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Gesellschaftliche Identifikationsprofile

Die staatsdirigistischen Akzente der neuen Regierung Primakow betonen die soziale Komponente einer sozialen Marktwirtschaft und stoßen in der Bevölkerung auf breiten Rückhalt. Mit dem Erstarken zentristischer und volkspatriotischer Strömungen korrespondiert eine Verringerung liberaler Marktanhänger. Angesichts von Korruption und Kriminalität ist der Ruf nach einer harten ordnenden Hand wenig verwunderlich. Zu den prioritären gesellschaftspolitischen Entwicklungszielen zählen in der öffentlichen Meinung die Einführung von Ordnung und die Erhöhung der Lebensqualität. Ein auch als eigenständiger Wirtschaftsakteur tätiger Staat soll in den Augen der überwältigenden Mehrheit vor allem Lohnzahlungen und Beschäftigung garantieren. Dieses paternalistisch anmutende Anspruchsdenken kontrastiert mit dem tiefsitzenden und durch die August-Krise 1998 noch verstärkten Mißtrauen gegenüber staatlichen Institutionen. Wenngleich einer Gesellschaft der sozialen Gleichheit der Vorzug gegeben wird gegenüber einer Gesellschaft mit ausgeprägter individueller Freiheit, stehen die demokratischen Errungenschaften des post-sowjetischen Rußlands dennoch nicht vor der Preisgabe. Allerdings ist der Herrschaftskonsens, der ca. zwei Drittel der Bevölkerung einschließt, eher negativ als positiv formuliert: politische Legitimation beinhaltet als conditio sine qua non freie und faire Wahlen, für die gewaltsame Lösung politischer Konflikte bis hin zum Bürgerkrieg gibt es keine Unterstützung. Der Eigenwert demokratischer Freiheiten bleibt jedoch niedrig. Fast die Hälfte der weitgehend apolitischen russischen Gesellschaft vermag in Zielkonflikten zwischen Wohlstand und Demokratie nicht, sich für das eine oder andere zu entscheiden. In ihren politisch-ideologischen Grundanschauungen sind nur etwas mehr als die Hälfte der Russen festgelegt. Weniger als ein Zehntel hängt westlich-liberalen Vorstellungen an (Hochburgen des Liberalismus sind urbane Zentren, vor allem Moskau und St. Petersburg; aufs ganze Land betrachtet sprach man häufig vom „Effekt des 55. Breitengrades", da ein „reformerisch" wählender Norden einem „konservativen" Süden gegenüberstand), jeweils ca. ein Sechstel ordnete sich entweder zentristischen oder linksideologischen Strömungen zu oder sprach sich für einen betont eigenständigen russischen Entwicklungsweg aus. Durch die Finanz- und Wirtschaftskrise erhielt vor allem das linksnationale Spektrum Zulauf, für das ein sowjet-nostalgischer, patriotischer und anti-kapitalistischer Konsens charakteristisch ist.

