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Zwangsmigrationen in Europa 1938-48

 

Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung
aus Polen und Ostpreußen

Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße unterschieden sich in ihrem Ablauf deutlich von der in den meisten anderen ost- und südosteuropäischen Ländern. Die Ereignisse begannen im Herbst 1944 mit einer enormen, durch die Kriegsgeschehnisse ausgelöste Welle von Flüchtlingen, die unter schwierigsten Bedingungen versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Nach der Kapitulation folgten schließlich erst so genannte "wilde Vertreibungen" und schließlich die staatlich-bürokratische Zwangsaussiedlung des allergrößten Teils der deutschen Bevölkerung.

Zumindest einige der betroffenen Gebiete waren vor dem Krieg Teil des Deutschen Reiches gewesen. Zwangsaussiedlungen gingen somit einher mit der Festlegung neuer Grenzverläufe und der Wiedergründung eines polnischen Staates, dessen Bevölkerungsstruktur und Territorium sich nach den Jahren des nationalsozialistischen Terrors und den Grenzveränderungen sehr stark verändert hatten.

Evakuierung und Flucht

Nach 1943 verwandelte sich der deutsche Angriff auf die Sowjetunion, der im Sommer 1941 begonnen hatte, in einen stetigen Rückzug. Mit dem Näherrücken der Roten Armee wurde von den deutschen Behörden ab 1944 in einigen Gebieten (Jugoslawien, Slowakei) mit umfangreichen Evakuierungen der dortigen deutschen Bevölkerung begonnen.

Anders sah es dagegen in Ostpreußen und den besetzten Gebieten Polens aus: Als sich die Front im Herbst 1944 in raschem Tempo näherte, begann dort die Flucht vieler Deutscher. Sowohl die NS-Gräuelpropaganda gegen die Rote Armee, mit der man den Widerstandswillen der Bevölkerung stärken wollte, als auch tatsächliche verübte Gewalttaten sowjetischer Soldaten schürten Furcht und Panik. Da die nationalsozialistischen Befehlshaber bis zuletzt Durchhalteparolen verbreiteten und Evakuierungen verboten, geschahen diese Fluchtbewegungen in der Regel spontan, viel zu spät und unter chaotischen Bedingungen. Insbesondere in Ostpreußen wurde die Zivilbevölkerung Spielball der NS-Machthaber und der Wehrmachts-Führung, die trotz der aussichtslosen Lage militärischen Belangen den Vorrang gaben.

Die Flucht vollzog sich so unter schwierigsten Umständen und forderte eine große Zahl von Opfern. Sie geschah in einem extrem kalten Winter mit Temperaturen von minus 20 Grad und darunter. Die meisten Flüchtlinge waren zu Fuß oder im Pferdewagen unterwegs; mancherorts durften sie nur verschneite Nebenstrecken benutzen, um die Hauptstraßen für die Armee freizuhalten. Eisenbahnen wurde fast ausschließlich für militärische Zwecke verwendet. Flüchtlingstrecks wurden angegriffen, überfallen und gerieten zwischen die Fronten. Allein bei der Versenkung des mit Evakuierten besetzten Schiffs "Wilhelm Gustloff" im Januar 1945 starben über 9.000 Menschen. Auch in den von Hitler zu "Festungen" erklärten Städten wie Königsberg und Breslau wurde die Kapitulation hinausgezögert und der Tod tausender Zivilisten in Kauf genommen. Mit dem Angriff der Roten Armee auf den Kessel von Danzig, in dem sich Millionen Flüchtlinge befanden, erreichte die Katastrophe im März 1945 ihren Höhepunkt.

Die Kapitulation Deutschlands erfolgte schließlich am 8. Mai 1945. In den folgenden Wochen und Monaten versuchten viele der Geflohenen, wieder in ihre Heimat zu gelangen. Polnischen Milizen und die Armee begannen jedoch bald, an den Flüssen Oder und Neiße den Übertritt für Deutsche zu sperren, um die Rückkehr der Flüchtlinge zu verhindern.

Die "wilden Vertreibungen"

Nach der Eroberung der deutschen Ostgebiete und des besetzten Polens kam es an vielen Orten zu Ausschreitungen und Gewaltexzessen sowjetischer Soldaten und der polnischen Zivilbevölkerung an Deutschen. Es geschahen Plünderungen, Vergewaltigungen, Morde und Vertreibungen. Deutsche wurde zu Lagerhaft und Zwangsarbeit sowohl in Polen als auch in der Sowjetunion deportiert. Dabei entluden sich bei Polen und sowjetischen Soldaten nicht zuletzt auch der Hass und der Wunsch nach Vergeltung für die brutale deutsche Besatzungsherrschaft in ihren Ländern.

