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Zwangsmigrationen in Europa 1938-48

Die deutsche Besatzungspolitik in der Tschechoslowakei

Eines der ersten Opfer der NS-Expansionspolitik, welche als Fernziel die Eroberung Osteuropas und seine Umwandlung in einen Teil eines ethnisch homogenen deutschen Reiches hatte, war die Tschechoslowakei. Nach dem "Anschluss" Österreichs (Frühjahr 1938) rückte sie ins Visier der deutschen Machtpolitik. Den Vorwand für die Forderung nach Grenzveränderung zugunsten des Deutschen Reiches lieferte dabei die Existenz einer zahlenmäßig bedeutenden deutschen Minderheit.

Die Tschechoslowakei bis 1938

Das Territorium der späteren Tschechoslowakei war vom 16. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg Teil des Habsburger Reiches gewesen. Eine tschechische nationale Bewegung entstand im Laufe des 19. Jahrhunderts, wobei zunächst eine moderne tschechische Sprache und Literatur entwickelt wurden. Ab der Mitte des Jahrhunderts wurden verstärkt politische Forderungen nach Gleichberechtigung der tschechischen Sprache und nach einer autonomeren Stellung der Länder der böhmischen Krone im Rahmen des österreichisch-ungarischen Verfassungsgefüges erhoben. Der Konflikt mit der tschechischen Nationalbewegung und parallelen Emanzipationsbestrebungen in anderen Kronländern bedeutete ein starke Belastung für die Donaumonarchie in den letzten Jahrzehnten ihres Bestehens.

In der nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Tschechoslowakei gab es, wenn man von einem ethnisch-sprachlich definierten Begriff der Nation ausgeht, mehrere Nationalitäten. Tschechen stellten etwa die Hälfte der Bevölkerung, Slowaken etwa 15 Prozent. Der Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung betrug über ein Fünftel; andere Minderheiten (vor allem Ungarn) stellten zusammen etwa ein Zehntel. Die Minderheiten in den böhmischen Ländern lebten in den wirtschaftlich und industriell am weitesten entwickelten Randgebieten.

Schwierig war für die Mitglieder der deutschsprachigen Minderheit, ihre empfundene Identität als Deutsche – im ethnischen Sinne – mit ihrer neuen tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft in Einklang zu bringen. Dabei hatten sie und ihre Vorfahren seit Jahrhunderten in einem Staatsverbund mit Tschechen gelebt und bis 1938 niemals die deutsche Staatsangehörigkeit gehabt. Insbesondere die Anhänger der deutsch-nationalistischen Bewegung, die in einem Teil der deutschsprachigen Minderheit Fuß fasste, fühlten sich aber stärker mit Deutschland als mit der Tschechoslowakei verbunden und hatten eine dezidiert negative Einstellung zum tschechoslowakischen Staat. Deren Gründung und der daraus resultierende Status als nationale Minderheit wurden als Ungerechtigkeit gesehen; sie war mit dem Verlust einer relativ privilegierten Stellung verbunden, die sie im Habsburger Reich aufgrund der deutschen Amtssprache gehabt hatten. Obwohl die deutschsprachigen Bewohner der verschiedenen Regionen vorher nur wenig untereinander verbunden gewesen waren, entwickelte sich seit der Gründung des tschechoslowakischen Staates eine neue gemeinsame Identität als Deutsche: In den 1920er-Jahren etablierte sich für sie der Begriff "Sudetendeutsche", der in den 1930er-Jahren weite Verbreitung fand. Für die Deutschen in der Slowakei war der Begriff "Karpatendeutsche" gängig.

Schon 1919 gab es Ausschreitungen bei Demonstrationen – damals noch für den Anschluss der mehrheitlich deutschsprachigen Gebiete an Österreich –, bei denen 54 Menschen getötet wurden. Die Konflikte setzten sich in den folgenden Jahren auf politischer Ebene fort: Viele Maßnahmen (Bodenreform, Schulreform, Sprachpolitik) wurden von der deutschen Minderheit als diskriminierend empfunden, bedeuteten aber zum Teil auch nur eine Emanzipation der Tschechen und Slowaken.