Das gesellschaftliche Massenbewußtsein ist durch eine Reihe signifikanter Paradoxien geprägt: die wachsende Verelendung mit zunehmendem Protestpotential wird zugleich von einer Kontinuität gesellschaftlicher Einstellungen begleitet, die auf eine gewisse Schockresistenz im Massenbewußtsein hindeutet. Die Appelle der Opposition letzten Oktober, sich an landesweiten Protestaktionen gegen die Regierung zu beteiligen, blieben weitgehend unbeachtet, obschon die Veranstalter eine wesentlich höhere Teilnehmerzahl für sich reklamierten als amtliche Stellen verlautbarten. Selbst die Krise 1998 schlug also nicht in einen sozialen Aufstand um. Ebenso auf den ersten Blick analytisch schwer faßbar ist die nostalgisch-romantisierende Verklärung der Sowjet-Vergangenheit, ohne daß man aber diese Vergangenheit wirklich zurückholen will. Diese Haltung insbesondere in Bezug auf die Breschnew-Zeit erklärt sich ansatzweise durch nationale und internationale Determinanten. Mitte der siebziger Jahre profitierte Rußland von der Ölkrise und konnte die daraus resultierenden gestiegenen Erlöse zu einer bescheidenen Wohlstandsmehrung ummünzen. Mit der Breschnew-Zeit assoziieren die meisten Russen daher soziale Sicherheit, aber auch Lebensfreude, zwischenmenschliches Vertrauen und wissenschaftliche Erfolge. Dagegen wird das post-sowjetische Rußland in der öffentlichen Meinung äußerst negativ betrachtet. Mit dem heutigen Rußland verbindet man in erster Linie Kriminalität, Zukunftsängste, Nationalitätenkonflikte, die Möglichkeit, reich zu werden, Krisen, soziale Ungerechtigkeit, Korruption und geistige Kälte. Der Nationalstolz speist sich nicht aus den demokratischen Errungenschaften des Systemwechsels, sondern stützt sich auf den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, den Wiederaufbau des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg und auf kulturelle Eliten wie Dichter und Schriftsteller. Europa fühlen sich die Russen kulturell zugehörig, nicht wirtschaftlich. Weniger als ein Viertel der Bevölkerung nimmt an, daß sich in Rußland eine Wirtschaft westlichen Typus entwickelt. Mehr als die Hälfte konstatiert vielmehr asiatische, auf China oder Indien verweisende Wirtschaftsmerkmale. Einer rigorosen Verwestlichung Rußlands steht auch die fehlende Akzeptanz westlicher Werte wie Liberalismus und Demokratie entgegen. Eine relative Mehrheit ist der Auffassung, daß Liberalismus, Individualismus und Demokratie Werte darstellen, die nicht zu ihnen passen. Charakteristisch für Rußland sei im Gegensatz dazu ein kollektivistisch anmutendes Gemeinschaftsgefühl und ein mitunter auch autoritäre Züge aufweisender starker Staat.

Im Ganzen gesehen bleibt die Suche nach einer nationalen Identität noch voll im Gang. Über diesen Befund kann auch das vorläufige Endresultat des vom Präsidenten B. Jelzin ausgelobten Wettbewerbs „Eine Idee für Rußland" nicht hinwegtäuschen. Der Preisträger, der Historiker G. Sudakow aus Wologda, beschrieb den idealtypischen Russen als emotional, melancholisch und zuvorderst am Wohle des Vaterlands orientiert. Die nationale Idee komme am besten in einer kollektivistisch organisierten, selbstgenügsamen, demokratischen Bürgergesellschaft zur Geltung. Letztlich blieb aber die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem daraus entstandenen ideologischen Vakuum so entscheidende Frage nach der nationalen Identität unbeantwortet. Auffallend in vielen Meinungsumfragen ist zum einen die hohe Anzahl von in vielen Kernfragen Unentschlossenen, zum anderen die Dissoziierung gesellschaftlicher Wertvorstellungen und eigener Identitätsprofile entlang der Altersstruktur. Während die ältere Generation sich einer „snickerisierten" Gesellschaft, in der McDonald’s zum Siegeszug ansetzte, zusehends entfremdet, zudem von den täglichen Überlebenssorgen physisch und psychisch erschöpft ist, verinnerlichte ein Teil der heutigen Jugend bereits die neuen Spielregeln des post-sowjetischen Rußland, indem er die neuen Marktrealitäten in erster Linie als Marktchancen auffaßte. Die Jugend reagiert häufig flexibel, innovativ, motiviert und optimistisch auf die neuen Herausforderungen, investiert in Bildung, orientiert sich an westlich-privatistischen Lebensstilen und eröffnet sich profitable Marktnischen, um sich diesen Lebensstil auch leisten zu können. Die Fragmentierung der gegenwärtigen russischen Gesellschaft zeigt sich also am deutlichsten zwischen der ältesten und der jüngsten Generation. Der mittleren Generation kommt insofern meist die Funktion eines gesellschaftlichen Puffers zu, als sie die bisweilen extrem auseinanderklaffenden Vorstellungen der Jugend und des Alters ausgleicht. Inwieweit der dynamische Teil unter den russischen twens aber zum Hoffnungsträger eines neuen Rußland taugt, bleibt in hohem Maße fraglich. Erstens ist er zahlenmäßig zu gering, als daß er über wirkliche gesellschaftsprägende Strahlkraft verfügt; zweitens handelt es sich überwiegend um Großstadtphänomene, die im russischen Hinterland ungleich seltener zu beobachten sind.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000

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