FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Soziale Dienste.

Inhalt:

I.     Begriff und Kontext

II.    Soziale Sicherungssysteme

III.   Funktionsfelder

IV.   Gesundheits- und Sozialwesen

V.    Kirchliche Sozialeinrichtungen

VI.   Arbeitszentrierung der sozialen Dienste

        Literatur


I.   Begriff und Kontext

Der Begriff s.D. bezeichnet im Allg. von öffentlichen, gemeinnützigen oder privatgewerblichen Organisationen angebotene, organisator. institutionalisierte, fachlich qualifizierte, personenbezogene, beruflich oder ehrenamtlich ausgeübte Dienstleistungen im Bereich von Erziehung, Beratung, Pflege und Betreuung von Individuen und Gruppen. In Deutschland entstanden moderne Formen der s.D. in Verbindung mit der Entwicklung kommunaler „Daseinsvorsorge“ in der Epoche des Kaiserreichs. Neben der Bereitstellung von Energie, Verkehrsmitteln, Schlachthöfen, Abfallbeseitigung, Trinkwasserver- und Abwasserentsorgung bildeten sich in den Kommunen neue Arten personenbezogener Dienstleistungen auf dem Gebiet der Gesundheits-, Wohnungs-, Jugend- und Arbeitslosenfürsorge heraus. Wegweisend für die moderne Organisation von s.D. wurde die Weimarer Republik. Das Reichsarbeitsministerium fungierte hier als zentrale polit. Schaltstelle. Es entwickelte sich ein in Spitzenverbänden zentralisiertes System von Wohlfahrtsverbänden. Für Deutschland wurde der Dualismus öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege charakterist. wie er bis heute in der Bundesrepublik anzutreffen ist.
Bei den s.D. stehen sich nicht Staat und Markt gegenüber, sondern sie begegnen dem Staat als ein kooperierender dritter Sektor, der sich um die freien Wohlfahrtsverbände gruppiert. Im Verlaufe des 20. Jh. weitete sich der Aufgabenbereich von Fürsorgemaßnahmen für soziale Randgruppen zu Dienstleistungen für große Teile der Bevölkerung aus. Es wurden alle sozialen Schichten erfasst, so etwa bei der Betreuung von Kindern und alten Menschen. Angesichts der zunehmenden Bedeutung des Aufgabenfeldes dringen seit dem letzten Viertel des 20. Jh. immer mehr private Anbieter auf das Feld der Wohlfahrtspflege vor.
Der Begriff der s.D. war in der DDR unüblich. In der Sache umfasste er sozialpolit. initiierte Transfer- und Dienstleistungen zugunsten bestimmter bedürftiger Empfängergruppen. Solche Leistungen wurden in der DDR vor allem durch Sozialversicherung (SV), Sozialfürsorge, Gesundheitswesen, staatliche und betriebliche Sozialpolitik, Feriendienst des FDGB, Volkssolidarität, Diakonie und Caritas übernommen. Hier handelte es sich um professionell betriebene Sozialversicherungs- und Versorgungssysteme mit großem Wirkungsradius. Ergänzt wurden die s.D. auch in der DDR durch unentgeltliche Leistungen innerhalb der Familie oder der Nachbarschaft, die den Bedarf wohl zu einem erheblichen Teil mit abdeckten.
Als im Januar 1990 ältere Bürger danach befragt wurden, an wen sie sich wenden würden, wenn sie Hilfe benötigten, ergab sich folgendes Bild (Mehrfachnennungen möglich):

An die Kinder
62,3%
An andere Angehörige
20,4%
An Freunde und Bekannte
18,2%
An Nachbarn
40,9%
An die Volkssolidarität
25,9%
An das Gesundheitswesen
14,1%
An den Rat der Stadt, der Gemeinde
5,5%
An die Gemeindeschwester, davon:
20,3%
Großstadt
8,0%
Kleinstadt
4,3%
Land
23,7%
An das DRK
3,7%
An einen „Timurtrupp“ (nach sowj. Vorbild freiwillig helfende Schüler)
3,3%
An den ehemaligen Betrieb
6,1%
An den Arzt
40,3%
Ich weiß nicht an wen
11,3%
Quelle: G. Winkler, Sozialreport ´90. Daten und Fakten zur sozialen Lage in der DDR, 1990, S. 350.

