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FES-Netz-Quelle Geschichte und Politik

Zwangsmigrationen und Vertreibungen
im Europa des 20. Jahrhunderts

 

Bild - Flüchtlingslager

Essensausgabe in einem Aufnahmelager (Nachkriegszeit, keine genauen Angaben zum Datum und Ort der Aufnahme vorhanden). Bestand Seliger-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Mappe Nr. 124.

 

Einleitung

Erzwungene Migrationen waren ein zentrales Element der europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert. Ein Nationalismus, der ethnische Homogenität als Grundlage der politischen Ordnung postulierte, wurde zu einer der wirkungsmächtigsten Ideologien der Epoche. Er stellte Bevökerungsverschiebungen als probates Mittel der Politik dar, legitimierte Gewaltanwendung gegenüber Minderheiten und machte Millionen Menschen zu Objekten von Willkür, Verfolgung und Vertreibung. Ethnic engineering – eine der dunklen Seiten der industriellen Moderne.

Aus diesem Blickwinkel werden Querverbindungen sichtbar zwischen einer Vielzahl von Ereignissen, die in verschiedenen Zeitabschnitten in verschiedenen Regionen Europas stattfanden:

  • die Vertreibungen und Bevölkerungstransfers auf dem Balkan im ersten Viertel des Jahrhunderts
  • die Neuordnung der Staatsgrenzen nach dem Ersten Weltkrieg
  • die "Bevölkerungspolitik" Deutschlands in der NS-Zeit, insbesondere als Besatzungsmacht in Osteuropa
  • die Vertreibungen in Osteuropa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs
  • die "ethnischen Säuberungen" im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren

Auch zu einigen Aspekten des Holocaust lassen sich Verbindungslinien ziehen.

Damit sollen nicht die jeweiligen Spezifika vergessen werden, welche die genannten Ereignisse hatten. Gerade die Sichtweise der Opfer ist zwangsläufig individuell und von persönlichen Erfahrungen geprägt.

Die Netz-Quelle Zwangsmigrationen und Vertreibungen, die als zentrales Thema die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Osteuropa nach 1945 hat, nutzt dennoch diesen Ansatz, um die Vertreibung der Deutschen nicht als singuläres Ereignis zu behandeln. Vielmehr soll sie in den historischen Rahmen eingebettet und die über die unmittelbaren Geschehnisse hinausreichenden Bezüge aufgezeigt und problematisiert werden.

Zu den Begriffen

Die große Zahl an Ereignissen, die auf diesen Seiten eine Rolle spielen, fanden zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Orten und unter ganz verschiedenen historischen Rahmenbedingungen statt. Gemeinsam ist den Zwangsmigrationen aber jeweils, dass die Mitglieder einer ethnisch definierten Bevölkerungsgruppe ihre Heimat verlassen mussten, weil sie eben dieser Gruppe angehörten. Insofern lassen sich alle diese Phänomene unter dem Begriff Zwangsmigrationen (englisch: forced migrations) zusammenfassen.

Es existiert eine ganze Reihe von Begriffen für Zwangsmigrationen und verwandte Phänome, die einerseits unterschiedliche Ereignisse beschreiben, aber andererseits auch benutzt werden können, weil damit eine spezifische Interpretation der historischen Ereignisse verbunden ist. So legen "Aussiedlung" oder "Umsiedlung" einen geordneten Ablauf nahe. Ähnlich verhält es sich mit dem tschechischen Begriff odsun ("Ausweisung") oder dem polnischen Begriff der "Repatriierung", der in der kommunistischen Ära verwendet wurde für die erzwungene Umsiedlung der polnischen Bevölkerung aus den Gebieten, die nach dem Zweiten Weltkrieg der Sowjetunion angegliedert worden waren.

Die Urheber der Zwangsmigration sind Regierungen (oder de-facto-Regierungen, wie im ehemaligen Jugoslawien), die dafür den staatlichen Machtapparat nutzen. So gut wie alle Zwangsmigrationen finden im Zusammenhang mit Kriegen oder Bürgerkriegen statt.

