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TEILDOKUMENT:
Außenpolitik und die Finanz- und Wirtschaftskrise Die erfolglose Suche nach einer nationalen Identität korrespondierte mit einer innenpolitisch (lange) umstrittenen Verortung Rußlands in der internationalen Welt. Die anfangs auch in ihren modernisierten Fassungen feststellbaren Divergenzen zwischen Westlern, Slawophilen und Eurasiern verloren inzwischen spürbar an politischer Trennschärfe. Zum nationalen Ideologem avancierte ein großmachtstaatlicher Akzent in der russischen Außenpolitik, der es erlaubt, reale Schwäche in virtuelle Stärke zu verwandeln. Der außenpolitische Konsens bezieht weite Teile des politischen Establishments ein und beinhaltet u.a. folgende Elemente:
In Kontrast zu dieser ambitionierten, großmachtstaatliche Weltpolitik vorsehenden Programmatik stehen die wirtschaftlichen Ressourcen, auf die Rußland zur Umsetzung seiner Außenpolitik zurückgreifen kann. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt nimmt Rußland den Rang einer Mittelmacht wie Brasilien oder Italien ein. Allenfalls auf den GUS-Raum kann Rußland noch in Ansätzen strukturierend einwirken, wenngleich hier die Außenhandelsumsätze deutlich gesunken sind und nur noch etwa 20 Prozent des gesamten russischen Außenhandels betragen. Zudem gibt es, wie das Beispiel GUAM nahelegt, Bestrebungen, Moskau-unabhängige Kooperationsformen zwischen den SU-Nachfolgestaaten zu finden. Die für die russische Außenpolitik so charakteristische Kluft zwischen der politischen Rhetorik und der faktischen Realpolitik indiziert vor allem die psychologischen Probleme, die Rußland mit dem mehrfachen Statusverlust (Verlust des Weltmachtstatus, Verlust des Imperiums, bedrohte eigene Staatlichkeit) seit dem Ende der Sowjetunion hat. Die außenpolitische Rhetorik erfüllt somit weitgehend eine psychologisch-kompensatorische Funktion, um den Inferioritätskomplex zu kaschieren. Daraus ergeben sich gleichsam von selbst die symbolischen Züge einer hochgradig simulativen Politik (vgl. die Aufnahme Rußlands in den Kreis der sieben führenden Industrienationen, womit die reale G-7 zur symbolischen G-8 wurde). Ungeachtet der innenpolitischer Positionierung und Legitimierung dienenden konfrontativen Rhetorik blieb die russische Außenpolitik auf einem pragmatischen und verläßlich kooperativen Kurs. Eine Analyse der jüngsten Konfliktschlichtungsversuche im Irak und im Kosovo offenbart sogar so etwas wie eine internationale Arbeitsteilung: der Westen übernimmt den Aufbau einer Drohkulisse, während sich Rußland in diplomatischer Vermittlung versucht. Auch der heftige verbale Widerstand gegen die Osterweiterungspläne der NATO basierte nicht auf dem Aufflammen eines neuerlichen weltpolitischen Antagonismus, sondern leitete sich ab aus der begründeten Angst Rußlands, von Europa abgekoppelt zu werden. Doch auch die Ankündigung des Vollzugs der NATO-Osterweiterung auf dem Madrider Gipfel 1997 führte zu keiner nachhaltigen Trübung der russisch-westlichen Beziehungen, zumal ja durch die Kreierung des NATO-Rußland-Rates den russischen Wünschen nach (symbolischer) Einbindung in multilaterale westliche Institutionen entsprochen wurde. Während also in der außenpolitischen Rhetorik geopolitische Töne dominierten, folgte die Realpolitik geoökonomischen Interessen. Es ist einleuchtend, daraus einen Primat der Innenpolitik abzuleiten. