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Das politische Ende Jelzins und seine möglichen Nachfolger

Unstrittig markierte der Sommer 1998 das Ende der Ära Jelzin. Jelzins öffentliche Aussage noch kurz vor dem Schuldenmoratorium und der Rubelabwertung, daß die finanzielle Lage unter Kontrolle sei und negative Entwicklungen auszuschließen seien, offenbarte seine Desorientierung und Uninformiertheit. Diese falschen Prognosen untergruben seine Popularität zusätzlich. In der zugespitzten Situation nach dem 17. August ließ er zentrale Akteure der Finanzpolitik fallen (Premierminister Kirijenko und den Vorsitzenden der Zentralbank Dubinin). Er war politisch angeschlagen und konnte seinen Kandidaten Tschernomyrdin nicht durchsetzen, da die zur Bestätigung notwendige Staatsduma auf die Möglichkeit lauerte, sich für die im Frühjahr erzwungene Ernennung von Kirijenko zu revanchieren. Die Bildung einer neuen Regierung schleppte sich über Wochen hin, so daß sich Rußland den Luxus leistete, im Angesicht einer offenen Finanz- und Wirtschaftskrise über keine handlungsfähige Regierung zu verfügen. Obschon turnusgemäß die nächsten Präsidentschaftswahlen erst Mitte 2000 anstehen, befindet sich Rußland bereits im Vorwahlkampf. Derzeit sind die politischen Eliten allerdings noch an einem schwachen Präsidenten interessiert, da sie zu den Wahlen noch nicht bereit sind. Die politische und evidente gesundheitliche Schwäche des Präsidenten ließ aber den Startschuß fallen für die Positionierung möglicher Nachfolgekandidaten. Zu den aussichtsreichsten Thronfolgern gehören nach heutigem Stand:

  • der amtierende Premierminister Je. Primakow: die anfänglichen Einschätzungen, bei Primakow handele es sich um eine Übergangsfigur, scheinen sich nicht zu bestätigen. Primakow als Inbegriff von „Professionalität" genießt in der Bevölkerung hohe Reputation. Er steht trotz seiner Zugehörigkeit zur früheren kommunistischen Nomenklatura nicht für ein „zurück in die Vergangenheit", vielmehr verkörpert er eine Art von spezifischem russischen Anders-sein. Innenpolitisch äußert sich dies in mehr Staat und weniger Markt, außenpolitisch in der Betonung eigenständiger Interessen Rußlands, ohne aber den grundsätzlich kooperativen Kurs gegenüber dem Westen in Frage zu stellen. Primakow kann aus Loyalitätsgründen dem amtierenden Präsidenten gegenüber seinen Hut noch nicht in den Ring werfen, dürfte aber beizeiten als Konsensfigur des politischen Establishments seine Ambitionen anmelden.

  • der Moskauer Bürgermeister Ju. Luschkow: der quirlige, seine Baustellen über alles liebende Ju. Luschkow mit der Mütze als Markenzeichen ist der unumschränkte Herrscher in Moskau. Seine Macht fußt auf umfassenden administrativen Patronage-Beziehungen, für die staatlicher Dirigismus und eine starke Kontrolle der Wirtschaftsakteure charakteristisch sind. Die Meinungen hinsichtlich seiner Amtstätigkeit in Moskau teilen sich in zwei Lager: für die einen ist Moskau dank eines pragmatischen und tatkräftigen Bürgermeisters eine der wenigen Prosperitätsinseln in einem wirtschaftlich brachliegenden Land; andere verbinden mit dem Regime Luschkow Korruption, Nepotismus, erpresserische Amtswillkür und die Unfähigkeit, mit vorhandenem Reichtum nachhaltig zu wirtschaften. Die Kritiker werfen Luschkow vor, daß der Glanz Moskaus einzig auf einem Bauboom fuße, nicht jedoch auf gezielter Strukturpolitik. So sehr Luschkow jedenfalls „seine" Moskauer schätzen - sie wählten ihn im Juni 1996 mit knapp 90% zum Bürgermeister -, so sehr könnte sich seine Moskauer Herkunft in der rußländischen Provinz, wo die Abneigung gegen Hauptstädter häufig groß ist, als Malus erweisen. Luschkow versucht fast um jeden Preis, sein Wählerpotential zu verbreitern und sich als Politiker nationalen Rangs zu profilieren, wozu er in der Außenpolitik großrussische Töne anschlägt. So bestreitet er die Zugehörigkeit der auf der Krim gelegenen Hafenstadt Sewastopol zur Ukraine. Diese Äußerungen sind jedoch wenig realistische Rhetorik, die in erster Linie dazu dient, Wählerstimmen im nationalistischen Lager abzuschöpfen. In der Innenpolitik folgt er einer linkspopulistischen Linie der „neuen Mitte". Um seine Präsidentschaftsabsichten organisatorisch voranzutreiben und sie bei den Duma-Wahlen Ende 1999 erfolgreich zu untermauern, gründete Luschkow im Herbst 1998 eine eigene Partei mit dem Namen „Vaterland". Angesichts eines hochfluiden Parteienspektrums und vor dem Hintergrund der generellen Schwäche politischer Parteien ist es noch zu früh, die Stabilität und Aussichten von „Vaterland" verläßlich taxieren zu wollen.