  • Zwangsmigrationen können von Regierungen durchgeführt werden, die in anderen Staaten lebende Angehörige ihrer "eigenen" Ethnie in ihren Staat transferieren (nach dem Modell des "Bevölkerungstauschs" zwischen Griechenland und der Türkei). Grundlage sind dabei internationale Verträge zwischen den Regierungen.
  • Im Zweiten Weltkrieg erzwang Deutschlands als Besatzungsmacht die Räumung von Gebieten für deutsche Siedler, so zum Beispiel in Polen und der Tschechoslowakei ("Generalplan Ost"). Deportationen zur Zwangsarbeit, in Lager und Ghettos waren ein wichtiger Teil der deutschen Besatzungspolitik.
  • Die erzwungene Aussiedlung nationaler Minderheiten ist die dritte wichtige Form von Zwangsmigrationen, wie sie beispielsweise nach dem Zweiten Weltkrieg in den befreiten Ländern Osteuropas oder in den 1990er-Jahren im ehemaligen Jugoslawien stattfanden.

Damit verbundene und häufig zur gleichen Zeit stattfindende Phänomene sind

  • sogenannte "wilde Vertreibungen", die nicht zentral organisiert sind, sondern lokal und spontan stattfinden (in vielen Fällen aber von der Regierung zumindest geduldet oder sogar heimlich gelenkt werden)
  • Flucht, z. B. vor einer herannahenden Armee. Der Begriff der Evakuierung impliziert eine Organisation durch staatliche oder militärische Autoritäten
  • Genozid (Völkermord), bei dem nicht die Vertreibung, sondern der Tod der Mitglieder einer ethnischen Gruppe und die Vernichtung der Gruppe als ganzer das Ziel ist.

Die Zusammenhänge zwischen diesen Typen von Ereignissen, die durchaus ineinander übergehen können, werden derzeit in der Geschichtswissenschaft lebhaft debattiert.

In der Bundesrepublik Deutschland hat sich in der Nachkriegszeit der Begriff der Vertreibung und der Vertriebenen durchgesetzt. Prägend war hier das Bundesvertriebenengesetz (1953), während in der Jahren zuvor auch andere Begriffe gängig waren, insbesondere der der "Flucht" und der "Flüchtlinge" (vergl. die Quellen aus dieser Zeit).

Dank

Dieses Themenmodul wurde mit Unterstützung der Erich-Brost-Stiftung erstellt.

 

Bonn, im Oktober 2004
Gerrit Schäfer

 

Literaturhinweise

Franzen, K. Erik
Die Vertriebenen : Hitlers letzte Opfer , [Begleitbuch zur dreiteiligen Fernsehserie] / K. Erik Franzen. - Berlin [u.a.] : Propyläen Verl., 2001. - 288 S. : Ill.
Literaturverz. S. 282 - 284
ISBN 3-549-07135-3
Weitere beteiligte Personen: Hans Lemberg
Signatur(en): C 01-139

Empfehlenswerte, gut lesbare Einführung, die die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Osteuropa nach 1945 zum Schwerpunkt hat, aber auch auf wichtige Querverbindungen zum Gesamtphänomen "Zwangsmigrationen" hinweist.

 

Umsiedlung, Flucht und Vertreibung der Deutschen als internationales Problem : zur Geschichte eines europäischen Irrwegs ; Darstellungen und Perspektiven, das Thema im Unterricht, Quellen und Materialien / Hrsg.: Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg. Autoren ...: Mathias Beer .... - Stuttgart, 2002. - 92 S. : zahlr. Ill.
ISBN 3-935293-33-X
Signatur(en): C 02-2488

Gute Einführung speziell für den Unterrichtsgebrauch. Enthält viel Quellenmaterial und Karten. Erhältlich beim Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg.

 

Flucht und Vertreibung in europäischer Perspektive :
Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 51/1 (2003). -
Hrsg. v. Jürgen Danyel und Philipp Ther
Signatur(en): X 1069
http://www.metropol-verlag.de/_ftp/zfg_01_2003.pdf

Sonderheft der ZfG mit zahlreichen sehr lesenswerten Beiträgen zur aktuellen wissenschaftlichen Debatte zum Thema Zwangsmigrationen und Vertreibungen.

 

Zum Vorwort von Gesine Schwan

Literatur aus der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung

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(Text in polnischer Sprache/ Tekst w języku polskim)