Im Ergebnis dieser Befragung spiegelt sich noch deutlich das Spektrum der in der DDR üblichen s.D., wobei allerdings nach den kirchlichen Sozialeinrichtungen nicht gefragt worden war. Der hohe Stellenwert, den Familie, Bekanntenkreis, Nachbarschaftsbeziehungen und Hausarzt einnehmen, spricht für weitgehend intakte Sozialbeziehungen zwischen der älteren und der jüngeren Generation. Er wirft aber auch die Frage nach den Ergebnissen einer langjährigen, auf Versorgung und Betreuung ausgerichteten Sozialpolitik auf. Ohne deren positive wie auch problemat. Wirkungen, z.B. Mitnahme- und Gewöhnungseffekte, zu unterschätzen, bleibt die starke Fixierung auf private, vor allem familiäre Netzwerke ein Phänomen, das Beachtung verdient.


II.   Soziale Sicherungssysteme

Die meisten der in der DDR installierten Sozialversicherungs- und Versorgungssysteme basierten auf der gesetzlichen SV. Hierauf nahmen Art. 35 Abs. 3 und die Art. 36-38 der DDR-Verfassung von 1968 Bezug: „Auf der Grundlage eines sozialen Versicherungssystems werden bei Krankheit und Unfällen materielle Sicherheit, unentgeltliche ärztliche Hilfe, Arzneimittel und andere medizin. Sachleistungen gewährt“ (Art. 35, Abs. 3). Auch für die gesellschaftliche Fürsorge im Alter und bei Invalidität, spezielle medizin. Betreuung, materielle und finanzielle Unterstützung bei Geburten und die Gewährung von Kindergeld bestand eine gesetzliche Garantie.
In der SBZ/DDR war die Entwicklung des Sozialleistungssystems von Anfang an darauf angelegt, alle Versicherungszweige bei einem Versicherungsträger zu vereinen. Am 28.1.1947 erließ die SMAD den Befehl Nr. 28 über die „Einführung eines einheitlichen Systems und von Maßnahmen zur Verbesserung der Sozialversicherung in der SBZ“ (Arbeit und Sozialfürsorge. Jahrbuch von 1945 bis 31. März 1947, Berlin 1947, S. 325 f.), der als Anlage u.a. die grundlegende Verordnung über die SV (VSV) enthielt. Die Aufgaben der Träger waren damit ebenso vereinheitlicht wie das Leistungsrecht. Dies stand nie grundsätzlich in Frage. Unterschiedliche Auffassungen gab es zwar über die Struktur der SV, doch setzte sich der FDGB bei der Leitung durch (VO über die SV vom 26.4.1951, Gbl. der DDR 1951, S. 325; VO vom 23.8.1956, Gbl. der DDR 1956, I, S. 681).
Der FDGB wurde im Bereich der s.D. primär auf dem Feld der betrieblichen Sozialpolitik und mit seinem Feriendienst aktiv. Die betriebliche Sozialpolitik war in der SBZ unmittelbar nach Kriegsende in den Sog tief greifender polit., wirtsch. und sozialer Veränderungen geraten. V.a. die umfangreichen von SMAD und KPD/SED in die Wege geleiteten Enteignungen zahlreicher Unternehmen entzogen einer betrieblichen Sozialpolitik im herkömmlichen Sinne den Boden. Maßgebend für die künftige sozialpolit. Praxis in den Betrieben wurden die verstaatlichten (VEB) und die in sowj. Eigentum übergegangenen Firmen (SAG). Die SMAD griff mit Hilfe ihres Befehlssystems massiv in das Betriebsgeschehen ein. Dabei zeigte sie sich im Hinblick auf betriebliche Sozialleistungen dann ziemlich pragmat., wenn es um die Wiederaufnahme und Steigerung der Produktion für Reparationszwecke ging. Das Interesse der SED an diesem Politikfeld war umfassender. Ihr kam es darauf an, durch betriebliche Sozialmaßnahmen das physische Arbeitspotential zu stabilisieren, Leistungsanreize zu schaffen und die betriebliche Sozialpolitik insgesamt für die Änderung der Eigentumsordnung und die Durchsetzung eines zentralisierten Planwirtschaftssystems zu instrumentalisieren. Aus diesem Zusammenhang heraus verschob sich bei den Inhalten und Praktiken der betrieblichen Sozialpolitik der Akzent schrittweise hin zu einem planwirtschaftlich organisierten Leistungsanreizsystem. Trotz einer formalen Ähnlichkeit betrieblicher Sozialmaßnahmen in der SBZ mit jenen in den westlichen Besatzungszonen entwickelten sich die polit. Kontexte in Ost und West zwischen 1945 und 1949 rapide auseinander. Über ihre Anreizfunktion hinaus sollte die betriebliche Sozialpolitik in der SBZ zur Legitimation der entstehenden SED-Diktatur beitragen. Diese Funktion erfüllte sie jedoch angesichts intensiver werdender Auseinandersetzungen um die Einführung von Leistungslöhnen nur bedingt.
Auf dem Feld der Betrieblichen Sozialpolitik spielte der FDGB eine zentrale Rolle. Waren hier bis 1948 die Betriebsräte stark engagiert, so traten im Zuge der Umwandlung des FDGB in eine Massenorganisation der SED die Betriebsgewerkschaftsleitungen (BGL) bzw. Abteilungsgewerkschaftsleitungen (AGL) als Akteure auf. Seit 1951 war es ihre Aufgabe, zusammen mit den Betriebsleitungen alljährlich Betriebskollektivverträge (BKV) auszuarbeiten und deren Erfüllung zu kontrollieren. Die BKV enthielten alle wesentlichen Maßnahmen betrieblicher Sozialpolitik in der DDR.


