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Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise auf Gesellschaft und Politik

Im gesellschaftlichen Bewußtsein wirkt der 17. August 1998 schon wie eine Zäsur: man spricht von der Zeit „vor" der Krise und „nach" der Krise. Doch weniger die hysterischen Reaktionen der Bevölkerung wie Hamsterkäufe als vielmehr die mittel- und möglicherweise längerfristigen Auswirkungen rechtfertigen diese Sichtweise. Die Rubelabwertung und der Staatsdefault führten zur temporären Paralyse des Finanzsystems, zu scharfen Produktionseinbrüchen, zu einem Anwachsen der Inflation, zu einem merklichen Anstieg der Arbeitslosigkeit, zu realen Einkommenseinbußen der Bevölkerung und in der Summe zu einem spürbaren Absinken des Lebensniveaus. In vielen Bereichen normalisierte sich die Situation inzwischen, so daß von der Dramatik des August und September 1998 heute deutlich weniger zu spüren ist. Obschon man also insgesamt sehr rasch wieder von der Alltagsdynamik eingefangen wurde, gilt es um so mehr, auf mittelfristige Folgen und Gefahren hinzuweisen.

Die Finanzkrise des Staates versetzte der Mittelschicht den härtesten Schlag. Die in den letzten Jahren allmählich entstandene Mittelklasse setzte sich aus gut bezahlten Angestellten des Banken- und Dienstleistungssektors, von joint-venture Unternehmen oder aus Selbständigen zusammen. Von ihrer wachsenden Bedeutung zeugte, daß knapp 50% der Steuereinnahmen der Stadt Moskau von kleinen und mittleren Unternehmen stammen. Nach Einkommenskriterien machte die Mittelklasse zwischen 7 und 15% der Bevölkerung aus, in der Selbsteinschätzung zählten sich 10-35% zu ihr. Im Unterschied zu den neureichen Russen, die ihr Geld meist schon ins Ausland in Sicherheit gebracht hatten (die Finanzkrise als nachträgliche Belohnung der Kapitalflucht!), und im Unterschied zu den verarmten Bevölkerungskreisen, die schlichtweg nichts anzulegen hatten, verfügte die Mittelklasse über Sparguthaben. Durch den faktischen Zusammenbruch des Bankensystems wurden ihre Konten eingefroren bzw. im Zuge der angebotenen Transferierung auf die staatliche Sparkassenbank aufgrund der ungünstigen Konditionen entwertet. Der Wertverlust ihrer Gehälter betrug ca. zwei Drittel, zwischen einem Drittel und der Hälfte der bei kleineren Unternehmen Beschäftigten wurden entlassen. So verwundert es nicht, daß sich Ende September 1998 nur noch 4% zur Mittelklasse rechneten. Dem Teil der Gesellschaft, der den Systemwandel Rußlands auf der Mikroebene flankieren und vollenden sollte sowie in seiner Rolle als Konsument und Produzent demokratischen und marktwirtschaftlichen Strukturen zum Durchbruch verhelfen sollte, wurde der Boden für die Entfaltung seiner vielfältigen Aktivitäten entzogen. Die Strukturen einer Dienstleistungsgesellschaft wurden beschädigt bzw. zerstört. Der Betrug an der Mittelklasse verstärkte die ohnehin schon vorhandenen Tendenzen einer Apolitisierung, das Vertrauen in Staats- und Finanzinstitutionen ist nachhaltig zerstört, so daß die Legitimationsbasis des Jelzin-Regimes weiter erodierte.

Drohen also in Rußland Weimarer Verhältnisse, als der demokratische Staat von links und von rechts in die Zange genommen wurde? Für ein solches Szenario gibt es derzeit keine Anzeichen. Die Mittelklasse driftet weder nach rechts noch nach links, sondern zieht sich ins Private zurück und schottet sich ab, wie ihre bei den letzten Wahlen zu beobachtende überdurchschnittliche Wahlabstinenz nahelegt. Sie verfügt über kein gemeinsames politisches Bewußtsein, es mangelt ihr an gemeinsamen Lebensentwürfen, sie ist in sich zerrissen und politisch kaum organisiert. Eine Umsetzung dieses Protestpotentials in eine parteipolitische Interessenvertretung, die dann in offenen Extremismus umschlagen könnte, ist wenig wahrscheinlich. Als Sachwalter mittelständischer Interessen kommen am ehesten G. Jawlinskij und Ju. Luschkow in Frage, beide sind jedoch nicht dem extrem nationalistischen oder kommunistischen Spektrum zuzuordnen. Der vielfach wahrnehmbare und deutlich artikulierte Wunsch nach einer starken ordnenden Hand ist keinesfalls gleichzusetzen mit der Forderung nach diktatorischem Radikalismus.