Nicht die gesamte deutsche Minderheit war dem tschechoslowakischen Staat gegenüber so grundsätzlich ablehnend eingestellt wie die deutsch-nationalistische Rechte. Einige Parteien wie Deutsche Sozialdemokratische Arbeiterpartei (DSAP) oder die Deutsche Christlich-Soziale Volkspartei fanden sich schließlich zur Mitarbeit bereit, und 1926 gab es erstmals deutsche Minister im tschechoslowakischen Kabinett.

Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise fand nationalsozialistisches Gedankengut immer breitere Resonanz unter den Sudetendeutschen. Mit der deutsch-nationalistischen "Sudetendeutschen Partei" (SdP) unter Konrad Henlein (gegründet 1933 als "Sudetendeutsche Heimatfront"), die bei den Wahlen vom Mai 1935 zwei Drittel der deutschen Stimmen erhielt, erfolgte eine Radikalisierung der sudetendeutschen Forderungen. Die Partei bekannte sich unter dem Einfluss des Kreises um den späteren Machthaber in der besetzten Tschechoslowakei und Planer von massiven Liquidierungs- und Umsiedlungsaktionen Karl Hermann Frank schließlich offen zum Nationalsozialismus und betrieb in Absprache mit der deutschen NS-Führung den so genannten Anschluss des "Sudetenlands" (d. h. der überwiegend deutschsprachigen Randgebiete Böhmens, Mährens und Böhmisch-Schlesiens) ans Deutsche Reich. 1938 wurde die SdP in die NSDAP eingegliedert. Relativ zur Einwohnerzahl war im "Sudetengau" die NSDAP-Mitgliederzahl die höchste in ganz Hitler-Deutschland.

Das Münchener Abkommen

Die angebliche Unterdrückung der Sudetendeutschen, die von der Henlein-Partei und dem Reichspropagandaministerium lautstark in die internationale Öffentlichkeit getragen wurde, bildete für Hitler den Vorwand, ab 1938 die Zerschlagung der Tschechoslowakei zu betreiben – die bei allen inneren Konflikten einer der wenigen demokratischen Staaten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa geblieben war. Nach Kriegsdrohungen und einem Ultimatum ("Sudetenkrise") erzwang Hitler im "Münchener Abkommen" vom 30. September 1938 die Zustimmung Frankreichs und Großbritanniens zur Abtretung der Sudetengebiete, etwa eines Fünftels des Territoriums, an das Deutsche Reich. Auch die Siedlungsschwerpunktgebiete der übrigen Minderheiten wurden kurz darauf an die Nachbarstaaten angegliedert. Ausschreitungen gegen Juden begannen; viele Tschechen, Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten flohen ins Landesinnere.

Das Abkommen zwischen Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien kam ohne Beteiligung der Tschechoslowakei zustande. Die darin festgelegten Bestandsgarantien für den restlichen tschechoslowakischen Staat hielten nur bis zum März 1939, als Hitler seine ursprünglichen Pläne zur "Zerschlagung" der Tschechoslowakei vollendete und einen eigenen, von Deutschland abhängigen slowakischen Staat sowie das "Protektorat Böhmen und Mähren" unter Kontrolle eines deutschen "Reichsprotektors" gründete.

Die Besatzungs- und Kriegszeit

Die deutsche Besatzung kontrollierte die Tschechoslowakei mit Gewalt und Terror, insbesondere gegen die tschechische Intelligenz und das Bürgertum. Das Protektorat war ein bedeutender Standort der deutschen Rüstungsindustrie und wurde wirtschaftlich ausgeplündert. Die tschechischen Arbeiter, die dafür gebraucht wurden, waren gegenüber den Deutschen relativ wenig benachteiligt. Ziel dieser Politik war es auch, den tschechischen Widerstand unter Kontrolle zu halten.