III.   Funktionsfelder

Überblickt man die Inhalte und Funktionen des Politikfeldes in den Jahren 1949-61, so zeichnet sich deutlich eine Begünstigung der Arbeiterschaft in der staatlichen Industrie und hier besonders in den Sektoren Kohle, Energie, Metallurgie und Chemie ab. Angesichts einer Verknappung der Arbeitskräftereserven bemühten sich viele Betriebe, nicht nur durch Lohnzuschläge, sondern gleichfalls durch das Angebot ihrer sozialen Einrichtungen, Arbeitskräfte zu gewinnen und zu halten. Beim Ausbau betrieblicher Sozialeinrichtungen dominierten der Gesundheitsschutz, in zunehmendem Maße auch der Arbeitsschutz und die Arbeiterversorgung. Seit der zweiten Hälfte der 50er Jahre rückte besonders im Hinblick auf die Frauenbeschäftigung (s.a. Frauenförderung) die Forderung nach Betriebskinderkrippen und -gärten und nach betriebseigenen Dienstleistungseinrichtungen in den Vordergrund.
Das 1963 auf den Weg gebrachte NÖSPL machte den Betriebsgewinn zum Hauptkriterium wirtsch. Erfolgs. Auch die Aufwendungen für das betriebliche Sozialwesen waren teilweise an den Gewinn gebunden. Für die betriebliche Sozialpolitik, deren Aufgabenfelder im Wesentlichen konstant blieben, bedeutete das Chance und Risiko zugleich. Kennzeichnend für diese Periode war das Bemühen, das Politikfeld mit seinen Hauptsegmenten Arbeiterversorgung, kulturelle, gesundheitliche und soziale Betreuung der Beschäftigten, Betriebssport (s. Betriebssportgemeinschaft), Jugend- und Kinderbetreuung, Ferienbetreuung und Naherholung sowie Wohnungswirtschaft in ein „System ökonom. Hebel“ zu integrieren. Das gelang nur in unbefriedigendem Maße, am ehesten noch bei der Bildung und Verwendung des Kultur- und Sozialfonds (KUS). Dieser wurde zu einem wesentlichen Instrument betrieblicher Sozialpolitik. Insgesamt war der Versuch, die betrieblichen Sozialmaßnahmen stärker zu „ökonomisieren“, nur teilweise erfolgreich. In der gesamten NÖSPL-Periode lagen die Schwerpunkte betrieblicher Sozialpolitik auf der Förderung und Unterstützung von Frauenerwerbsarbeit und, besonders hinsichtlich der zunehmenden Schichtarbeit, auf der Arbeiterversorgung. Hier wurden die Kapazitäten ausgebaut, auch wenn man gegen Ende des Jahrzehnts vermehrt zur „außerplanmäßigen“ Improvisation Zuflucht nehmen musste. Nach wie vor gehörte der Verkauf von Mangelwaren durch Betriebe zu den wichtigen Teilaufgaben. Allerdings führte die privilegierte Sonderversorgung von „Schwerpunktbetrieben“ zu erheblichen sozialen Schieflagen. Letztlich driftete der gesamte Bereich der betrieblichen Sozialpolitik von den intendierten Leistungsanreizen ab und folgte eher dem Gesichtspunkt sozialer Befriedung.
