FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Brigade. Der Begriff B. (auch: Arbeits- oder Produktionsb.) bezeichnete die nach sowj. Vorbild (vgl. sowj. Referenzmodell) überwiegend im Rahmen entsprechender Kampagnen des FDGB gebildeten Gruppen von durchschnittlich etwa 11 (1953) bis 17 (1973-88) Beschäftigten, die in einem VEB entsprechend den technischen und organisator. Anforderungen des Produktions- und Arbeitsprozesses enger zusammenarbeiteten und der Leitung eines Brigadiers unterstanden. Ab Mitte der 60er Jahre waren die B. in ihrer personellen Zusammensetzung meist identisch mit den ebenfalls nach Belangen der Produktions- und Arbeitsorganisation gebildeten jeweiligen Gewerkschaftsgruppe. Der für die Gewerkschaftsgruppe zuständige Vertrauensmann stand allerdings meist im Schatten des Brigadiers. Als Sonderformen der B. sind Jugendb., Frauenb., Qualitätsb. und Komplexb. sowie - davon etwas abzusetzen, weil sie ein spezielles Beratungsgremium der Neuererbewegung darstellten - die Neuererb. In einem umfassenderen Sinne sowie bei weniger stark ausgeprägtem Bezug zur Produktionssphäre, etwa in der Verwaltung, wurde seit Mitte der 60er Jahre verstärkt auch von Kollektiv (oder Arbeitskollektiv) gesprochen.
Vom FDGB bzw. dessen Industriegewerkschaften wurden die B. vor allem als Instrument zur Arbeitsmobilisierung genutzt, als eine Organisationsform, um die Werktätigen im Rahmen des sozialist. Wettbewerbs für die Erfüllung der zentralen Wirtschaftspläne zu motivieren. In Abstimmung mit der SED-Spitze regte der FDGB-BuV wiederholt Kampagnen zur Bildung von B. an und forderte sie auf, mit der Betriebsleitung und der BGL einen Brigadevertrag über ihren Beitrag zur Erfüllung bzw. Übererfüllung des betrieblichen Wirtschaftsplanes abzuschließen. In der zentraladministrativen Planungshierarchie galt die B. offiz. auch als „kleinste planende und abrechnende Betriebseinheit“, was praktisch allerdings oft an der mangelnden Bereitschaft der Betriebe zur Aufschlüsselung der Plandaten bis hinunter auf diese Ebene scheiterte. Da Plandiskussion und -umsetzung entsprechend der marxist.-leninist. Ideologie als grundlegende Elemente zur Entfaltung der sozialist. Demokratie in den VEB betrachtet wurden, sah man in den B. zugleich eine wichtige Organisationsform der Mitwirkung und Mitbestimmung für die Werktätigen. Die B. wurden außerdem als Erziehungs- und Lebensgemeinschaften ihrer Mitglieder verstanden, an deren Freizeitaktivitäten auch die Ehepartner und Familien teilhaben sollten, um so zur Ausbildung eines höheren sozialist. Bewusstseins in der Gesellschaft beizutragen. Um den Prozess gegenseitiger Erziehung der Brigademitglieder zu dokumentieren und zu fördern, unterstützte der FDGB die Idee, Arbeits- wie Freizeitaktivitäten des Brigadelebens in einem Brigadetagebuch festzuhalten (vgl. Betrieb als Sozialisationsinstanz).
