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Rußland - Hintergründe und Perspektiven der Krise / Christian Forstner. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1999. - 25 S. = 92 Kb, Text . - (FES-Analyse)
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2000

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT







[Essentials]

  • Die im Sommer 1998 offen ausgebrochene Finanz- und Wirtschaftskrise wurde von externen Gründen zwar beschleunigt, aber nicht ausgelöst: Rußland befand sich schon lange in einem labilen Gleichgewicht mit kontinuierlich zunehmender Schieflage, in das es durch eigenes Versagen und durch Raubbau an den Ressourcen des Landes gebracht worden war.
  • Eine Hauptverantwortung trifft die reformfeindlichen Wirtschaftseliten, die die mikroökonomische Komponente des Systemwechsels erfolgreich sabotierten. Der russische Staat wirkt fragmentiert und gelähmt vom Druck sektoraler und regionaler Interessengruppen. Es fehlt eine konsistente Transformationspolitik mit klaren Spielregeln zur Etablierung einer wettbewerbsorientierten marktwirtschaftlichen Ordnung.
  • Der Staat kommt originären Staatsaufgaben immer weniger nach und versagt als regelvermittelnde Ausgleichsinstanz gegenüber partikularen Interessen. Es gibt allenfalls in Ansätzen eine staatliche Strukturpolitik. Zudem wird das Steuersystem nur als Einnahmequelle begriffen, nicht als ein indirektes Instrument der Marktregulierung.
  • Die Rubelabwertung und der Staatsdefault führten zur temporären Paralyse des Finanzsystems, zu scharfen Produktionseinbrüchen, zu wachsender Inflation und merklich steigender Arbeitslosigkeit, zu realen Einkommenseinbußen und in der Summe zu einem spürbaren Absinken des Lebensniveaus. In vielen Bereichen normalisierte sich die Situation inzwischen, so daß von der Dramatik des August und September 1998 heute weniger zu spüren ist.
  • Opfer ist vor allem die Mittelklasse, die durch die Rubelabwertung faktisch enteignet und statistisch von etwa 15% der Bevölkerung auf nurmehr 4% reduziert wurde. Eine politische Radikalisierung dieser Schichten ist kaum zu befürchten, eher eine generelle Distanzierung von Politik, die sich bereits in Wahlabstinenz ausdrückt hat.
  • Die Krise traf die Städte stärker als die ländlichen Regionen, wo die Lohn- und Lebensniveaus ohnehin sehr viel niedriger sind und daher die Fallhöhe geringer. Dennoch kam es in der Provinz zu chaotischen Souveränisierungstendenzen: Vielfach nahmen regionale Exekutiven zu administrativ-protektionistischen Maßnahmen Zuflucht, so daß der Zerfall des einheitlichen Wirtschaftsraumes weiter fortschreitet.
  • Sieht man von einigen Regionen im Norden ab, gibt es jedoch keine Versorgungsengpässe. Im Gegenteil: westliche Lebensmittelhilfen sind kontraproduktiv, da sie die Marktchancen einheimischer Produzenten unterminieren und Korruption und Schwarzmarkt fördern.
  • Für das gegenwärtige russische Wirtschaftssystem ist ein hohes Maß an Virtualität charakteristisch. Etwa 75% der wirtschaftlichen Transaktionen beruhen auf Bartergeschäften, Surrogatwährungen und gegenseitigen Wechselverschreibungen, was die Steuereinnahmen des Staates minimiert.
  • Die Finanzkrise des Staates reduzierte den föderalen Haushalt auf ungefähr den Etat des deutschen Verkehrsministeriums. Wachsende öffentliche und private Zahlungsrückstände resultierten in einer Demonetarisierung der russischen Wirtschaft, in der der US Dollar die Rolle der inoffiziellen Leitwährung einnimmt.
  • Die staatsdirigistischen Akzente der Regierung Primakow betonen die soziale Komponente der Marktwirtschaft und stoßen in der Bevölkerung auf breiten Rückhalt. Mit dem Erstarken zentristischer und volkspatriotischer Strömungen korrespondiert eine Verringerung liberaler Marktanhänger. Angesichts von Korruption und Kriminalität ist der Ruf nach einer harten ordnenden Hand wenig verwunderlich.
  • Zu den prioritären gesellschaftspolitischen Entwicklungszielen zählen in der öffentlichen Meinung die Einführung von Ordnung und die Erhöhung der Lebensqualität. Ein auch als eigenständiger Wirtschaftsakteur tätiger Staat soll vor allem Lohnzahlungen und Beschäftigung garantieren. Dieses paternalistisch anmutende Anspruchsdenken kontrastiert mit dem tiefsitzenden Mißtrauen gegenüber staatlichen Institutionen. Dennoch stehen die demokratischen Errungenschaften des post-sowjetischen Rußlands nicht vor der Preisgabe.
  • Die für die Außenpolitik charakteristische Kluft zwischen politischer Rhetorik und praktizierter Realpolitik indiziert vor allem die psychologischen Probleme, die Rußland mit dem Verlust des Weltmachtstatus seit dem Ende der Sowjetunion hat. Die Großmacht-Rhetorik erfüllt somit weitgehend eine psychologisch-kompensatorische Funktion. Daraus ergeben sich die symbolischen Züge einer hochgradig simulativen Politik (Aufnahme Rußlands in den Kreis der sieben führenden Industrienationen, womit die reale G-7 zur symbolischen G-8 wurde). Ungeachtet der konfrontativen Rhetorik blieb die russische Außenpolitik auf einem pragmatischen und verläßlich kooperativen Kurs.