In der Honecker-Ära zählte die betriebliche Sozialpolitik für die SED noch bis zum Herbst 1989 zu den Aktivposten. Die betrieblichen Sozialleistungen trugen dazu bei, dass die DDR als „industrielle, integrierte Hauswirtschaft“ funktionierte, in der es „sozialstaatlich garantierte und nivellierte Einkommen und staatlich subventionierte Sicherung der Grundbedürfnisse, keine Verfügungsrechte der Wirtschaftseinheiten über ihre Gewinne, aber Anspruch auf Deckung ihrer Verluste, zentrale Planung der Produktion und Verteilung mit Hilfe von Auflagen und Zuweisungen, polit. festgesetzte Preise und Löhne“ gab. (M. R. Lepsius) In diesem „Hauswirtschafts“-Kontext gehörte die betriebliche Sozialpolitik schon deshalb zu den zentralen Bereichen, weil ein erheblicher Teil der Bevölkerung an ihr partizipierte. Sie hob sich damit funktional und strukturell von der herkömmlichen betrieblichen Praxis ab, die sich als Alternative und Ergänzung der staatlichen Sozialpolitik verstand. In der DDR waren staatliche und betriebliche Sozialpolitik so eng miteinander verschränkt, dass der betriebliche Part mit guten Argumenten als Teil der staatlichen Sozialpolitik zu begreifen ist. Andererseits nahm die staatliche Sozialpolitik in der betriebsförmigen sozialist. „Arbeitsgesellschaft“ immer mehr die Züge einer allgemeineren betrieblichen Sozialpolitik an.
Auch zwischen 1971 und 1989 war die Entwicklung dieses Politikfeldes von einer erheblichen Diskrepanz zwischen polit. Intention und täglicher Praxis bestimmt. Abgesehen von den Ansprüchen der „Erziehungsdiktatur”, die wenig durchdrangen, hielten sich die beabsichtigen Steuerungs- und Mobilisierungseffekte gleichfalls in Grenzen. Selbst angesichts der „wiss.-techn. Revolution“ blieb die betriebliche Sozialpolitik faktisch auf die Träger eines histor. überholten Industrialisierungsmodells fixiert. Gerade deshalb aber erfüllte sie eine für die SED-Herrschaft wichtige soziale Befriedungsfunktion. Diese betraf nicht mehr die Linderung akuter Notlagen, sondern die Fähigkeit, mit den Mitteln der betrieblichen Sozialpolitik Defizite der zentralisierten Planwirtschaft, die immer auch eine Mangelwirtschaft war, zumindest teilweise zu kompensieren.
Neben dem primären Ziel, mit Hilfe der betrieblichen Sozialpolitik Leistungsanreize zu schaffen und die Arbeitskräfte für hohe Produktionsziele zu motivieren, sah der FDGB eine wichtige Aufgabe auch in der Erhaltung und Pflege des Arbeitskräftepotentials. Dem diente als eine besondere Form s.D. der 1947 geschaffene Feriendienst des FDGB. Bereits in den 50er Jahren vermittelte er jährlich über eine Mio. Ferienreisen in FDGB-eigene oder unter Vertrag stehende Ferienheime und in andere Ferienunterkünfte. Diese Zahl erhöhte sich bis in die 80er Jahre auf über fünf Mio. jährlich. Finanzielle Zuschüsse des FDGB ermöglichten es, die Ferienaufenthalte zu sehr niedrigen Preisen anzubieten, die weit unter den wirklichen Kosten lagen.


