FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Tarifsystem. Das T. der DDR kann als Gesamtheit der staatlichen Bestimmungen über die im Einzelnen nach gesellschaftlicher Bedeutung und individueller Qualifikation differenzierte Festlegung des Lohns als Grundbestandteil des Arbeitseinkommens für die Werktätigen verstanden werden. Das T. der DDR, deren Produktionsmittel sich überwiegend in staatlicher Hand befanden, basierte auf gesetzlich kodifiziertem Recht und nicht auf der Tarifautonomie von Arbeitgebern und Arbeitnehmern und den zwischen ihnen unabhängig vom Staat ausgehandelten Tarifverträgen, wie in westlichen Demokratien üblich. Auch in der DDR wurden zwar für die verschiedenen Wirtschaftsbranchen und Beschäftigungsbereiche formell noch „Tarifverträge“ zwischen den staatlichen Arbeitgebern und den Gewerkschaften abgeschlossen, die sog. Rahmenkollektivverträge (RKV), doch die meisten der traditionell eigentlich erst in Tarifverhandlungen zu klärenden Fragen, vor allem die Höhe des Lohns, die Zahl der Lohngruppen und die Länge der Arbeitszeiten, waren bereits vorab durch Gesetze und Verordnungen geregelt worden und mussten von den beiden formell vertragschließenden Parteien als verbindliche Vorgaben betrachtet werden. Ihre Aufgabe bestand lediglich darin, die allgemeinen Bestimmungen für die einzelnen Wirtschaftsbranchen und -bereiche umzusetzen. Eine Tarifautonomie bestand also nicht mehr. Vielmehr war das T. der DDR ein Instrument des Staates zur Durchsetzung seiner Lohnpolitik.
Nach Kriegsende blieben in der SBZ zunächst die von den nationalsozialist. Treuhändern der Arbeit erlassenen Tarifordnungen in Kraft, um das Lohnniveau stabil zu halten (was allerdings nur eingeschränkt gelang). Die im Juni 1945 zugelassenen Gewerkschaften hatten zwar das prinzipielle Recht zugesprochen bekommen, „Kollektivverträge“ mit den Unternehmern abzuschließen, doch die SMAD konkretisierte bereits mit Befehl Nr. 180 vom 23.12.1945, dass für die Tarifverträge der einzelnen Wirtschaftsbranchen, die zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern vereinbart wurden, eine staatliche Genehmigungspflicht bestand (damit behielt sie sich die punktuelle Anhebung der Löhne und Gehälter zur Leistungsstimulierung in bestimmten Bereichen ganz nach besatzungspolit. Interessen selbst vor). Von einer Wiederherstellung der früheren Tarifautonomie konnte also nicht die Rede sein. Da sich die Eigentumsverhältnisse in der Wirtschaft im Umbruch befanden, kam es auf der Arbeitgeberseite überdies zu schnellen Veränderungen. Mit Befehl Nr. 61 vom 14.3.1947 erteilte die SMAD dem FDGB und seinen Einzelgewerkschaften die Erlaubnis, Kollektivverträge sowohl mit privaten Unternehmern und ihren Vereinigungen (das waren die Industrie- und Handelskammern sowie Handwerkskammern) als auch mit den in Volkseigentum überführten oder noch zu überführenden Betrieben und ihren Verwaltungen abzuschließen; hierfür enthielt der Befehl einen einheitlichen „Musterkollektivvertrag“, dessen Bestimmungen als verbindlich galten. Abweichend von den Tarifverträgen der Weimarer Republik durfte von den neuen Kollektivverträgen, die in das zentrale Planungssystem eingebunden wurden, in individuellen Arbeitsverträgen nicht nur - wie früher - nicht zu Ungunsten der Beschäftigten, sondern nunmehr auch nicht zu ihren Gunsten abgewichen werden.
Die Kollektivverträge wurden mit dem Gesetz der Arbeit von 1950 bestätigt. Eine dazu erlassene Verordnung vom 8.6.1950 unterschied zwischen Tarifverträgen mit branchenweiter Gültigkeit (RKV) sowie Betriebsverträgen für die volkseigenen Betriebe und Betriebsvereinbarungen für die privatwirtsch. Betriebe. Für die volkseigenen Betriebe war seit Einführung der Betriebskollektivverträge (BKV) im Februar 1951 nicht mehr von Betriebsverträgen die Rede. Diese wurden erst wieder für die Betriebe mit staatlicher Beteiligung, die ab 1956 entstanden, eingeführt; inhaltlich stimmten sie im Wesentlichen mit den BKV überein. Auch der Begriff Tarifverträge wurde immer stärker auf die Privatwirtschaft eingegrenzt. Für die volkseigene und genossenschaftliche Wirtschaft sprach man dagegen von RKV, die seit 1954 außerdem nur noch nach vorgegebenem Musterkollektivvertrag abgeschlossen werden durften.
An diesem bis Mitte der 50er Jahre etablierten T. änderte sich in den folgenden Jahrzehnten nichts Grundlegendes mehr. Auch das Arbeitsgesetzbuch der DDR (AGB) von 1977 führte in Hinblick auf das T. zu keiner nennenswerten Erweiterung der Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte des FDGB - wie in anderen Bereichen.
F.S.