  • der Vorsitzende der kommunistischen Partei G. Sjuganow: seine stabile Stammwählerschaft garantiert ihm fast sicher das Erreichen der zweiten Wahlrunde. Die große Schwierigkeit Sjuganows besteht darin, permanent einen Spagat vollbringen zu müssen zwischen den divergierenden Strömungen innerhalb der Kommunistischen Partei. Sjuganow selbst ist der nationalen Mitte innerhalb der KP zuzuordnen (ca. 60% der Mitglieder), von der aus er den pragmatischen Flügel um Melnikow (ca. 15%) und die linksradikal-fundamentalistische Gruppierung um Iljuchin (ca. 25%) zusammenhalten muß. Ein Wahlsieg Sjuganows würde die Spaltungstendenzen verstärken, könnte durch die Abspaltung des fundamentalistischen Teils allerdings in eine Sozialdemokratisierung der KP einmünden. Mit der KP bzw. der Volkspatriotischen Union steht Sjuganow eine schlägkräftige Wählervereinigung zur Verfügung, die nicht zuletzt aufgrund ihrer Organisationsstruktur als Partei im westlichen Sinne bezeichnet werden kann. Sie ist bei hoher Mitgliederzahl auch in den Provinzen präsent, kann diese Mitglieder auch mobilisieren, wirkt an der politischen Willensbildung mit und ist im gesellschaftlichen Wurzelfeld verankert.

  • der General a.D. und jetzige Gouverneur von Krasnojarsk A. Lebed: Lebeds Kalkül läuft daraus hinaus, aus der allgegenwärtigen Misere Rußlands und dem damit verbundenen hohen Unzufriedenheitspotential politisches Kapital zu schlagen. Er prangert die Kriminalisierung der Gesellschaft und die Korrumpierung der Staatsmacht an, so daß sein politischer Kurs in Richtung eines autoritär-rechtspopulistischen law and order-Regimes geht. Seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen bleiben aber nebulös. Lebeds Manko besteht darin, daß das Tagesgeschäft eines Gouverneurs einer zwar ressourcenreichen, doch entfernten sibirischen Region nicht die Schlagzeilen einbringt wie Staatsaktionen auf der föderalen Ebene. Zumindest um die Finanzierung seines Wahlkampfes braucht sich Lebed wenig Sorgen zu machen, da es ihm gelang, in den Einflußkreis des mächtigen Wirtschaftsmagnaten B. Beresowskij zu stoßen.

Deutlich geringere Chancen, nächster Präsident Rußlands zu werden, haben folgende Kandidaten:

  • der langjährige Premierminister W. Tschernomyrdin: nach seiner Entlassung als Premierminister und nach dem Scheitern seiner Wiederernennung sind seine Präsidentschaftschancen sehr gering. Ihm fehlen politische Profilierungsmöglichkeiten, zudem ist seine Partei Unser Haus Rußland nach seinem Abgang und dem Ausscheiden Schochins aus der Regierung ins politische Abseits getrudelt.

  • der Vorsitzende von Jabloko, G. Jawlinskij: sein Wähleranteil pendelte um die 10%-Marke und dürfte seit der August-Krise kaum gestiegen sein. Seine auf eine sozialpolitisch flankierte liberale Marktwirtschaft hinauslaufenden pro-westlichen Konzeptionen sind in der russischen Gesellschaft nicht mehrheitsfähig. Die nach dem Mord an G. Starowojtowa lautgewordenen Bestrebungen der jungen Reformer um Nemzow und Kirijenko, einen rechtsliberalen Block zu schmieden, stoßen bei Jawlinskij aus verschiedenen Gründen, nicht zuletzt seiner Eitelkeit, auf Vorbehalte. Jawlinskijs realistische Perspektive dürfte weniger im Präsidentenamt liegen, als vielmehr darin, der mit insbesondere wirtschaftspolitischer Machtfülle ausgestattete nächste Premierminister zu werden.

In letzter Zeit wurde des öfteren die Möglichkeit ventiliert, daß im Falle einer vollzogenen Staatenunion zwischen Rußland und Belarus der weißrussische Präsident Lukaschenko nach der Macht im Kreml gieren könnte. Da dieses Szenario mit zu vielen Fragezeichen und faktischen Hindernissen verbunden ist, kann es als reichlich hypothetisch vernachlässigt werden, wenngleich natürlich Lukaschenko zusammen mit seinem kasachischen Kollegen Naserbajew in Meinungsumfragen zu den angesehensten Politikern im GUS-Raum gehört.

Das breite Kandidatenspektrum weckt im Westen sowohl Befürchtungen als auch Erwartungen. Grosso modo läßt sich festhalten, daß ein Tandem Luschkow/Jawlinskij nicht die schlechteste Variante darstellt. Auch ein Präsident Primakow würde für wenig Aufregung im Westen sorgen. Das worst case-Szenario ist mit Sicherheit Lukaschenko, da es wohl unweigerlich zu mehr Konfrontationspotential in den russisch-westlichen Beziehungen führen würde.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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