IV.   Gesundheits- und Sozialwesen

Wesentlichen Anteil an den s.D. hatte das Gesundheits- und Sozialwesen. In der SBZ gab der SMAD-Befehl Nr. 43 vom 9.9.1945 die Arbeitsrichtlinien für die Dt.ZVerw. für Gesundheitswesen vor. Die Schwerpunkte lagen bei der Neuordnung der ärztlichen Betreuung und auf einer besseren medizin. Versorgung in den Gesundheitseinrichtungen, u.a. durch den Einsatz von Gemeindeschwestern auf dem Lande sowie die Schaffung von Betriebssanitätsstellen und Betriebspolikliniken. Frauen, Jugendliche, Kinder und mit gesundheitsgefährdenden Arbeiten Beschäftigte sollten besonders betreut werden. In den folgenden Jahren lag der Akzent deutlich auf einer Verbesserung des betrieblichen Gesundheitsschutzes (Beschluss des Ministerrates über die weitere Entwicklung des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung in der DDR vom 8.7.1954, Gbl. der DDR, I, S. 841 f.). Zugleich wurde dem Arbeitsschutz größere Aufmerksamkeit gewidmet.
Obwohl das Gesundheits- und Sozialwesen in den 60er Jahren vor dem Hintergrund der 1963 begonnenen Wirtschaftsreform (NÖSPL) unter beträchtlichen Sparzwang geriet, gab es Fortschritte bei der ambulanten Versorgung der Bevölkerung und der Zurückdrängung so genannter Volkskrankheiten wie Tuberkulose, Scharlach und Ruhr. Auch konnte die Zahl der Betriebspolikliniken und -ambulatorien von 89 bzw. 177 (1960) auf 94 bzw. 243 (1970) erhöht werden. Den beschäftigungspolit. Aktivitäten zur Anhebung der Frauenerwerbsquote entsprachen verstärkte Bemühungen um den Gesundheitsschutz von Frauen und insbesondere von berufstätigen Müttern.
In der Honecker-Ära wurden erhebliche Mittel für die qualitative Verbesserung des Gesundheits- und Sozialwesens und für die soziale Besserstellung seiner Beschäftigten eingesetzt. Schwerpunkte bildeten der Ausbau der Allgemeinmedizin, der Kinderheilkunde und, insbesondere im Hinblick auf die Produktionsarbeiter, des Betriebsgesundheitswesens sowie die Erweiterung des Systems vorbeugender Untersuchungen und der Dispensairebetreuung.
Die für die DDR von Anfang an charakterist. Produktionsorientierung des Gesundheits- und Sozialwesens blieb auch in den 70er und 80er Jahren bestehen. Die Forderung nach höherer Qualität und besserer Kapazitätsauslastung ließ die Zahl der Krankenhäuser (1970: 626; 1988: 543) und der verfügbaren Betten (1970: 190 025; 1988: 165 950) zurückgehen. Doch stieg die Zahl der Polikliniken (1970: 452; 1988: 623) und der Ambulatorien (1970: 828; 1988: 1 032), wobei der Zuwachs besonders durch die betrieblichen Einrichtungen erfolgte (Betriebspolikliniken 1970: 94; 1988: 151; Betriebsambulatorien 1970: 243; 1988: 354). Die Zahl der im Gesundheits- und Sozialwesen der DDR Beschäftigten nahm deutlich zu (1970: 359 600; 1980: 481 700; 1988: 565 400).
Der finanzielle Aufwand für medizin. Betreuung, darunter Schutzimpfungen, Kinderkrippen, „Feierabend-“ (d.h. Senioren-) und Pflegeheime, für das Kur- und Bäderwesen, für Geldleistungen der SV bei Mutterschaft oder Krankheit usw. erhöhte sich kontinuierlich und erforderte wachsende Zuwendungen aus dem Staatshaushalt.

Ausgaben der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten sowie staatliche Zuschüsse (in Mio. Mark):
 
1960
1970
1980
1988
Ausgaben der SV für soziale Zwecke
5 562
8 419
17 064
19 968
Ausgaben der SV für gesundheitliche Zwecke
2 196
3 561
7 378
10 695
Zuschüsse aus dem Staatshaushalt (ohne Renten)
4 240
5 877
10 295
17 801
Quelle: StJBDDR 1989, Berlin 1989. S. 52; 350.

