FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Reichsbahnstreik in Berlin (1980). Nach der Enteignung des Sondervermögens „Deutsche Reichsbahn“ durch die Alliierten (s. Reichsbahnstreik in Berlin, 1949) verfügte die DR in West-Berlin nur über ein Betriebsrecht, konnte ausschließlich auf die dem laufenden Betrieb dienenden Vermögensteile zugreifen und unterlag vollständig der alliierten Jurisdiktion. Die SED, die die DR dem DDR-Verkehrsministerium unterstellt hatte, reklamierte dessen ungeachtet ein uneingeschränktes Eigentumsrecht der DDR auch über West-Berliner Reichsbahnanlagen inkl. Grundstücke, Fahrzeuge etc. Die unterschiedlichen Rechtsauffassungen der Westalliierten und des Berliner Senats auf der einen, der UdSSR und der DDR auf der anderen Seite mündeten in einem alltäglichen Kleinkrieg. Besonders virulent blieben die Auseinandersetzungen um die Polizeihoheit auf dem West-Berliner Bahngelände. Von Anfang an wirkten sich die polit. Rahmenbedingungen negativ auf die wirtsch. Situation der DR in den Berliner Westsektoren aus. Besonders schwere ökonom. Verluste waren mit dem Mauerbau 1961 verbunden. Vor allem die von der DR betriebene S-Bahn erlitt in West-Berlin dramat. Einbrüche bei den Fahrgastzahlen, da nicht nur die Pendler aus Ost-Berlin und der DDR ausblieben und der durchgehende S-Bahn-Verkehr zwischen West-Berlin und dem Ostteil der Stadt stark eingeschränkt wurde, sondern der Berliner Landesverband des DGB zu einem Boykott der S-Bahn aufrief („Jeder West-Berliner S-Bahn-Fahrer bezahlt den Stacheldraht am Brandenburger Tor“). Dieser Appell wurde weitgehend befolgt. Schon in den ersten Tagen ging die Zahl der S-Bahn-Benutzer von täglich einer halben Million auf weniger als 100 000 zurück. Einige West-Berliner machten ihrer Empörung über den Mauerbau durch Zerstörungen an Fahrzeugen und Anlagen der S-Bahn Luft. Die ökonom. Lage der S-Bahn war schon in den 70er Jahren katastrophal: 1974 betrug das Defizit der S-Bahn 30 Mio. DM und 132 Mio. DDR-Mark. Auch die soziale Situation der nur noch etwa 3 500 West-Berliner Reichsbahner, unter ihnen viele Mitglieder und Sympathisanten der SEW, verschlechterte sich bis Ende der 70er Jahre durch ungenügende Anpassung der Löhne an die steigenden Lebenshaltungskosten immer weiter. Die Beschäftigten verdienten weit weniger als Angehörige der Bundesbahn oder West-Berliner Industriearbeiter. Forderungen nach substanziellen Lohnerhöhungen oder einer Verbesserung der aufgrund mangelnder Investitionen häufig katastrophalen Arbeitsbedingungen wurden seitens der Reichsbahndirektion immer wieder mit dem Verweis auf die angeblich krisenfesten und sicheren Arbeitsplätze beantwortet. Als Anwalt ihrer Mitarbeiter akzeptierte die DR allein den FDGB, der sich allerdings zumindest auf der mittleren Funktionärsebene ähnlich wie in der DDR nicht als Interessenvertretung der Arbeitnehmer, sondern als Transmissionsriemen der „Eisenbahnpolitik“ der SED verstand. Extrem kurzfristig ausgesprochene Entlassungen schürten im Januar 1980 den Unmut unter den Beschäftigten weiter. Selbst nach der Auffassung einer Betriebsgruppe der SEW wurden bei dieser Kündigungswelle „sämtliche Prinzipien eines normalen Umgangs mit Menschen, insbes. in einem Betrieb der sozialist. DDR, außer Acht gelassen. Die Art und Weise der Realisierung schadet in hohem Maße dem Ansehen des FDGB sowie unserer Partei und öffnet dem Klassengegner in unserem Betrieb Tür und Tor.“ Als die DR am 15.9.1980 drastische Einschränkungen des S-Bahn-Verkehrs ankündigte, die für viele Reichsbahner mit weiteren Einkommenskürzungen verbunden waren, brach zwei Tage später ein offener Streik aus. Die S-Bahn und der Güterfernverkehr wurden lahmgelegt. Die Streikenden forderten die Rücknahme der Entlassungen, Lohnerhöhungen und weitere soziale Verbesserungen. Die Reichsbahnführung lehnte Verhandlungen prinzipiell ab und griff sofort zu fristlosen Entlassungen. Gegen die Besetzung von Stellwerken gingen mit Hunden, Äxten und Brechstangen bewaffnete Bahnpolizisten vor. Herbeigerufene West-Berliner Polizei konnte nur mühsam eine Eskalation der Gewalt vermeiden. Der ADN berichtete nicht über den Streik, sondern von angeblichen „terrorist. Überfällen auf Stellwerke und S-Bahnen“. Da sich die Streikenden auch 1980 durch den FDGB nicht vertreten fühlten und die (DGB-)Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED) keine Möglichkeit sah, sich für die Belange der West-Berliner Eisenbahner einzusetzen, kam schnell die Forderung nach einer freien Gewerkschaft nach polnischem Vorbild (s. Solidarnosc) auf. Ähnlich wie in Danzig entwickelte sich aus den ursprünglich sozialen Forderungen der Eisenbahner ein polit. Streik, da die Streikenden wegen der kompromisslosen Haltung der DR am 22.9.1980 Verhandlungen des Berliner Senats mit der DDR und den Westalliierten über die Übernahme der Eisenbahnbetriebsrechte durch den Senat forderten. Da aber Senat und Westmächte am Status quo festhalten wollten und den streikenden Eisenbahnern die Unterstützung verweigerten, brach der Ausstand am 25.9.1980 zusammen. Der DR war es mittels massiver Gewaltanwendung gelungen, die Besetzung von Bahnanlagen zu beenden und den Betrieb mit Hilfe von Ost-Berliner Eisenbahnern wieder in Gang zu bringen. 200 Streikende erhielten in den nächsten Tagen ihre schriftliche Kündigung, insgesamt meldeten sich 350 ehem. Reichsbahner arbeitslos. Die SEW musste einen weiteren Ansehensverlust unter der West-Berliner Bevölkerung hinnehmen.
St.A.