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Zwangsmigrationen und Vertreibungen in Europa 1938-48

In den Jahren um den Zweiten Weltkrieg gab es die bislang größte Welle von Zwangsmigrationen in Europa. Emigration, Flucht, Verschleppung, Vertreibung, Umsiedlung – viele Millionen Menschen waren betroffen, insbesondere in Mittel- und Osteuropa. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, alle diese Ereignisse detailliert zu behandeln. Einige sollen herausgegriffen und näher betrachtet werden, die einerseits exemplarisch für Zwangsmigrationen sind, andererseits aber natürlich auch jeweils ihren spezifischen Ablauf und historischen Kontext haben:

  • Die sogenannte "Heim ins Reich"-Politik der Nationalsozialisten sollte Deutsche aus Ländern, in denen sie eine Minderheit bildeten, nach Deutschland bringen. Entsprechende Abkommen ermöglichten eine Umsiedlung auch gegen den Willen der Betroffenen. Ziel war eine ethnische Homogenisierung. Viele der Umsiedler wurden nach Kriegsbeginn in den eroberten Gebieten angesiedelt, aus denen die polnische, tschechische und jüdische Bevölkerung zwangsausgesiedelt beziehungsweise in Ghettos und Lager verschleppt oder ermordet worden war.

  • Die NS-"Bevölkerungspolitik" in Osteuropa in den Kriegsjahren: Hier wird die Besatzungspolitik in Polen und der Tschechoslowakei näher untersucht.

    Auf die Zusammenhänge zwischen der Räumung von besetzten Gebieten in Osteuropa durch zwangsweise Aussiedlung der nicht-deutschen Bevölkerung und der millionenfachen Deportation und Ermordung der Juden hat insbesondere der Historiker Götz Aly hingewiesen. Sicherlich spielt auch hier das Ziel der ethnische Homogenisierung eine wichtige Rolle. Zudem weisen die ersten Phasen des Holocaust mit der bürokratischen Erfassung und Verschleppung der jüdischen Bevölkerung und den damals noch gehandelten Aussiedlungsplänen (zum Beispiel nach Madagaskar) zumindest einige Gemeinsamkeiten mit anderen erzwungenen Umsiedlungen auf. Zu bedenken sind jedoch, dass dabei ein Antisemitismus wirksam wird, der viel älter ist als nationalistische Ideen, und dass das rassistische, exterminatorische Denken der Nationalsozialisten schon früh in ihrer Rhetorik und ihrem Handeln sichtbar wird – ob etwaige Umsiedlungspläne jemals realistisch waren, ist eher zweifelhaft. Der Holocaust weist Verbindungen zum Phänomen der Zwangsmigrationen auf, weshalb er hier einbezogen ist, bleibt jedoch letztlich ein Ereignis, das ohne historische Parallele ist.

  • Es fanden darüber hinaus auch in anderen Gebieten im großen Stil Zwangsmigrationen während und am Ende des Krieges statt, insbesondere auf dem Territorium der Sowjetunion und in den von ihr besetzten Gebieten. Hier wird das Beispiel der zuvor den östlichen Teil Polens bildenden Gebieten herausgegriffen, die der Sowjetunion angegliedert wurden. Die polnische Bevölkerung wurde ins neu zugeschnittene Polen ausgesiedelt, häufig in die Gebiete, die zuvor von der deutschen Bevölkerung verlassen werden musste.

  • Die Flucht und erzwungene Aussiedlung der deutschen Bevölkerung nach Kriegsende aus vielen ost- und südosteuropäischen Staaten ist schließlich die letzte Phase in der Geschichte der Zwangsmigrationen in der Zeit um den Zweiten Weltkrieg. Hier werden die Ereignisse in der Tschechoslowakei und in Polen näher betrachtet, wo die größte Zahl von Menschen betroffen war. Wegen ihrer großen symbolischen Bedeutung ist dabei den sogenannten Beneš-Dekreten ein eigener Beitrag gewidmet.

Gerade dieser Themenkomplex ist auch sechs Jahrzehnte nach den Ereignissen noch von großer Brisanz. In der Geschichtswissenschaft wird er kontrovers debattiert. In der Politik ist er Anlass von Irritationen, Konflikten und Streit, wie die Debatten um die richtige Art des Gedenkens und Forderungen nach Entschädigungsleistungen zeigen.

Auch ist die Debatte besonders davon geprägt, dass in den verschiedenen Ländern lange Zeit – und teilweise bis heute – sehr unterschiedliche Wahrnehmungen der Ereignisse und sehr unterschiedliche Geschichtsschreibungen existiert haben und mehr Kommunikation, Austausch und Verständigung erst mühsam und schrittweise erarbeitet werden müssen.

 

Gerrit Schäfer

 

Literaturhinweise

Aly, Götz
"Endlösung" : Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden / Götz Aly. - Frankfurt am Main : S. Fischer, 1995. - 446 S. : Kt.
Literaturverz. S. 421-432
ISBN 3-10-000411-6
Signatur(en): A 96-4350

 

Monika Flacke, Ulrike Schmiegelt
Mythen der Nationen. Kampf der Erinnerungen. Über die Schwierigkeiten der Musealisierung europäischer Zwangsmigrationen.
In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 51/1 (2003), S. 54-58.
Signatur(en): X 1069
http://www.metropol-verlag.de/_ftp/zfg_01_2003.pdf

 

Naimark, Norman M.
Flammender Hass : ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert / Norman M. Naimark. - München : Beck, 2004. - 301 S.
Einheitssacht.: Fires of hatred <dt.>
ISBN 3-406-51757-9
Signatur(en): A 04-1036

 

Literatur aus der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung

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(Text in polnischer Sprache/ Tekst w języku polskim)