FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Disziplinarmaßnahmen gegen Werktätige. Das Recht, D.g.W. anzuordnen, lag entsprechend dem Prinzip der Einzelleitung und den daraus abgeleiteten betrieblichen Weisungsbefugnissen, wie sie in der Arbeitsordnung und den individuellen Arbeitsverträgen festgehalten wurden, beim Betriebsleiter oder einer von ihm beauftragten Person.
Laut Gesetz der Arbeit (1950) konnten schuldhafte Verstöße gegen die Arbeitsdisziplin mit einem Verweis, einer strengen Verwarnung, öffentlichem Tadel, dem Entzug von Sozialleistungen, der Anrechnung „verbummelter“ Arbeitszeit auf den Urlaub oder schlimmstenfalls mit der fristlosen Kündigung geahndet werden. Das Gesetzbuch der Arbeit (GBA) von 1961 und das Arbeitsgesetzbuch der DDR (AGB) von 1977 sahen bei schuldhaften Verstößen gegen die Arbeitsdisziplin dann grundsätzlich nur noch den Verweis, den strengen Verweis oder die fristlose Kündigung vor. Außerdem hatten die Weisungs- und Disziplinarbefugten nun zu entscheiden, ob sie selbst tätig werden oder ein erzieher. Verfahren (vgl. Ideologievermittlung und Erziehung) bei der zuständigen betrieblichen Konfliktkommission beantragen wollten. Erst das AGB von 1977 schrieb den Disziplinarbefugten bei der Festlegung von D.g.W. zwingend die mündliche oder schriftliche Anhörung des angeschuldigten Werktätigen sowie die Information und Einbeziehung der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) in das Verfahren vor. Während sie Verweise und strenge Verweise auch gegen den Willen der BGL beschließen konnten, bedurfte die fristlose Kündigung stets der ausdrücklichen, notfalls nachträglichen Zustimmung der BGL, um rechtlich wirksam zu werden. Wurde ein Disziplinarverfahren von einer der beiden Parteien vor eine Konfliktkommission, die Kammer für Arbeitsrecht beim Kreisgericht oder gar vor ein Strafgericht gebracht, besaß die BGL lediglich ein Informationsrecht. Verweise und strenge Verweise, entweder sofort akzeptiert oder von der Konfliktkommission bestätigt, wurden für die Dauer von zwölf Monaten in die Personalakte des betreffenden Werktätigen eingetragen. Die BGL hatte das Recht, dem Disziplinarbefugten die vorzeitige Löschung eines Disziplinarvermerks vorzuschlagen, wenn der „Delinquent“ eine „vorbildliche Arbeitsdisziplin“ an den Tag legte. Unbenommen von den ergriffenen D.g.W. konnte der Betrieb außerdem Schadensersatzansprüche geltend machen.
Die prinzipiellen Möglichkeiten der negativen Sanktionierung von mangelnder Arbeitsdisziplin wurden in den VEB praktisch allerdings nur wenig genutzt. Bereits in den späten 50er Jahren, als die sozialist. Arbeitsmoral von SED und Gewerkschaften noch sehr ernst genommen wurde und mit einem rigorosen Erziehungsanspruch verbunden war, beklagten Arbeitsrechtler, dass „die Notwendigkeit strenger Arbeitsdisziplin […] noch immer unterschätzt, die Arbeitsordnung nicht in genügendem Maße angewendet, die Bedeutung der rechtlichen Regelung der Arbeitdisziplin und ihre Ausnutzung im Kampf um die neue Einstellung zur Arbeit verkannt“ werde (R. Schneider, Geschichte des Arbeitsrechts der Deutschen Demokratischen Republik, 1957, S. 66). Doch angesichts der chronischen Unzulänglichkeiten der zentralen Planwirtschaft, die sich nach den gescheiterten Reformexperimenten der 60er Jahre (vgl. NÖSPL und ÖSS) in den 70er und 80er Jahren immer deutlicher zeigten, war es den Betriebs-, Abteilungs- und Arbeitsgruppenleitern kaum möglich, wie im Arbeitsrecht eigentlich vorgeschrieben, durch eine effektive Arbeitsorganisation und allgemein leistungsfördernde Arbeitsbedingungen gute Voraussetzungen für die Entfaltung der sozialist. Arbeitsdisziplin zu schaffen. Da Stockungen in den Produktions- und Arbeitsabläufen zum betrieblichen Alltag gehörten, mussten sie zum Beispiel notgedrungen auch die unzureichende Ausnutzung der regulären Arbeitszeiten tolerieren. In dieser Situation D.g.W. zu ergreifen, hätte die labilen innerbetrieblichen Arrangements und Kompromisse nur unnötig gefährdet.
F.S.