Trotz des zunehmenden Ressourcenaufwands für das Gesundheits- und Sozialwesen gelang es jedoch nicht, den Krankenstand der Arbeiter und Angestellten in der DDR dauerhaft zu senken. Im Zeitraum der 60er bis 80er Jahre lag er zumeist knapp über 6%, bei Frauen war er etwa einen halben Prozentpunkt höher als bei Männern.
Einer eher traditionellen Form der s.D. entsprach die Sozialfürsorge. In der DDR bezeichnete der Begriff ein staatliches System zur Unterstützung, Betreuung und Pflege von Menschen, die wirtschaftlich oder gesundheitlich hilfsbedürftig waren. Auf entsprechende Leistungen hatte jeder Bürger Anspruch, der nicht in der Lage war, seinen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit, eigenes Vermögen und sonstiges Einkommen zu bestreiten und der nicht durch unterhaltsverpflichtete Angehörige versorgt werden konnte. Die Leistungen der Sozialfürsorge bestanden aus finanzieller Unterstützung für alleinstehende Bürger, Ehepaare und unterhaltsberechtigte Kinder, Mietbeihilfen, Pflegegeld für Menschen, die der Betreuung durch Andere bedurften, Blindengeld, Beihilfen für Tuberkulose-, Geschwulst- und Zuckerkranke, der Übernahme der Aufenthaltskosten in Krankenhäusern, „Feierabend“- (Senioren)- und Pflegeheimen, Versicherungsschutz für Sachleistungen der Sozialversicherung und in einmaligen Beihilfen (z.B. für Kleidung, Heizmaterial, Wohnungsinstandsetzung). Die Sozialfürsorge wurde in der DDR als „Sorge um den Menschen“ von dem als diskriminierend kritisierten Wohlfahrtswesen westlicher Länder abgehoben. Die Zahl der Fürsorgeempfänger, mehrheitlich Frauen und Rentner, ging vor allem infolge von Rentenerhöhungen zurück: 56 966 (1970); 17 172 (1980); 5 485 (1988).
Als einer der bedeutendsten Träger s.D. trat die Volkssolidarität bereits in der SBZ in Erscheinung. Sie wurde 1945 in Dresden als Hilfsaktion „Volkssolidarität gegen Wintersnot“ gegründet. Angesichts des Nachkriegselends weitete sich ihre Tätigkeit in den folgenden Jahren rasch aus. Sie leistete Hilfe für Neubauern ebenso wie bei der Versorgung von Kriegsheimkehrern und bei der Kinderbetreuung. Die Volkssolidarität wurde bis zur Gründung der DDR ungeachtet polit. Gegensätze von Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und staatlichen Institutionen getragen. In der DDR zählte sie zu den Massenorganisationen. Während das staatliche Gesundheits- und Sozialwesen einen großen Teil der s.D. übernahm, engagierte sich die Volkssolidarität seither vor allem bei der ambulanten Altenhilfe. So bot sie Unterstützung für ältere Menschen durch Hauswirtschaftspflegerinnen und Nachbarschaftshilfe an, organisierte polit. und kulturelle Veranstaltungen in eigenen Klubs und Treffpunkten. Ihre Leistungen wurden in zunehmendem Maße angenommen (Veranstaltungen 1970: 73 944; 1988: 462 071; Besucher 1970: 6,9 Mio.; 1988: 13,3 Mio.) Einen großen Teil der Betreuungsarbeiten leisteten Helfer der Volkssolidarität (1970: 112 515; 1988: 200 448) in freiwilligem ehrenamtlichem Engagement. Die