Der offenen Legitimitätskrise im Inneren entspricht die Vertrauenskrise Rußlands im Ausland. Durch die Aussetzung des Schuldendienstes bleibt Rußland in absehbarer Zeit der Zugang zu den westlichen Finanzmärkten versperrt. Sämtlichen Kreditoren, seien es die im Londoner, im Pariser oder neuerdings im Moskauer Club vereinten, ist klar, daß Rußland den 1999 fälligen Zahlungsverpflichtungen in Höhe von knapp 17 Milliarden US-$ nicht nachkommen kann, so daß an möglichst konstruktiven Umschuldungsplänen kein Weg vorbeiführt. Ebenso ist die Zeit ungebundener Kredite (vgl. den drei Milliarden DM Kredit unter dem früheren Bundeskanzler Kohl im Januar 1996) zur politischen Unterstützung Boris Jelzins passé. Die Freigiebigkeit des Westens stieß an eigene finanzielle Grenzen, für weitere Finanzspritzen in größerem Umfang gibt es keine Legitimationsgrundlage. Denkbar sind allenfalls humanitäre Hilfen, wobei jedoch genauestens zu prüfen und zu kontrollieren ist, ob diese Hilfen die wirklich Bedürftigen auch erreichen. Nicht selten war es in der Vergangenheit der Fall, daß humanitäre Hilfe in erster Linie den Interessen derjenigen diente, die an der Abwicklung und Verteilung der Hilfsgüter beteiligt waren. Die Europäische Union konnte Agrarüberschüsse günstig loswerden, ohne mit der Welthandelsorganisation in Konflikt zu geraten, die russischen Verteiler versilberten die Hilfe auf Schwärzmärkten. Sieht man von einigen Regionen im hohen Norden Rußlands ab, wo in den Sommermonaten die Nachschublieferungen für den Winter ausblieben, gibt es keine Versorgungsengpässe. Ganz im Gegenteil: Lebensmittelhilfen für Rußland sind kontraproduktiv, da sie die Marktchancen einheimischer Produzenten unterminieren.

Mit Ausnahme der stark subventionsabhängigen Regionen war die Krise 1998 in der rußländischen Provinz aus zwei Gründen deutlich weniger spürbar als in der Hauptstadt: zum einen ist das Lebensniveau niedriger und somit die Fallhöhe geringer, zum anderen investierten regionale Banken nicht in dem Maße in den GKO-Markt wie ihre Moskauer Pendants. Die Finanz- und Wirtschaftskrise war in erster Linie ein Hauptstadtereignis, das nur allmählich auch auf die Provinz übergriff. Sie führte daher nicht zu neuen Entwicklungen in den Zentrum-Peripherie-Beziehungen, sondern verstärkte bisherige Trends. Das Streben nach Autarkie und die meist unkoordinierten Souveränisierungsprozesse der Regionen offenbarten keine Strategie und auch nicht das Auflodern offener separatistischer Ambitionen; es handelt sich vielmehr um mehr oder weniger chaotische Überlebensversuche. Regionale Exekutiven setzten die Steuerabfuhr nach Moskau aus, bereiteten die Emission eigener Währungen vor (vgl. das Anlegen von Goldreserven in Sacha/Jakutien) und intervenierten kräftig am Markt (Verhängung von Preiskontrollen, Exportverboten etc.). Als Konsequenz dieses administrativen Protektionismus’ der Regionen ergibt sich, daß der Zerfall des einheitlichen Wirtschaftsraumes weiter fortschreitet. Mit der finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Ohnmacht des Zentrums korrespondierte eine Stärkung der Rolle der Gouverneure auf der föderalen Ebene. Ihr Interessenvertretungsorgan, der Föderationsrat, konnte beim Patt zwischen Präsidenten und Parlament Pluspunkte sammeln, indem es sich als stabilisierender Faktor der Innenpolitik erwies. Unabhängig davon bleiben aber die strukturellen Konflikte mit dem Zentrum bestehen. Ungelöste Probleme wie ein Finanzausgleich ohne die so enormen bargaining-Spielräume, wie die Organisation von Sicherheitskräften und der Armee, die vielfach von der regionalen Verwaltung abhängig sind und deren Regionalisierung droht (vgl. die Offerte Lebeds, in Krasnojarsk lozierte Armeeeinheiten der regionalen Verantwortung zu unterstellen), und schließlich Justizfragen wie das Recht zur Einsetzung der Staatsanwälte werden dem asymmetrischen rußländischen Föderalismus auch in Zukunft eine fließende Form geben.

In politischer Hinsicht brachte die Finanzkrise des Staates erste Korrekturen am hyperpräsidentiellen System Rußlands, die in der Perspektive durchaus in eine Parlamentarisierung einmünden könnten. Die Reduzierung der Duma auf das Budegtbewilligungsrecht und die damit verbundenen nur geringen Anreize, in Parteien einzutreten, dürften der Vergangenheit angehören. Einer stärkeren Rolle des Parlaments als Ausdruck eines generellen Machtzuwachses der linkspatriotischen Kräfte stehen jedoch zwei faktische Hindernisse im Wege: zum einen ist an einer Kodifizierung umfassenderer Parlamentsrechte keiner der Präsidentschaftskandidaten - auch nicht Sjuganow - interessiert, da man sich ja selbst die Flügel stutzen würde; zum anderen würde es sich um den paradoxen Zustand einer Parlamentarisierung ohne Parteien handeln. Die politisch-rechtlichen Konsequenzen werden mittelfristig weniger in der Verfassung selbst ihren Niederschlag finden als vielmehr in der politischen Praxis, zumal sich ja die Regierung erstmals auf eine Parlamentsmehrheit stützen kann.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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