Nationalismus ist das Prinzip, dass die Nation die Grundlage der politischen Ordnung sein muss. Dabei kann "die Nation" je nach den historischen, politischen und sozialen Begleitumständen und Interessenlagen durchaus unterschiedlich definiert werden. Staaten müssen Nationalstaaten sein, und ein souveräner Staat ist das Symbol der Freiheit der Nation. Der Nationalismus ist das wohl wirkungsmächtigste kulturelle System der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit. Er wirkt integrierend und sorgt für Zusammenhalt in der modernen, anonymen Massengesellschaft, trägt aber auch Abgrenzung, Aggression und Gewalt in sich.
Das nationalistische Weltbild
Im Gegensatz zu anderen politischen Weltanschauungen zeichnet sich der Nationalismus nicht durch eine umfassende theoretische Begründung aus. Vielmehr basiert er geradezu darauf, seine grundlegenden Postulate so darzustellen, als seien sie selbstverständlich und bedürften keiner näheren Erklärung: dass jeder Mensch einer Nation angehöre und seine Nationalität damit ein entscheidender Bestandteil seiner individuellen Identität sei. Benedict Anderson (1988, S. 15) schlägt vor, den Nationalismus nicht unter den politischen Ideologien einzuordnen, sondern begrifflich wie "Religion" oder "Verwandtschaft" zu behandeln: als ein kulturelles System und gesellschaftliches Phänomen.
Nationen werden häufig an Kriterien wie an einer gemeinsamen Sprache, Kultur, Abstammung, Religion oder Geschichte festgemacht, von denen aber keines eindeutig und objektiv ist. Sie sind vielmehr imagined communities (Anderson 1988), die in erster Linie in der Vorstellung ihrer Mitglieder existieren, welche sich mit anderen, ihnen zum größten Teil völlig unbekannten Menschen in einer nationalen Gemeinschaft wähnen.
Gerade dadurch, dass Nationalismus so vage und wandelbar ist, konnte und kann er in vielen Situationen und von vielen Gruppen zur Durchsetzung ihrer Interessen genutzt werden: im anti-kolonialen Befreiungskampf, zur Schaffung von neuen Staaten durch Vereinigung von kleineren oder Auflösung von größeren, zum Angriff auf dynastische Herrschaft wie zu ihrer Sicherung. Nationalistische Ideen können mit allen politischen Großideologien wie Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus/Kommunismus verbunden werden.
Mit der Nation verbunden ist ein Versprechen von Gemeinschaft, von Gleichheit ihrer Mitglieder, und von Kameradschaftlichkeit und Brüderlichkeit. Die Nation soll über Partikularinteressen stehen. Umgekehrt wird Loyalität, Selbstlosigkeit und Opferbereitschaft eingefordert.
Nationen sind nie universalistisch, sondern definieren sich notwendigerweise in Abgrenzung zu anderen. Durch das "Andere" wird das "Wir" definiert. Nationalismus geht daher regelmäßig einher mit nationalen Stereotypen, mit Feindseligkeit gegenüber denen, die nicht zur eigenen Nation gezählt werden, und häufig auch mit Krieg. Es ist dieses im Nationalismus inhärente Gewaltpotential, das in Franz Grillparzers bitterem Epigramm aus dem Jahr 1849 zusammengefasst wird:
Der Weg der neuern Bildung geht
Von Humanität
Durch Nationalität
Zur Bestialität.
Eine nationalistisch ausgerichtete Geschichtspolitik spielt eine wichtige Rolle bei der Bildung von Nationalstaaten: Nationalisten konstruieren häufig die Geschichte der Nation, indem sie historische Ereignisse auf eine zu ihren politischen Zielen passende, häufig ahistorische Weise interpretieren. Die Erinnerung an nationale Helden oder gemeinsame Kriege, Siege, Niederlagen und Opfer verbinden die lebenden Mitglieder der Nation mit den toten. Es gibt ein großes Repertoire an nationalistischer Symbolik wie Hymnen, Flaggen oder Denkmale. Die Anfänge der Nation sind häufig mythologisiert. Je nach dem, was die Geschichte des Landes anbietet, werden sie beispielsweise mutigen und visionären Gründungsvätern zugeschrieben oder in einer fernen Vergangenheit gesehen.