Finanzierung erfolgte durch Mitgliedsbeiträge, Spenden, Sammlungen und durch staatliche Zuschüsse. Die Volkssolidarität gehörte zu den zahlenmäßig großen Mitgliederorganisationen der DDR (1970: 1,6 Mio.; 1988: 2,1 Mio.). Leitungsorgane waren die Zentrale Delegiertenkonferenz, der Zentralausschuss und sein Präsidium sowie das Sekretariat. Vorsitzende der Volkssolidarität der DDR waren Helmut Lehmann (1946-59), Jenny Matern (1959-60), Walter Buchheim (1961-71), Robert Lehmann (1972-82) und Alois Bräutigam (1982-89).
Nach 1989 wurde die Volkssolidarität ein eigenständiger Wohlfahrtsverband, der über die Mitgliedschaft im Parität. Wohlfahrtsverband in die freie Wohlfahrtspflege integriert ist. Sie schloss sich in den neuen Ländern zu insgesamt etwa 140 Kreisverbänden zusammen, übt verschiedene s.D. aus und betreibt Einrichtungen in mehreren Hilfebereichen. 1999 beschäftigte sie bei etwa 460 000 Mitgliedern und ca. 36 000 ehrenamtlich Engagierten insgesamt etwa 12 000 Mitarbeiter.
Nach seiner 1946 durch die sowj. Besatzungsmacht verfügten Auflösung wurde das Deutsche Rote Kreuz (DRK) 1952 in der DDR neu gegründet. Es stützte sich bei seinen sozialen Dienstleistungen auf Mitglieder und Freunde (1988: 607 948 bzw. 524 443). Mitgliedsbeiträge und Spenden deckten nur einen Teil der Kosten, weshalb die Finanzierung weitgehend aus dem Staatshaushalt erfolgte. 1952 übernahm das DRK den Krankentransport und 1956 auf ca. 100 stark frequentierten Bahnhöfen die Betreuung von Reisenden. Es baute den Wasserrettungs- und Bergunfalldienst aus und widmete sich neben der Volkssolidarität, den kirchlichen Einrichtungen und den Gemeindeschwestern mit einem eigenen Pflege- und Sozialdienst der häuslichen Betreuung von kranken, älteren und behinderten Menschen. Die Organisation unterhielt zudem eigene Unfallmeldestellen (1960: 15 996; 1988: 6 648) und Unfallhilfsstellen (1960: 3 835; 1988: 2 090). Seit 1967 war das DRK der DDR als Träger des zivilen Bevölkerungsschutzes der Zivilverteidigung unterstellt.
Mit dem DRK kooperierten die vom staatlichen Gesundheitswesen angestellten und in medizin. Berufen ausgebildeten Gemeindeschwestern. Zur Betreuung einer ländlichen Gemeinde oder eines Stadtbezirkes arbeiteten sie in Gemeindeschwesternstationen. Ihr Tätigkeitsschwerpunkt lag im Bereich der Hauskrankenpflege, erstreckte sich jedoch darüber hinaus auf andere Bereiche des Gesundheitsschutzes. In Gemeinden ohne Arzt wurden die Gemeindeschwesternstationen auch für regelmäßige ärztliche Sprechstunden genutzt. Als Gemeindeschwestern bezeichnete man zudem die im kirchlichen Dienst stehenden und für die häusliche Krankenpflege eingesetzten Schwestern. Das Netz der Gemeindeschwesternstationen war in der DDR relativ dicht ausgebaut. Bei 8 491 Landgemeinden unter 2 000 Einwohner gab es 1950 insgesamt 2 620 solcher Einrichtungen; 1988 waren es bei 6 578 Gemeinden dieser Größe 5 513. In kleineren Orten erwies sich die Gemeindeschwester als wichtige soziale Bezugsperson.