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der inneren Erholung und Modernisierung des Landes, nicht auf dem sich selbst schmeichelnden Ausgreifen in die Weltpolitik. Die Erörterung außenpolitischer Themen beschränkt sich auf einen engen Kreis außenpolitischer Eliten, in der breiten Öffentlichkeit stoßen diese Debatten auf Desinteresse. Das Fehlen einer außenpolitischen Strategie sowie einer konsistenten Interessendefinition unterstreicht die enge Verbindung von Innen- und Außenpolitik. Die Schwäche des Staates und seine Unfähigkeit, sich als mediatisierender Interessenvermittler zu behaupten, machen ihn angreifbar für das Vordringen mächtiger Lobbygruppen, die somit zu den relevanten Akteuren der russischen Außenpolitik zählen. Entweder versuchen sie direkt, außenpolitische Entscheidungen zu steuern, oder indirekt, ihren Wirtschaftsinteressen abträgliche Störeffekte zu vermeiden. Da sich in unterschiedlichen Themenfeldern unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen Interessen und einer unterschiedlichen Interessendurchsetzungskompetenz gruppieren, entzieht sich die russische Außenpolitik einer eindeutigen Kategorisierung. Daraus folgt: die These von der Konsistenz russischer Außenpolitik kann getrost fallengelassen werden; richtiger ist es vielmehr, von verschiedenen Außenpolitiken auszugehen. So sehr einst die hochgerüstete UdSSR mit ihrer vermeintlichen prinzipiellen Unfriedlichkeit der internationalen Staatengemeinschaft einen permanenten Schrecken einjagte, so sehr erweckt heute das post-sowjetische Rußland Furcht. In vielerlei Hinsicht droht Rußland in eine Chaosmacht abzugleiten: unkontrollierbare Nationalitätenkonflikte lassen den Westen Massenmigrationen befürchten; veraltete Atomreaktoren stellen radioaktive Zeitbomben dar; Atomwaffen unter der Aufsicht chronisch unterfinanzierter Armeeeinheiten werden zu einem Sicherheitsrisiko; die Anfälligkeit für illegale Nuklearexporte unterläuft das Regime des Atomwaffensperrvertrages; illegale Strukturen greifen nach dem Westen und bedrohen die öffentliche Sicherheit. Zum einen kann der Westen diesen Risiken gegenüber nicht gleichgültig bleiben, zum anderen hat er ein genuines Interesse an einem ökonomisch starken, demokratischen und politisch stabilen Rußland, das als Kooperationspartner in Frage kommt. Dieses westliche Interesse deckt sich mit dem Interesse Rußlands, da die notwendige Modernisierung vor allem durch Westeuropa gewährleistet werden kann. Gerade nach der Krise 1998 könnte dieser europäische Strang an Bedeutung gewinnen, zumal bereits jetzt 40% des russischen Außenhandels mit der Europäischen Union abgewickelt werden (unter Einbeziehung der MOE-Staaten sind es sogar fast 60%). In der Perspektive könnte u.a. der Euro den Dollar als Reservewährung ersetzen. Da es in vielerlei Hinsicht Ähnlichkeiten zwischen dem post-sowjetischen Rußland und dem Europa der 50er Jahre gibt, gewinnt das europäische Erfolgsmodell zusätzlich an Attraktivität. So gilt trotz oder gerade wegen der Krise: der Westen wird Rußland nicht fallenlassen bzw. sich selbst überlassen. Allerdings werden die Instrumente der westlichen Rußlandpolitik einer kritischen Revision unterzogen und konzeptionelle Konsequenzen aus bisherigen Fehlern gezogen. Abgesehen von internationalen Problemen wie Umschuldung und Rüstungskontrollfragen (Ratifizierung von START-II, Gespräche über den ABM-Vertrag) sollten aus deutscher Sicht folgende Punkte im Vordergrund stehen:
Da sich das Schielen auf (monetäre) makroökonomische Indikatoren als irreführend erwies, sollte westliche Stützungspolitik vor allem auf mikroökonomische Reformen abzielen. Eine solchermaßen verzahnte Politik - Wahrung der internationalen Ein- und/oder Anbindung in europäische Strukturen plus Verstärkung der substaatlichen Beziehungsnetzwerke - wird keine schnellen Erfolge bringen. Bedenkt man aber, daß der Systemwandel noch längere Zeit in Anspruch nehmen wird, noch von weiteren Krisen begleitet sein wird und ohnehin nur in sehr begrenztem Maße von außen gestützt werden kann, erscheint eine realistische Politik kleiner Schritte als sinnvolle Variante. Zudem könnten dadurch Multiplikatoreffekte angestoßen werden, die in der Perspektive das zivilgesellschaftliche Potential stärken. Für eine - bislang noch weitgehend fehlende - operative Politik in den deutsch-russischen Beziehungen gibt es also genug Ansatzebenen. Die Krise als Aufbruch? In der klassischen Volkswirtschaftslehre profitiert die heimische Exportindustrie von einer Währungsabwertung. So gibt es auch in Rußland einige Anzeichen dafür, daß die Produktion in ausgewählten Bereichen anzieht. Darüber hinaus sank bereits die Nachfrage nach westlichen Konsumgütern, da sich die entstandene Mittelschicht in ihrer Konsumpräferenz mangels Kaufkraft umorientierte. Eine kurzfristige umfassendere Importsubstitution scheitert aber an der Abhängigkeit insbesondere der weiterverarbeitenden Industrie von westlichen Importprodukten. Mittelfristig werden jedoch die Marktchancen einheimischer Produkte zweifellos zunehmen. Der politische und wirtschaftliche Reformbedarf Rußlands bleibt enorm. Zu den drängendsten Problemen gehören eine Verwaltungsreform, die zu Entbürokratisierung führt, ein funktionierendes Insolvenzverfahren unter Inkaufnahme der Schließung maroder Betriebe, eine Agrarreform einschließlich der Verabschiedung eines föderalen Bodengesetzes, so daß der Schutz von Eigentumstiteln nicht nur von einigen progressiven Regionen gewährleistet wird, sowie schließlich eine Reform des Sozialsystems und der kommunalen Dienstleistungen wie Strom- und Wasserversorgung. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser notwendigen Reformmaßnahmen lassen sich die Varianten der möglichen innenpolitischen Entwicklung wie folgt skizzieren:
Derzeit läuft vieles auf das dritte Szenario hinaus, also auf die Variante des Durchmogeln marsch!". Dafür spricht auch, daß sich Je. Primakow nicht als Reformator, sondern eher als Stabilisator begreift. Da das Ruder weder nach links noch nach rechts herumgerissen wird, bleibt Rußland im gewohnten Fahrwasser, in dem Krisen zur Normalität gehören und wirkliche Durch-, Auf- oder Einbrüche nicht zu erwarten sind. Außenpolitische Themen interessieren nur eine kleine Elite, nicht die breite Öffentlichkeit. Konsens besteht darin, der Dominanz der verbliebenen Supermacht USA entgegenzusteuern. Verschwörungstheorien erfahren eine beachtliche Renaissance. Dem Westen wird dabei unterstellt, eine vorsätzliche Schwächung Rußlands durch eine gezielte Zerstückelungspolitik oder durch die Reduzierung Rußlands auf die Rolle des billigen Ressourcenlieferanten zu betreiben. In ihren politisch-ideologischen Grundanschauungen sind nur etwas mehr als die Hälfte der Russen festgelegt. Weniger als ein Zehntel hängt westlich-liberalen Vorstellungen an, jeweils ca. ein Sechstel ordnete sich zentristischen oder linksideologischen Strömungen zu oder sprach sich für einen betont eigenständigen russischen Entwicklungsweg aus. Durch die Finanz- und Wirtschaftskrise erhielt vor allem das linksnationale Spektrum Zulauf, für das ein sowjet-nostalgischer, patriotischer und anti-kapitalistischer Konsens charakteristisch ist. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 2000 |