Nach innen postuliert der Nationalismus eine kulturelle Homogenisierung, die als Aufgabe staatlicher Politik gesehen wird. Dies kann beispielsweise über die Verbreitung der Mehrheitskultur über das Bildungs- und Mediensystem oder die Sprach- und Kulturpolitik erfolgen, durch die Minderheiten assimiliert werden sollen. Im Extremfall, insbesondere in Kriegs- und Krisenzeiten, kann diese Politik aber auch bis zur Vertreibung oder gar massenhaften Ermordung von Minderheiten gehen, die aufgrund ihrer Nationalität als nicht integrierbar und als "Bedrohung für die Nation" oder "Feind im Innern" dargestellt werden. Umgekehrt kann die tatsächliche oder empfundene Diskriminierung von Minderheiten, weil beispielsweise ihre Sprache ein Karrierehindernis darstellt, zu Forderungen nach Grenzveränderungen oder stärkerer Autonomie führen, die mit dem Gedanken der nationalen Einheit nicht ohne weiteres zu vereinbaren sind. Existieren Nachbarstaaten, die sich ethnisch mit den Minderheiten verbunden fühlen und als deren Schutzmächte auftreten, ergibt sich wiederum Stoff für zwischenstaatliche Konflikte, wenn beispielsweise Grenzveränderungen gefordert werden.
Die historische Entwicklung nationalistischen Denkens
Nationalismus und Nationen in der heutigen Bedeutung der Begriffe sind Produkte der Neuzeit. Im Mittelalter waren nicht Nationen, sondern hierarchische Beziehungen zwischen Personen und dynastische Herrschaft die Basis der politischen Ordnung. Die geografischen Grenzen von Herrschaftsgebieten änderten sich regelmäßig durch Erbe, Heirat oder Krieg zwischen den Herrschenden; politische Grenzen entsprachen normalerweise nicht den Sprachgrenzen. Entsprechend des Erfahrungshorizonts der meisten Menschen waren die meisten Gemeinschaften lokal begrenzt und beruhten in erster Linie auf persönlicher Bekanntschaft. Daneben existierten die großen, über die politischen Grenzen hinausreichenden Sakralgemeinschaften wie das Christentums, der Islam und der Konfuzianismus mit ihrem universalistischen Anspruch und ihren eigenen, im Alltag nicht gebrauchten Sprachen.
Bedeutsam für die Auflösung dieses System waren die Relativierung des religiösen Weltbildes, die Entdeckungsreisen und die Erfindung des Buchdrucks. Dessen Märkte hatten im Wesentlichen sprachlich definierte Grenzen und schufen anonyme, nicht mehr auf persönlichem Kontakt beruhende, aber auch nicht universalistische Kommunikationsgemeinschaften. Hier liegen die kulturellen und ökonomischen Wurzeln für das territorialisierte Weltbild der Neuzeit.
Die Veränderungen in Wirtschaft, Kommunikation und Verkehr lieferten die Grundlage für ein politisches Programm, das auf die Ablösung der alten, hierarchischen und statischen Herrschaftsformen und die Schaffung eines neuen Staatentyps abzielte, der das politische Gehäuse für die neuen Gemeinschaften werden sollte: der Nationalismus. Wirksam wurde er zunächst als emanzipatorische, revolutionäre Ideologie in den nord- und südamerikanischen Kolonien und in der Französischen Revolution. Die "Interessen der Nation" konnten gegen hergebrachte dynastische Herrschaftssysteme in Stellung gebracht werden. Somit ist die Nation in ihren Wurzeln ein bürgerliches Staatsmodell. Mit dem populistischen Versprechen von Gleichheit aller Staatsbürger und der Aussicht auf politische Teilhabe konnten die Massen mobilisiert werden.
Das in Amerika und Westeuropa dominierende Modell der Nation sieht ihren Bezugspunkt in erster Linie im demos, also im Volk als einer politischen Gemeinschaft, die auf einer gemeinsamen politischen Ordnung beruht, zu der sich ihre Mitglieder bekennen. Politische Teilhabe und Solidarität der Staatsbürger werden postuliert: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Grundsätzlich kann jeder der Nation angehören, der sich zu ihren politischen und gesellschaftlichen Prinzipien bekennt.