[Überblick]

Zu Beginn des Jahres 1998 wurden die weiteren Konsolidierungschancen Rußlands noch verhalten optimistisch eingeschätzt. Spätestens am 17. August 1998, als Rußland ein dreimonatiges Schuldenmoratorium verkündete und den Rubel abwerten mußte, wurden diese Annahmen aber Makulatur. Staatsdefault und Rubelabwertung führten zur temporären Paralyse des Finanzsystems, zu scharfen Produktionseinbrüchen, zu einem Anwachsen der Inflation, zu einem merklichen Anstieg der Arbeitslosigkeit, zu realen Einkommenseinbußen der Bevölkerung und in der Summe zu einem spürbaren Absinken des Lebensniveaus. Die offene Finanz- und Wirtschaftskrise wurde von externen Gründen zwar beschleunigt, aber nicht ausgelöst: Rußland befand sich schon lange in einem labilen Gleichgewicht mit kontinuierlich zunehmender Schieflage, in das es durch eigenes Versagen und durch den Raubbau an den Ressourcen des Landes gebracht worden war.

Die Finanzkrise versetzte der aufkeimenden Mittelklasse den härtesten Schlag. Ihre Bankguthaben wurden eingefroren und dadurch faktisch entwertet, sie mußte reale Einkommenseinbußen hinnehmen und war durch Massenentlassungen das unmittelbare Opfer der beschädigten bzw. zerstörten Strukturen einer Dienstleistungsgesellschaft. Aufgrund der harschen Auswirkungen verwundert es nicht, daß sich Ende September 1998 nur noch 4% zur Mittelklasse rechneten. Da die Mittelklasse auf diesen Schock mit einem Rückzug ins Private und weiterer Apolitisierung reagierte, droht jedoch kein Radikalismus der Mitte.

Obschon die Krise überwiegend ein Hauptstadtereignis war, kam es in der rußländischen Provinz zu chaotischen Souveränisierungstendenzen, die auf verzweifelte Überlebensversuche hindeuten. Vielfach nahmen regionale Exekutiven zu administrativ-protektionistischen Maßnahmen Zuflucht, so daß der Zerfall des einheitlichen Wirtschaftsraumes weiter fortschreitet. Sieht man von einigen Regionen im hohen Norden ab, gibt es jedoch keine Versorgungsengpässe. Im Gegenteil: westliche Lebensmittelhilfen sind kontraproduktiv, da sie die Marktchancen einheimischer Produzenten unteminieren.

Unstrittig markierte der Sommer 1998 das Ende der Ära Jelzin. Die politische und evidente gesundheitliche Schwäche des Präsidenten ließ den Startschuß fallen für die Positionierung möglicher Nachfolgekandidaten. Zu den aussichtsreichsten Thronfolgern gehören nach heutigem Stand: der amtierende Premierminister Je. Primakow, der Moskauer Bürgermeister Ju. Luschkow, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei G. Sjuganow und der Gouverneur von Krasnojarsk A. Lebed. Nebenchancen werden W. Tschernomyrdin, G. Jawlinskij und, reichlich hypothetisch sowie unter gänzlich veränderten Vorzeichen, dem weißrussischen Präsidenten Lukaschenko eingeräumt. Aus westlicher Sicht stellt ein Tandem Luschkow mit einem starken Premierminister Jawlinskij nicht die schlechteste Variante dar.

Wenngleich Rußlands Suche nach einer nationalen Identität bislang erfolglos blieb, verloren die Divergenzen zwischen Westlern, Slawophilen und Eurasiern inzwischen an politischer Trennschärfe. Dagegen ist ein großmachtstaatlicher außenpolitischer Konsens feststellbar, der es erlaubt, reale Schwäche in virtuelle Stärke zu verwandeln. Die außenpolitische Rhetorik soll den Inferioritätskomplex kaschieren, der infolge des mehrfachen Statusverlustes nach dem Ende der Sowjetunion entstand. Während also in der außenpolitischen Rhetorik geopolitische Töne dominierten, folgte die Realpolitik geoökonomischen Interessen, woraus unschwer ein Primat der Innenpolitik abgeleitet werden kann. Trotz oder gerade wegen der Krise wird der Westen Rußland nicht fallen- bzw. sich selbst überlassen. Allerdings sollten konzeptionelle Konsequenzen aus einigen Fehlern der bisherigen Rußland-politik gezogen werden.

In der absehbaren innenpolitischen Entwicklung Rußlands deutet vieles auf eine stop and go-Politik hin, also eine Politik des „Durchmogeln marsch!". Reformerfolge und Reformmißerfolge werden sich die Waage halten, weitere Krisen dabei wohl nicht ausbleiben.


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