Prof. Dr. Gesine Schwan
Präsidentin der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder),
Koordinatorin für die deutsch-polnische Zusammenarbeit
Zwangsmigrationen und Vertreibungen im Europa des 20. Jahrhunderts
Die Erfahrung, unter Zwang und
Gewaltandrohung die Heimat verlassen zu müssen, den Besitz, das vertraute
Umfeld und Nachbarn zurückzulassen, den Aufbruch an unbekannte und ungastliche
Orte zu wagen, an denen man nicht willkommen ist – diese Erfahrung haben im
letzten Jahrhundert Millionen Menschen geteilt, und sie haben sich in das
kollektive Gedächtnis vieler Länder eingegraben.
Auch Millionen von Deutschen, die nach
dem Zweiten Weltkrieg Polen, die Tschechoslowakei und andere osteuropäische
Staaten verlassen mussten, haben dieses Schicksal durchlitten. Ihre
Vertreibung, aber auch die Aufnahme der Flüchtlinge in der Bundesrepublik und
der DDR, ist ein wichtiger, zum Teil auch sehr kontrovers diskutierter Teil der
deutschen Nachkriegsgeschichte. Bis heute ist das Thema Vertreibungen von
großer Aktualität und Brisanz, nicht zuletzt auch für das Verhältnis zu unseren
östlichen Nachbarstaaten, die seit neuestem auch unsere Partner in der
erweiterten EU sind. Durch unbedachte
Äußerungen kann hier viel Porzellan zerschlagen werden. Die Debatte um ein
mögliches "Zentrum gegen Vertreibungen" oder die Forderungen mancher
Vertriebenenfunktionäre nach Entschädigungen sind immer noch geeignet,
Bemühungen um ein engeres, vertrauensvolles Verhältnis zu unseren Nachbarn zu
belasten.
Wer über Vertreibungen reden will,
muss das gesamte Phänomen und den vollständigen historischen Kontext in den
Blick nehmen, nicht nur das Schicksal der Deutschen nach 1945. Denn
Zwangsmigrationen waren (und sind bis heute) eine in Europa weit verbreitete
Art der politischen Machtausübung auf den Schultern der Zivilbevölkerung, von
der viele Menschen betroffen waren und sind. Zudem müssen die Fragen von Schuld
und den Vertreibungen vorausgehendem Unrecht thematisiert werden: Wenn die
Verbrechen der deutschen Kriegs- und Besatzungspolitik 1939-45 kurzerhand aus
der Diskussion ausgeblendet werden, ist die Vertreibung der deutschen
Bevölkerung genauso wenig zu verstehen wie der heutige Umgang mit dem Thema in
unseren östlichen Nachbarstaaten.
Mit der immer weiter
voranschreitenden Einigung Europas wächst die Chance, national beschränkte
Sichtweisen zu überwinden, die Vielfalt der Ansätze und Perspektiven auf die
Vertreibungen des 20. Jahrhunderts kennen zu lernen und eine gemeinsame
europäische Erinnerungskultur zu entwickeln. Dies ist auch der Ansatz der "Danziger Erklärung" der Präsidenten
Kwasniewski und Rau, zu der sich auch Bundespräsident Köhler bekannt hat: Erinnerung und Trauer sollten nicht für
gegenseitige Schuldzuweisungen, Aufrechnung und Entschädigungsansprüche
missbraucht werden, sondern fernab der politischen Instrumentalisierung für
sich stehen und gelebt werden. Auch einstmalige Gegner können in Trauer vereint
sein.
Auch für Lehrende, Studierende,
Schülerinnen und Schüler sowie für die Erwachsenenbildung liegt hier eine
Herausforderung. An Menschen, die in
diesen Bereichen arbeiten, richtet sich das Themenmodul "Zwangsmigrationen und Vertreibungen" der
"FES-Netz-Quelle: Geschichte und Politik". Es bietet eine Sammlung von einführenden Texten zu vielen Aspekten des
Themas, Links zu wichtigen Websites, Literaturhinweise und Quellentexte zu
Themenschwerpunkten wie der Rolle nationalistischen Gedankenguts sowie einen
Überblick über die Zwangsmigrationen in Europa im letzten Jahrhundert, insbesondere während
und nach dem Zweiten Weltkriegs, und den Umgang damit in der Zeit seither.
Zudem informiert das Themenmodul über
verschiedene Initiativen, die sich diesem Thema im Geist der europäischen
Versöhnung widmen. Hier wird besonders
auf das "Europäische Netzwerk: Zwangsmigrationen und Vertreibungen"
hingewiesen, das unter Mithilfe der Friedrich-Ebert-Stiftung von
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus acht europäischen Staaten
gegründet wurde.
In Deutschland und Osteuropa sind
Zwangsmigrationen selbst nach Jahrzehnten ein höchst sensibles, schmerzhaftes
Thema, das jedoch ein für allemal der Vergangenheit angehört. Für Millionen von
Menschen in anderen Teilen der Welt jedoch stellen Vertreibungsängste nach wie
vor eine aktuelle und akute Bedrohung dar. Auch dies ist ein Grund, sich mit
dem Thema zu beschäftigen: damit wir aus der Geschichte lernen können, um es in
Zukunft besser zu machen.
Ich wünsche allen, die mit dem Themenmodul arbeiten, viel Zugewinn und Erfolg!
Ihre Gesine Schwan
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