FDGB-Lexikon, Berlin 2009


Reichsbahnstreik in Berlin (1949). Bereits am 28.4.1945 erließ der sowj. Stadtkommandant des noch nicht vollständig besetzten Berlins den Befehl Nr. 1, in dem die Aufnahme der Arbeit der öffentlichen Verkehrsmittel, u.a. der Eisenbahn, angeordnet wurde. Mittels des SMAD-Befehls Nr. 8 vom 11.8.1945 wurde der Eisenbahnbetrieb in der SBZ den „deutschen Eisenbahnern“ übergeben. In Berlin dagegen beschloss die Alliierte Kommandantur am 20.9.1945, der Deutschen Reichsbahn (DR) einen Sonderkredit für den laufenden Monat zu bewilligen, was die Übernahme von Vier-Mächte-Verantwortung auch im Bereich des Eisenbahnwesens verdeutlicht. Trotzdem akzeptierten die Westalliierten die zunächst einseitig von den Sowjets getroffenen Maßnahmen stillschweigend und stellten auch die von sowj. Offizieren weiterhin ausgeübte Verkehrsaufsicht nicht in Frage, was später zu einigen Irritationen beitrug. Zuvor war durch das Gesetz Nr. 52 in den Westzonen und mittels Befehl Nr. 124 im sowj. Machtbereich das Vermögen des Deutschen Reichs und damit auch das Sondervermögen „Deutsche Reichsbahn“ beschlagnahmt und der Kontrolle der jeweiligen Militärregierung unterworfen worden. In den Berliner Westsektoren trat das Gesetz Nr. 52 am 25.8.1945 in Kraft. Ungeachtet der klaren Rechtslage erhob die SMAD in ganz Berlin Anspruch auf das gesamte Reichsbahnvermögen und die entsprechenden Einrichtungen sowie sogar auf hoheitliche Gewalt über das Reichsbahngelände. Zum ersten großen Konflikt kam es im April 1948, als sowj. Militär das im amerikan. Sektor gelegene Grundstück der Reichsbahndirektion Berlin besetzte, um diesen Anspruch zu unterstreichen. Nachdem US-Militärpolizei das Gelände abgeriegelt hatte, zogen die Sowjets zwei Tage später schließlich ab. Weitere schwere Auseinandersetzungen folgten im Zuge der Währungsreform vom Sommer 1948. Entsprechend dem sowj. Rechtsstandpunkt betrachtete die DR die westliche Währung als illegal und weigerte sich, sowohl eigene Verbindlichkeiten in West-Berlin als auch die Gehälter der in den Westsektoren lebenden Eisenbahner in Westmark auszuzahlen. Dies brachte die West-Berliner Reichsbahnbeschäftigten in eine zunehmend prekäre Lage, insbes. nachdem die Westalliierten am 20.3.1949 die Westmark nach einer Übergangsperiode zum künftig alleinigen gesetzlichen Zahlungsmittel erklärten. Außerdem erkannte die DR die unter dem Dach der Unabhängigen Gewerkschafts-Organisation (UGO) gebildete Eisenbahnergewerkschaft nicht als Verhandlungspartner an. Dies änderte sich auch nach dem Streikaufruf der UGO vom 21.5.1949 nicht, stattdessen vereinbarten die DR und der schon weitgehend gleichgeschaltete FDGB eine Zahlung von 60% des Gehalts in Westmark. Der Arbeitskampf eskalierte, da die etwa 10 000 Streikenden sich nun auch ihres legitimen Interessenvertreters beraubt fühlten und die Reichsbahn sogar Streikbrecher und bewaffnete Kräfte einsetzte, die als Bahnpolizei firmierten. Nach gewaltsamen Auseinandersetzungen, bei denen es Tote und Verletzte gab, griffen die Westmächte ein und gestatteten dem West-Berliner Polizeipräsidenten nötigenfalls „tatkräftiges Einschreiten“ gegen die Ost-Berliner Kräfte. Die Bahnpolizei (der DR) dürfe nur technische Anlagen sichern. Gleichzeitig forderten die Westalliierten die Beschäftigten zur Beendigung des Streiks auf und wiesen die West-Berliner Verwaltung an, den Eisenbahnern den nicht in westlicher Währung gezahlten Gehaltsanteil vollständig umzutauschen. Diese faktische Subventionierung der DR durch die westlichen Alliierten diente der Sicherung der New Yorker Vereinbarungen mit der UdSSR, die zum Ende der Blockade geführt hatten. In der SED-Literatur wurde der Streik durchgängig als „UGO-Putsch“ bezeichnet.
St.A.