FES | |||
|
|
Rußland - Hintergründe und Perspektiven der Krise / Christian Forstner. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1999. - 25 S. = 92 Kb, Text . - (FES-Analyse) Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2000 © Friedrich-Ebert-Stiftung
Externe und interne Determinanten der Finanz- und Wirtschaftskrise Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise auf Gesellschaft und Politik Das politische Ende Jelzins und seine möglichen Nachfolger Wirtschaftspolitische Konsequenzen [Essentials]
[Überblick] Zu Beginn des Jahres 1998 wurden die weiteren Konsolidierungschancen Rußlands noch verhalten optimistisch eingeschätzt. Spätestens am 17. August 1998, als Rußland ein dreimonatiges Schuldenmoratorium verkündete und den Rubel abwerten mußte, wurden diese Annahmen aber Makulatur. Staatsdefault und Rubelabwertung führten zur temporären Paralyse des Finanzsystems, zu scharfen Produktionseinbrüchen, zu einem Anwachsen der Inflation, zu einem merklichen Anstieg der Arbeitslosigkeit, zu realen Einkommenseinbußen der Bevölkerung und in der Summe zu einem spürbaren Absinken des Lebensniveaus. Die offene Finanz- und Wirtschaftskrise wurde von externen Gründen zwar beschleunigt, aber nicht ausgelöst: Rußland befand sich schon lange in einem labilen Gleichgewicht mit kontinuierlich zunehmender Schieflage, in das es durch eigenes Versagen und durch den Raubbau an den Ressourcen des Landes gebracht worden war. Die Finanzkrise versetzte der aufkeimenden Mittelklasse den härtesten Schlag. Ihre Bankguthaben wurden eingefroren und dadurch faktisch entwertet, sie mußte reale Einkommenseinbußen hinnehmen und war durch Massenentlassungen das unmittelbare Opfer der beschädigten bzw. zerstörten Strukturen einer Dienstleistungsgesellschaft. Aufgrund der harschen Auswirkungen verwundert es nicht, daß sich Ende September 1998 nur noch 4% zur Mittelklasse rechneten. Da die Mittelklasse auf diesen Schock mit einem Rückzug ins Private und weiterer Apolitisierung reagierte, droht jedoch kein Radikalismus der Mitte. Obschon die Krise überwiegend ein Hauptstadtereignis war, kam es in der rußländischen Provinz zu chaotischen Souveränisierungstendenzen, die auf verzweifelte Überlebensversuche hindeuten. Vielfach nahmen regionale Exekutiven zu administrativ-protektionistischen Maßnahmen Zuflucht, so daß der Zerfall des einheitlichen Wirtschaftsraumes weiter fortschreitet. Sieht man von einigen Regionen im hohen Norden ab, gibt es jedoch keine Versorgungsengpässe. Im Gegenteil: westliche Lebensmittelhilfen sind kontraproduktiv, da sie die Marktchancen einheimischer Produzenten unteminieren. Unstrittig markierte der Sommer 1998 das Ende der Ära Jelzin. Die politische und evidente gesundheitliche Schwäche des Präsidenten ließ den Startschuß fallen für die Positionierung möglicher Nachfolgekandidaten. Zu den aussichtsreichsten Thronfolgern gehören nach heutigem Stand: der amtierende Premierminister Je. Primakow, der Moskauer Bürgermeister Ju. Luschkow, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei G. Sjuganow und der Gouverneur von Krasnojarsk A. Lebed. Nebenchancen werden W. Tschernomyrdin, G. Jawlinskij und, reichlich hypothetisch sowie unter gänzlich veränderten Vorzeichen, dem weißrussischen Präsidenten Lukaschenko eingeräumt. Aus westlicher Sicht stellt ein Tandem Luschkow mit einem starken Premierminister Jawlinskij nicht die schlechteste Variante dar. Wenngleich Rußlands Suche nach einer nationalen Identität bislang erfolglos blieb, verloren die Divergenzen zwischen Westlern, Slawophilen und Eurasiern inzwischen an politischer Trennschärfe. Dagegen ist ein großmachtstaatlicher außenpolitischer Konsens feststellbar, der es erlaubt, reale Schwäche in virtuelle Stärke zu verwandeln. Die außenpolitische Rhetorik soll den Inferioritätskomplex kaschieren, der infolge des mehrfachen Statusverlustes nach dem Ende der Sowjetunion entstand. Während also in der außenpolitischen Rhetorik geopolitische Töne dominierten, folgte die Realpolitik geoökonomischen Interessen, woraus unschwer ein Primat der Innenpolitik abgeleitet werden kann. Trotz oder gerade wegen der Krise wird der Westen Rußland nicht fallen- bzw. sich selbst überlassen. Allerdings sollten konzeptionelle Konsequenzen aus einigen Fehlern der bisherigen Rußland-politik gezogen werden. In der absehbaren innenpolitischen Entwicklung Rußlands deutet vieles auf eine stop and go-Politik hin, also eine Politik des Durchmogeln marsch!". Reformerfolge und Reformmißerfolge werden sich die Waage halten, weitere Krisen dabei wohl nicht ausbleiben. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000 |