V.   Kirchliche Sozialeinrichtungen

Neben den staatlich organisierten s.D. spielten in der DDR kirchliche Sozialeinrichtungen eine wichtige Rolle. Diese gerieten zwar in den frühen 50er Jahren unter massiven polit. Druck der SED, doch konnten sie sich auf Dauer behaupten. Mit ihrem Tätigkeitsschwerpunkt in der Betreuung und Rehabilitation Behinderter sowie in der Altenpflege bildeten sie ein unverzichtbares Segment der s.D.
Die größte kirchliche Sozialeinrichtung war die Diakonie der evangel. Kirchen. In den 80er Jahren umfasste der 1969 gegründete Bund der Evangel. Kirchen in der DDR (BEK) acht Gliedkirchen mit 6 435 000 Mitgliedern (38,7% der Bevölkerung) in 7 347 Gemeinden mit 4 161 Geistlichen. Die evangel. Kirchen waren Träger des Diakon. Werks - Innere Mission und Hilfswerk. 1986 betreute es 44 Krankenhäuser mit 6 244 Betten, 105 Heime für geistig und körperlich Behinderte, 200 Alten- und Altenpflegeheime mit rund 11 000 Plätzen, 32 Tagesstätten für Behinderte, 19 Kinderheime, 310 Gemeindepflegestationen sowie 278 Kindergärten und -horte. Neben einem festen Mitarbeiterstamm von ca. 15 000 Personen beteiligten sich viel ehrenamtliche Helfer an der Arbeit der Diakonie. Die staatlich anerkannte Ausbildung des mittleren medizin. Personals erfolgt in sechs Diakonenanstalten und 15 Krankenpflegeschulen.
Die Kathol. Kirche zählte Mitte der 80er Jahre in der DDR 6 Jurisdiktionsbezirke mit ca. 1,1 Mio. Mitgliedern (6,2% der Bevölkerung) in rd. 1 040 Pfarreien und anderen Gottesdienst-Stationen mit ca. 1 300 Geistlichen. Die international tätige Sozialorganisation Caritas war in der praktischen Arbeit den jeweiligen Bischöfen unterstellt und besaß in den einzelnen Bezirken zentrale Direktionen sowie in den Dekanaten und Pfarreien zahlreiche Nebenstellen. In der DDR betrieb die Caritas in den 80er Jahren 33 Krankenhäuser mit ca. 5 000 Plätzen, 108 Altenheime mit 3 500 Plätzen (davon 345 Plätze in Pflegeheimen), 152 Kindergärten, -krippen und -horte mit rund 7 700 Plätzen, 22 Säuglings- und Kinderheime sowie Wohnheime für Jugendliche mit 745 Plätzen, 21 Heime und Tagesstätten für geistig Behinderte mit 1 000 Plätzen, 27 Erholungsheime mit 630 Plätzen, vier Kurheime mit 322 Plätzen, 54 Ausbildungsstätten mit 1 351 Plätzen und zwei Seminare (in Magdeburg und Karl-Marx-Stadt/heute wieder: Chemnitz) für den kirchlich-karitativen Dienst. Die Caritas hatte zu dieser Zeit 7 500 hauptberufliche Beschäftigte (darunter ca. 1 300 Ordensschwestern) und 7 300 ehrenamtliche Mitarbeiter.
Die beträchtlichen Kapazitäten, über die Diakonie und Caritas im Rahmen der s.D. verfügten, entlasteten die staatlichen Organisationen nicht zuletzt in besonders komplizierten und aufwendigen Bereichen der Betreuung und Pflege. Das kam vor allem gesellschaftlichen Randgruppen zugute: Alten, Körperbehinderten, psychisch Kranken, Suchtkranken und -gefährdeten sowie sozial Gefährdeten.
Zu den s.D. zählte in gewisser Weise auch die soziale Wiedereingliederung von Menschen, die aus dem Strafvollzug entlassen worden waren. Nach dem Wiedereingliederungsgesetz von 1977 (Gbl. der DDR 1977, I, Nr. 10, S. 98) waren die lokalen Staatsorgane zu Maßnahmen verpflichtet, die eine sofortige Arbeitsaufnahme oder die Fortsetzung eines Ausbildungsverhältnisses, die Zuweisung von Wohnraum und die kollektive erzieher. Einflussnahme gewährleisteten.


VI.   Arbeitszentrierung der s.D.

Die Hauptfunktion der in der DDR präsenten s.D. bestand im Erhalt, in der Pflege und der Regeneration menschlicher Arbeitskraft. In diesem allgemeinen Sinne entsprachen sie den Bedürfnissen der sozialist. Arbeitsgesellschaft. Diese spezif. Aufgabenbestimmung war auch ein Grund, den Bereich der betrieblichen Sozialpolitik eng mit dem der s.D. zu verknüpfen. Über den Kernaufgabenbereich hinaus orientierten sich die staatlich organisierten s.D. an den weiter gesteckten Zielen der SED-Sozialpolitik. Hier sind vor allem schon früh intendierte polit. Legitimations- und Erziehungsabsichten zu nennen. Durch von s.D. erbrachte Leistungen sollte das Prinzip der „Sorge um den Menschen“ einen Loyalitätsimpuls erzeugen, nicht zuletzt in Bevölkerungskreisen, die dem Parteiregime mehr oder minder distanziert gegenüberstanden. Zugleich blieb jener Teil der s.D., der nicht mit mobilisierenden und Loyalität stiftenden Absichten verbunden war, sondern im engeren Sinne fürsorger. Funktionen erfüllte, dem traditionellen Wohlfahrtswesen eng verbunden. Dies war besonders bei der staatlichen Sozialfürsorge, der Volkssolidarität und den kirchlichen Sozialeinrichtungen der Fall. Ein charakterist. Merkmal der Finanzierung von s.D. bestand in der zunehmenden Abhängigkeit von Zuschüssen aus dem Staatshaushalt. Die wachsenden Kosten wurden kaum durch höhere Beiträge und zunehmende Spenden ausgeglichen. Der hierdurch geförderte Eindruck kostenfreier Verfügbarkeit von s.D. begünstigte ihre Inanspruchnahme. Gleichwohl bildeten die s.D. bis zum Ende der DDR eine leistungsfähige Struktur.

Peter Hübner


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