Erste B. entstanden im Zuge der von SMAD, SED und FDGB im Herbst 1947 ins Leben gerufenen Wettbewerbsbewegung, wobei es sich vor allem um sog. Jugendb. handelte. Ab Mitte 1949 entstanden auf Initiative des FDGB darüber hinaus sog. Qualitätsb., die sich um eine Verbesserung der Erzeugnisgüte bemühten, schwerpunktmäßig in der Textilindustrie, weshalb es sich häufig um reine Frauenb. handelte. Im März 1950 sprach sich der BuV schließlich für die generelle Übernahme des sowj. Brigadesystems in der DDR aus - und konnte als Ergebnis einer breit angelegten Kampagne am Jahresende 1950 offiz. bereits rund 98 000 Brigadegründungen registrieren. Darunter befanden sich zahlreiche B., die insbesondere durch die Übernahme sowj. Arbeitsmethoden zu mehr Effektivität und Produktivität in ihren Betrieben beitragen wollten. Nachprüfungen durch Instrukteure des BuV ergaben, dass viele dieser B. nur auf dem Papier bestanden, dennoch lag die Zahl der tatsächlich gebildeten B. aber deutlich über den Erwartungen. Viele Arbeiter hatten gern die Chance genutzt, unliebsame ältere Vorarbeiter einfach durch neue, oft deutlich jüngere Brigadiere aus den eigenen Reihen zu ersetzen. Von ihnen erhofften sie sich nicht nur eine bessere Interessenvertretung gegenüber den Meistern, Abteilungs- und Betriebsleitern, sondern auch mehr Spielräume für die eigenverantwortliche Arbeitsorganisation, um die Arbeitsnormen besser erfüllen und dadurch einen höheren kollektiven Leistungslohn erzielen zu können, über dessen Aufteilung die B. selbst entschied. B. erfüllten damit teilweise quasi gewerkschaftliche Funktionen, die der FDGB selbst als „Nurgewerkschaftertum“ bekämpfte. Aus dieser Eigendynamik der Brigadebildung ergaben sich für den FDGB mit seinen noch recht schwachen betrieblichen Gliederungen BGL und AGL bald ernste Kontrollprobleme. Die SED reagierte im Juni 1952 mit der deutlichen Wiederaufwertung des Meisters gegenüber den B. und übergab zugleich die bisher beim FDGB-BuV liegende Verantwortung für die Brigadebewegung den staatlichen Wirtschaftsleitungen: Die Betriebsleitungen besaßen nun das Recht, Brigadiere abzusetzen und B., die nicht dem technolog. Prozess entsprachen, aufzulösen. Doch vor allem der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 führte zu einem Rückschlag für die Brigadebewegung.
Erst nachdem die SED auf ihrem V. Parteitag im Juli 1958 die „ökonom. Hauptaufgabe“ proklamiert hatte, das in Westdeutschland erreichte Konsumniveau in kurzer Zeit zu überbieten, und zu diesem Zweck u.a. mit 10 Geboten der sozialist. Moral heftig an die sozialist. Arbeitsmoral appelliert hatte, sah sich der FDGB aufgefordert, die Brigadebildung wieder zu beleben, nun mit Unterstützung durch die FDJ. Im Januar 1959 starteten FDGB und FDJ unter dem Motto „Auf sozialist. Weise arbeiten, lernen und leben!“ eine Kampagne zum Kampf um den EhrentitelBrigaden der sozialist. Arbeit“, die nicht nur durch ihre Arbeitsleistungen, sondern auch durch ihr hohes Bildungs- und Kulturniveau die Überlegenheit sozialist. Produktionsverhältnisse beweisen sollten. Im Bezirk Halle mit seinen für den ehrgeizigen Siebenjahrplan 1959-65 besonders wichtigen chemischen Großbetrieben bildeten sich entsprechend dem von FDGB und FDJ sorgfältig geplanten Szenario zunächst vor allem neue Jugendb.; 1960 nahmen dann nach offiz. Angaben im Chemiebezirk der DDR etwa 60%, in der gesamten DDR etwa 45% der Industriearbeiter an der sozialist. Brigadebewegung teil und kämpften um den neuen Ehrentitel. Die am Wettbewerb teilnehmenden B. erhielten i.d.R. einen als Objektlohn bezeichneten kollektiven Leistungslohn, dessen individuelle Aufteilung sie