FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Verfassung der DDR. Die erste V. der DDR vom 7.10.1949 wies Prinzipien eines parlamentar.-demokrat. Systems mit föderalist. und rechtsstaatlichen Strukturelementen auf. Durch die Konzentration der Gewalten auf die Volkskammer und das Fehlen einer Verfassungsgerichtsbarkeit, vor allem aber durch die von Anbeginn von der SED bestimmten Verfassungsauslegung und -wirklichkeit, konnte unter ihrer Geltung eine sozialist. Ordnung unter Vorherrschaft der SED aufgebaut werden. In der ersten V. wurde die Mitgestaltung in der Gesellschaft zum Recht aber auch zur Pflicht aller Bürger erklärt, gleichzeitig aber auch das Recht und die Pflicht zum Widerstand gegen Maßnahmen eingeräumt, die den Beschlüssen der Volksvertretung widersprächen, Meinungs- und Koalitionsfreiheit verbrieft sowie die Staatsgewalt auf das Wohl der Bevölkerung verpflichtet und den Gewerkschaften das Streikrecht garantiert. Die Gewerkschaften waren laut V. zudem dazu befugt, Wahlvorschläge für die Volksvertretungen in den Ländern, Kreisen und Gemeinden zu unterbreiten, und sie erhielten auf Grund ihrer Fraktionsstärke in der ersten Volkskammer sogar das Recht, in der Regierung vertreten zu sein.
Bis zur Verabschiedung der neuen V. vom 6.4.1968 und deren Ergänzung und Änderung am 7.10.1974 wurde die verfassungsrechtliche Umwälzung der DDR zum sozialist. Staat außerhalb der V. vollzogen und diese Umwälzung nachträglich durch Ergänzungen und Änderungen legitimiert. 1955 wurde die V. um Wehrvorschriften erweitert, 1958 die Länderkammern abgeschafft, die zunächst weiter bestanden hatten, nachdem die Länder bereits 1952 aufgelöst und deren Länderverfassungen aufgehoben worden waren. 1960 wurde mit der Aufnahme des Staatsrats als Verfassungsorgan, das Amt des Präsidenten beseitigt.
In der V. von 1968 wurde die DDR als sozialist. Staat definiert, der die polit. Organisation der Werktätigen sei, die „gemeinsam unter Führung der Arbeiterklasse und der marxist.-leninist. Partei den Sozialismus verwirkliche“ (§ 1). Damit wurde das bereits in der Verfassungswirklichkeit bestehende Machtmonopol der SED sanktioniert und die DDR-Gesellschaft als Klassengesellschaft analysiert. In weiteren Artikeln wurden das sozialist. Eigentum und die Planung sämtlicher gesellschaftlicher Bereiche als Strukturelemente des polit. Systems verankert sowie die Gewalteneinheit durch die Gewaltenkonzentration bei der Volkskammer und der demokrat. Zentralismus als Grundprinzipien festgelegt. Formal erhob Artikel 5 die Volksvertretungen sogar zur Grundlage des Systems der Staatsorgane. Zwar wurden die polit. Parteien als Ausdruck der Klassenstruktur der DDR angesehen, aber durch Artikel 3 sollten sie in der Nationalen Front, der Vereinigung der Parteien und Massenorganisationen, im Rahmen der Blockpolitik der SED im gemeinsamen Bündnis die sozialist. Gesellschaft entwickeln.
Als einziger Massenorganisation wurde den „freien Gewerkschaften“, vereinigt im FDGB, Verfassungsrang verliehen (§ 44 und 45). Sie wurden als die umfassende Klassenorganisation der Arbeiterklasse bezeichnet, die die Interessen der Arbeiter, Angestellten und Angehörigen der Intelligenz durch umfassende Mitbestimmung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft wahrnehmen sollten. Verfassungsrechtlich wurde ihnen sogar ihre Unabhängigkeit und uneingeschränkte Betätigung eingeräumt. Sie bekamen in der V. weit reichende Befugnisse bei der Gestaltung der sozialist. Gesellschaft, der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, der Verwirklichung der wissenschaftlich-techn. Revolution sowie an der Entwicklung der Arbeits- und Lebensbedingungen, des Gesundheitsschutzes und Arbeitsschutzes, der Arbeitskultur, des kulturellen und sportlichen Lebens der Werktätigen übertragen. Die V. erwähnte zudem die Mitwirkung der Gewerkschaften an der Planerarbeitung und die Vertretung der Gewerkschaften in den gesellschaftlichen Räten, den Produktionskomitees sowie deren Befugnis, die ständigen Produktionsberatungen zu organisieren, wodurch auch diesen Organen zumindest symbol. eine hohe verfassungsrechtliche Bedeutung beigemessen wurde. Vor allem erhielten die Gewerkschaften das Recht, über alle Fragen, die die Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen beträfen, mit den Betriebsleitungen und den leitenden Wirtschaftsorganen Vereinbarungen zu treffen. Die Gewerkschaften erhielten zudem das Recht, aktiven Anteil an der sozialist. Rechtsordnung, etwa in Form von Gesetzesinitiativen oder der Kontrolle der gesetzlich garantierten Rechte der Werktätigen, zu nehmen. Verfassungsrechtlich festgehalten wurde zudem die Leitung der Sozialversicherung durch die Gewerkschaften, die dadurch an der umfassenden materiellen und finanziellen Versorgung und Betreuung der Bürger bei Krankheit, Arbeitsunfall, Invalidität und im Alter teilhatten. Zum Schluss der Ausführungen zum FDGB in der V. wurden alle Staatsorgane und Wirtschaftsleiter dazu verpflichtet, mit den Gewerkschaften eng und vertrauensvoll zusammenzuarbeiten.
In einer letzten Verfassungsänderung am 1.12.1989 wurde der Führungsanspruch der SED aus Artikel 1 gestrichen. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik erlosch die Gütigkeit der DDR-V. Der vom Runden Tisch ausgearbeitete Verfassungsentwurf, der auf basisdemokrat. Elementen aufbaute, wurde von der Volkskammer nicht beschlossen.
St.P.W.