
Die Abt. Organisation des FDGB legte im Dezember 1976 einen solchen Bericht über die Verbesserung der ideolog. Arbeit in gewerkschaftlichen Grundorganisationen vor. Die Auswertung der Diskussionen unter Jugendlichen, Studenten, Künstlern zeigte, dass der Fall Biermann in seiner Bedeutung weit über den Kreis der Künstler und der wissenschaftlichen Intelligenz hinaus reichte und „Schlussfolgerungen“, die die SED-Parteigruppe des ZV der Gew. Kunst zogen, belegten dies: Der Katalog enthält die Forderung nach Verstärkung der ideolog. Arbeit, „besonders aber im Bereich der Theater“, und konzentriert sich auf die Fragen, die zu behandeln sind: „Die führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei, die Rolle des sozialist. Staates, die Dialektik von Entspannung und friedlicher Koexistenz und die zunehmende Verschärfung des ideolog. Kampfes, die nationale Frage, die Rolle des Sozialdemokratismus und des Revisionismus, Parteilichkeit und Volksverbundenheit in der Kunst, die Verantwortung der Künstler für den Sozialismus.“ Genau das waren aber die Probleme, deretwegen so viele Schauspieler, Künstler und Schriftsteller damals in den Westen gingen.
Der Fall Biermann schuf auch ein Problem für die Westarbeit des FDGB. Nicht nur hatte die westdeutsche IG-Metall Biermann eingeladen, die Bewertung seiner Ausbürgerung durch den Vorstand der größten Einzelgewerkschaft im DGB schuf neue Probleme. Der IG-Metall-Vorstand erklärte am 14.12.1976: „Die Ausbürgerung von Wolf Biermann beweist erneut, dass das polit. System der DDR keinerlei demokrat. Elemente aufweist. Das Instrument der Ausbürgerung war und ist ein Instrument des Faschismus. Die DDR muss selbst Anhängern ihres polit. Systems, weil sie konstruktive Kritik üben wollen, elementare Menschenrechte aberkennen. Wie schwach ist ein Gesellschaftssystem, das einen kritischen Sänger und Dichter nicht beheimaten kann und sich genötigt fühlt, ihn auszubürgern. Dass die DDR zu schwach ist, einen freien Dialog zu führen, hat sie durch die Ausweisung von zwei Funktionären der IG-Metall in Riesa im letzten Jahr schon einmal bewiesen.
Wir waren uns darüber im klaren, dass Biermann Kommunist ist, dessen polit. Auffassungen von uns aber nicht vertreten werden. Empörend ist seine Stellungnahme zum Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 in der DDR. Sein Auftritt in Köln und die darauf folgende Ausbürgerung durch die DDR bestätigt erneut, dass für sein Ziel: einen humanen und freiheitlichen Kommunismus zu schaffen, keine Hoffnung besteht. Darüber hinaus ist die Rolle der DKP und des FDGB in der Bundesrepublik auch für den Letzten deutlich geworden. Sie bejahten die Ausbürgerung Biermanns. Diese Haltung entlarvt erneut, dass die DKP keine polit. eigenständige Kraft, sondern ein Instrument der SED ist. Ihre moral. Empörung über die Überprüfung von DKP-Mitgliedern im öffentlichen Dienst ist dadurch um so unglaubwürdiger geworden.“
Die Analyse der FDGB-Westabteilung über die Reaktion der IG Metall blieb intern. Sie fügte diese Stellungnahme zur Ausweisung von Biermann dem Sündenregister hinzu, das über die IG-Metall schon vorlag. Der FDGB hatte nicht vergessen, dass die IG-Metall im Prager Frühling die „konterrevolutionären Kräfte“ in der CSSR unterstützt hatte.
M.W.