selbst vornehmen durften. Das sollte nicht nur einen allgemeinen Leistungsanreiz schaffen, sondern auch zur gegenseitigen Erziehung der Mitglieder einer B. beitragen, denn geringe Leistungsbereitschaft oder mangelnde Arbeitsdisziplin einzelner musste sich so unweigerlich zum Nachteil aller Brigademitglieder auswirken. Die Gewinner des Wettbewerbs, das waren bis Mitte der 60er Jahre zunächst nur etwa 3% der teilnehmenden B., erhielten zusätzliche Prämien. Bei den Arbeitern gab es auch diesmal wieder Bestrebungen, die B. für eine Erweiterung der eigenen Gestaltungsspielräume bei der Arbeitsorganisation und in Lohnfragen, also zur Durchsetzung eigener sozialer Interessen, zu nutzen. Dem FDGB drohte die Entwicklung erneut aus der Kontrolle zu laufen. Die B. entwickelten sich partiell zu einer echten Konkurrenz für seine betrieblichen Gliederungen. Im Sommer 1960 wurde der von den B. erhobene Anspruch auf betriebliche Mitbestimmung und die in einigen Großbetrieben bereits vollzogene Bildung von „Brigaderäten“ von der SED-Führung schließlich als ernste Gefahr für die Einzelleitung der Betriebe und für den demokrat. Zentralismus in Staat und Gesellschaft eingestuft, mit dem Verdikt des „Syndikalismus“ belegt und strikt zurückgewiesen. Der FDGB-BuV schloss sich dieser Meinung an. Die Bildung weiterer B. wurde abgebremst, ein Teil der bestehenden aufgelöst und die aktivsten Brigadiere enger in die Arbeit der Ständigen Produktionsberatungen einbezogen.
In den Jahren der wirtschaftspolit. Reformversuche des Neuen Ökonom. Systems der Planung und Leitung (NÖSPL) (1964-67) verloren die B., die nun vermehrt als „Kollektive der sozialist. Arbeit“ bezeichnet wurden, infolge nur geringerer lohnpolit. Spielräume der Betriebe weiter an Bedeutung. Erst in der letzten Phase des scheiternden Reformexperiments, den Jahren des Ökonom. Systems des Sozialismus (ÖSS) (1968-70), stieg ihre Zahl allmählich wieder an, weil die Wettbewerbsbewegung nun erneut aufgewertet wurde; sie nahm allerdings immer bürokrat. Züge an. Der formelle Organisationsgrad der Industriearbeiter in B. stieg bis zum Ende der DDR deutlich an: 1970 lag er bereits bei mehr als 50%, 1988 schließlich bei rund 84%. Parallel dazu stieg der Anteil derjenigen B., die tatsächlich einen Titel und entsprechende Geldprämien errangen, deutlich an, von etwa einem Drittel im Jahr 1973 über rund die Hälfte im Jahr 1978 bis hin zu 85% im Jahr 1988.
Anspruch und betrieblicher Alltag des Brigadelebens fielen immer weiter auseinander. Dem FDGB gelang es mit Hilfe der B. weder, die Werktätigen zu dauerhaft hoher Leistungsbereitschaft im Sinne der zentral vorgegebenen wirtschaftspolit. Ziele zu mobilisieren noch gar sie zu neuen sozialist. Persönlichkeiten zu formen. Eine Steigerung der Arbeitsleistungen fand oftmals nur noch auf dem Papier statt, so dass die jährlich wiederholten Wettbewerbe um bestimmte Ehrentitel sich in den 70er und 80er Jahren immer mehr zu einer bürokrat. Farce entwickelten, bei der die Zuteilung der Prämien unabhängig von den tatsächlich erbrachten Leistungen von vornherein feststand. Die B. verlangten die Einordnung des Einzelnen in das Kollektiv und provozierten so zusätzliche Konflikte, nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch bei der Einmischung in familiäre Angelegenheiten und nachbarschaftliche Beziehungen. Andererseits schufen sie Möglichkeiten für das Aushandeln informeller Kompromisse zur Beschwichtigung und Begrenzung schwelender Konflikte, auch und gerade lohnpolit. Natur. Sie trugen damit dazu bei, dass sich Arbeitskonflikte nicht zu offenen gesellschaftlichen und polit. Konflikten entwickelten.
F.S.