Nachdem der anfangs nicht sehr aktive tschechische Widerstand ein Attentat auf den stellvertretenden Reichsprotektors Reinhard Heydrich verübt hatte (1942), der bei der Planung und Durchführung des Völkermords an den Juden eine maßgebliche Rolle spielte und einer der skrupellosesten und gefürchtetsten NS-Führer war, wurde von Gestapo- und SS-Einheiten das Dorf Lidice und der Weiler Ležáky dem Erdboden gleichgemacht und die Einwohner ermordet oder deportiert. Lidice wurde zum Symbol für die NS-Gewalt- und Besatzungspolitik.

Massenhafte Umsiedlungen waren Teil der Besatzungspolitik auch in der Tschechoslowakei. Es gab Pläne, durch "Umvolkung" Millionen Tschechen zu Deutschen zu machen. Wer dafür nicht geeignet erschien, sollte deportiert oder ermordet werden.

Gleichzeitig wurden – unter anderem auch im Rahmen des "Heim ins Reich"-Programms – Deutsche in Gebieten angesiedelt, die noch "fremdvölkischen Charakter" hatten. Häufig erhielten sie die Höfe, Häuser und Geschäfte enteigneter, vertriebener oder deportierter Juden und Tschechen. Sehr viele Tschechen wurden zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich verschleppt. Nach Schätzungen wurden auf dem Gesamtgebiet der früheren Tschechoslowakei etwa 350.000 Menschen (Juden, Tschechen und Slowaken, Sinti und Roma) ermordet oder kamen während der Besatzungszeit auf andere Weise gewaltsam ums Leben.

Die Vorgeschichte für die Vertreibung der Deutschen

Durch die NS-Eroberungs-, Besatzungs- und Vernichtungspolitik und die Bedingungen des totalen Kriegs wurde eine wichtige Voraussetzung geschaffen, dass bei den Nachkriegsplanungen der Alliierten und der tschechischen Exilregierung der Glaube, mit einem ethnisch homogenen Nationalstaat die Nationalitätenkonflikte der Vorkriegszeit in Zukunft vermeiden zu können, eine immer bedeutsamere Rolle spielte. Als die Pläne für die Vertreibung der Deutschen im tschechischen Widerstand, später auch im Kreis der tschechischen Exilregierung in London Gestalt annahmen, wurde ausdrücklich sowohl auf die NS-Umsiedlungspolitik als auch auf frühere Bevölkerungsverschiebungen Bezug genommen. Die deutsche Minderheit wurde kollektiv des "Verrats" an der Tschechoslowakei beschuldigt, einschließlich derer, die nicht die NS-Politik unterstützt oder sogar dagegen Widerstand geleistet hatten. So radikalisierten sich die Ausweisungspläne immer weiter. Die vorgesehenen Ausnahmen für deutsche Antifaschisten wurden nach dem Krieg weitgehend ignoriert. So zahlten den Preis für die nationalsozialistische Politik nicht nur ihre Unterstützer unter den Sudetendeutschen, sondern alle deutschsprachigen Bewohner der Tschechoslowakei.

Gerrit Schäfer

 

Literaturhinweise

Erzwungene Trennung. Vertreibungen und Aussiedlungen in und aus der Tschechoslowakei 1938-1947 im Vergleich mit Polen, Ungarn und Jugoslawien. – Hrsg. von Detlef Brandes, Edita Ivaničková, Jiří Pešek (Veröffentlichungen der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission, Bd. 8). - Essen : Klartext-Verlag, 1999.

Sammlung von Aufsätzen deutscher und tschechischer Historiker zu vielen Aspekten der Zwangsmigrationen auf dem Gebiet der Tschechoslowakei in den Jahren des Zweiten Weltkriegs.

 

Vertreibung, Zwangsaussiedlung und Deportation der tschechoslowakischen Deutschen (1945-1948)

Zu den Quellentexten

Literatur aus der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung

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