Das Alternativ-Modell greift Elemente der Romantik auf und war zunächst im Gebiet Deutschlands (speziell in Preußen), später auch in Italien und Osteuropa, einflussreich. Es war eine Reaktion auf den französischen Nationalismus, den es ablehnte, gleichzeitig aber adaptierte und neu interpretierte: Die Nation ist nicht politisch, sondern ethnisch definiert und hat eine gemeinsame Abstammung, Kultur, Traditionen und Sprache zur Grundlage. Nationalität und Staatsangehörigkeit sind nicht notwendigerweise das selbe. Staatliche Grenzen sollen sich nach den historischen oder aktuellen Siedlungsgebieten von ethnischen Gruppen richten. Forderungen, wie sie vor und in den Revolutionen von 1848 deutlich wurden, waren zunächst die Bildung eines Nationalstaats (durch den Zusammenschluss von kleineren Staaten bzw. durch Herauslösung von neuen Staaten aus "Vielvölkerstaaten"), daneben aber wiederum auch Freiheit und politische Teilhabe – es muss betont werden, dass beide Modell idealtypisch sind und zu unterschiedlichen Situationen und bei verschiedenen Gruppen durchaus auch kombiniert auftreten können.
Viele traditionell-dynastische Herrscher reagierten ab der zweiten Hälfte 19. Jahrhunderts auf die nationalistische Herausforderung, indem sie deren Symbolik und Rhetorik übernahmen und umdeuteten, sich selbst zum Führer und zur Verkörperung der Nation stilisierten und so das Mobilisierungspotenzial des Nationalismus zur Sicherung ihrer Herrschaft benutzten. So bezeichnete sich Wilhelm II. zum Beispiel als "erster unter den Deutschen". Gerade in den alten "Vielvölkerstaaten" blieb diese Strategie jedoch erfolglos. So bewirkte beispielsweise in Österreich-Ungarn die Einführung des Deutschen statt des Lateinischen als Verwaltungssprache – keine nationalistische, sondern eine pragmatische, modernisierend gemeinte Maßnahme – eine Benachteiligung der nicht-deutschsprachigen Bürger und eine Stärkung der nationalen Bewegungen. In der Folge des Ersten Weltkriegs zerbrachen schließlich die großen Vielvölkerstaaten, ausgenommen die Sowjetunion, wo dieser Prozess durch die kommunistische Herrschaft bis 1991 aufgeschoben wurde.
Das Nationalstaatsprinzip, die europäischen Staatenordnung und nationale Minderheiten
Nationalismus hat bei zahlreichen innerstaatlichen und internationalen Konflikten der letzten beiden Jahrhunderte eine wichtige Rolle gespielt und zur Rechtfertigung von Gewalt und Zwang gedient. Nach außen sind konkurrierende territoriale Ansprüche und die Forderung nach Grenzveränderung zur Schaffung von Nationalstaaten Zündstoff im internationalen Staatensystem.
Die Gründung von Nationalstaaten führte seit dem 19. und frühen 20. Jahrhundert insbesondere in Ost- und Südosteuropa zu einer tiefgreifenden Veränderungen der politischen Landkarte. Die Revolutionen von 1848/49 zeigten, dass viele nationalistische, demokratische Bewegungen entstanden waren, die Forderungen nach "nationaler Selbstbestimmung" erhoben. Mit der griechischen Unabhängigkeit (1830) begann die Bildung souveräner Nationalstaaten auf dem Balkan, die sich den 1870er-Jahren mit der Unabhängigkeit bzw. Autonomie Bulgariens, Rumäniens und Serbiens fortsetzte.
Auch nach dem Ersten Weltkrieg entstanden eine Anzahl neuer Staaten. Besonders US-Präsident Wilson wollte das "Selbstbestimmungsrecht der Völker" zur Grundlage der Nachkriegsordnung machen. In Europa wurde dies allerdings weniger im Sinne von demokratischer, sondern von ethnisch-nationaler Selbstbestimmung verstanden. In den Nachkriegsverträgen ("Pariser Vorortverträge") wurden unter anderem das Habsburger und das Osmanische Reich nach nationalen Prinzipien aufgeteilt: Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei, Jugoslawien, die baltischen Staaten und andere wurden gegründet. Auch Österreich und die Türkei wurden zu Nationalstaaten. Eine große Zahl von Grenzveränderungen wurde vorgenommen.
Die zunehmende Anwendung den Nationalstaatsprinzips als Grundlage der europäischen Ordnung war jedoch weniger eine Lösung für bestehende Probleme als ein Quelle neuer Konflikte. In fast allen neuen Nationalstaaten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts lebten zahlenmäßig bedeutsame ethnische Minderheiten ("Nationalitäten"). Zwar legten die Pariser Vorortverträge fest, dass die Minderheiteninteressen in den neuen Staaten verfassungsrechtlich zu schützen seien. Dennoch barg die "Nationalitätenfrage" ein erhebliches Konfliktpotential. Angehörige von Minderheiten fühlten sich diskriminiert und Assimilationsdruck ausgesetzt. Für Angehörige der zum Staatsvolk definierten Mehrheitsnationalität standen Sonderrechte der Minderheiten im Widerspruch zur eben erst etablierten nationalen Souveränität. Sprach-, Bildungs- und Kulturpolitik, Zugang zu Karrieren im öffentlichen Dienst und Agrarreformen waren in vielen Staaten umstritten. Soziale, umverteilende und modernisierende Maßnahmen wurden vielfach im Namen der Nation auf Kosten von Minderheiten, speziell auch der Juden, durchgeführt. Nicht zuletzt in diesen Konflikten wurden Begriffe geprägt wie "der deutsche Osten" oder "das Sudetenland", welche den multiethnischen und multikulturellen Charakter dieser Gebiete verschleierten und zur Begründung politischer Forderungen dienten.
Von Lausanne bis Jugoslawien – Zwangsmigrationen und ethnische Säuberungen im Europa des 20. Jahrhunderts
Literaturhinweise
Anderson, Benedict
Die Erfindung der Nation : zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts / Benedict
Anderson. - Frankfurt/Main [u.a.] : Campus-Verl., 1988. - 216 S.. - (Reihe
Campus ; 1018)
Einheitssacht.: Imagined communities <dt.>
ISBN 3-593-33926-9
Signatur(en): A 93-202
Das Standardwerk, das Nationen überzeugend als anonyme, bloß vorgestellte Gemeinschaften darstellt, die durch den Kitt des Nationalismus zusammengehalten werden.
Gellner, Ernest
Nationalismus und Moderne / Ernest Gellner. – Aus dem Englischen von Meino Büning. - 1. Aufl. - Hamburg : Rotbuch-Verlag, 1995.
ISBN: 3-88022-358-0
Gellner zeigt, wie die moderne Idee der Nation aus den Erfordernissen der industriellen Revolution entstand.
Hobsbawm, Eric J.
Nation und Nationalismus : Mythos und Realität seit 1780 / Aus d.
Engl. von Udo Remert. - Frankfurt/M. [u.a.] : Campus Verl., 1991. - 239 S. Bibliogr.
S. 225-234
Einheitssacht.: Nations and nationalism since 1780 <dt.>
ISBN 3-593-34524-2
Signatur(en): A 91-5752
Der britische Historiker beleuchtet das Phänomen des Nationalismus aus marxistischer Sicht. Während Anderson sich vornehmlich auf die kulturellen und politischen Eliten konzentriert, gilt Hobsbawms Interesse auch dem "volkstümlichen Nationalismus" in den unteren Schichten.
Langewiesche, Dieter
Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa / Dieter
Langewiesche. - Orig.-Ausg.. - München : Beck, 2000. - 266 S. : Ill..
- (Beck'sche Reihe ; 1399)
Literaturverz. S. 231 - 240
ISBN 3-406-45939-0
Signatur(en): A 00-5807
Sammlung von Texten mit Hauptaugenmerk auf der deutschen Geschichte. Langewiesche betont die "Janusköpfigkeit" jeder nationalen Bewegung, die stets mit Partizipationsverheißung und Aggression einhergehe.
Langewiesche, Dieter
Nation, Nationalismus, Nationalstaat. Forschungsstand und Forschungsperspektiven.
In: Neue politische Literatur 40, 1995, S. 190-236.
Signatur(en): X 1039
Umfassender Forschungsbericht mit zahlreichen Literaturangaben.
Gerrit Schäfer
Zu den Quellentexten
Literatur aus der Bibliothek der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung
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