Andererseits wurden viele Vertreibungs- und Gewaltaktionen auch gesteuert und systematisch durchgeführt, um für die Gestaltung der Nachkriegsordnung eine günstige Ausgangsposition zu schaffen. Da der Anspruch der Siegermacht Sowjetunion auf die polnischen Ostgebiete feststand, galt es, die so bezeichneten "wiedergewonnenen Gebieten" bis zu Oder und Neiße möglichst von der deutsche Bevölkerung zu räumen. Dorthin sollten Polen aus dem Osten umgesiedelt werden, die bereits im Sommer 1945 eintrafen. Mit der Sperrung der Grenze für Rückkehrer und den Vertreibungen wurden Fakten für die endgültige Festlegung der deutsch-polnischen Grenze geschaffen.

Die Potsdamer Konferenz und die Zwangsaussiedlungen (1946-47)

Auf eine rechtliche Grundlage gestellt wurden die Vertreibungen schließlich mit der Konferenz der Siegermächte in Potsdam im Juli/August 1945. Damit begannen die großen Aussiedlungen, über die sich die Alliierten im Grundsatz schon seit den Konferenzen von Teheran (1943) und Jalta (Februar 1945) verständigt hatten. Auch die Exilregierungen Polens, der Tschechoslowakei und anderer Staaten hatten sich angesichts der deutschen Besatzung und des sich immer weiter radikalisierenden Krieges für die Austreibung der nationalen Minderheiten entschieden.

Das Abkommen von Potsdam legte fest, dass die noch in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn verbliebene deutsche Bevölkerung in "geordneter und humaner Weise" nach Deutschland umgesiedelt werden sollte. Ausdrücklich bezogen sich die Alliierten dabei auf den Vertrag von Lausanne und das "Heim ins Reich"-Programm der Nationalsozialisten, die Vorbilder für Bevölkerungsverschiebungen dieser Größenordnung waren.

Bis die Zwangsumsiedlungen entsprechend einem von den Alliierten festgelegten Plan begannen, hatte bereits mehr als eine halbe Million Menschen aus dem neuen polnischen Staatsgebiet verlassen – mehr oder minder freiwillig. Ab Februar 1946 begannen die staatlich organisierten Transporte nach Deutschland. Trotz der Bemühungen der Alliierten, dabei wenigstens humanitäre Mindeststandards einzuhalten, waren sie vielfach von schweren Mängeln bei der Versorgung und der Hygiene und gelegentlich auch von Gewalt, Überfällen und Plünderungen gekennzeichnet.

Die Lage der deutschen Bevölkerung und der Ablauf der Zwangsaussiedlungen war regional unterschiedlich. Es gab mancherorts Reisebeschränkungen, die Pflicht zum Tragen von Erkennungszeichen oder Ausweisen oder den Ausschluss von Sozialleistungen. Manchmal ging Lagerhaft und Zwangsarbeit der Abschiebung voraus. Zwang und Druck, zum Beispiel bei der Lebensmittelversorgung, veranlasste viele, schon vorher nach Deutschland zu gehen. Die Ausweisung war häufig Gelegenheit für strafloses Plündern. Andernorts wurden Deutsche von ihren Nachbarn und sogar von sowjetischen Soldaten vor Übergriffen geschützt.

Vielfach herrschte Willkür und Inkonsequenz bei der Festsetzung, wer ausgesiedelt werden sollte und wer bleiben konnte. Unter anderem stellten starke regionale Identitäten und ein Mangel an Nationalbewusstsein – Folgen einer langen Existenz in einem multiethnischen und multikulturellen Grenzgebiet – ein großes Problem bei der Feststellung ("Verifizierung") der polnischen Nationalität dar, die sogar eine Diskriminierung der schon lange dort ansässigen nicht-deutschen Bevölkerung mit sich bringen konnte.

Insgesamt verbesserte sich die Lage nach den ersten Monaten der Gewalt und der Rechtlosigkeit allmählich, als sich die Lage stabilisierte und die polnische Verwaltung Plünderungen und Vergeltungsaktionen immer weniger tolerierte. Auch sorgten Proteste in der Öffentlichkeit der westlichen Länder für Druck auf Polen, gegen die Gewaltexzesse vorzugehen.

Zu manchen Zeiten brachten Züge mehrere tausend Personen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße in die britische oder sowjetische Besatzungszone. Ihre Aufnahme überforderte zeitweise die Behörden im vom Krieg zerstörten Deutschland, so dass die Umsiedlungen mehrfach unterbrochen werden mussten.

Die Gesamtzahl der geflohenen, evakuierten, vertriebenen und ausgesiedelten Deutschen aus der Region östlich von Oder und Neiße belief sich vermutlich auf etwa 10 Millionen Menschen. Die genauen Ausmaße sind allerdings angesichts der Vielzahl der Umsiedlungs-, Flucht- und Abschiebungsbewegungen seit Kriegsbeginn, der chaotischen Umstände und auch – nicht selten von politischen Interessen beeinflusst – unterschiedlichen Zahlenangaben und Erhebungsmethoden nicht sicher zu rekonstruieren.

Die wichtigsten Herkunftsgebiete waren die vormals zum Deutschen Reich, nun zu Polen gehörenden Gebiete wie Westpreußen, Pommern, die Neumark Brandenburg und Schlesien; bereits vor dem Krieg zu Polen gehörende Gebiete mit deutschen Minderheiten wie Oberschlesien; dazu die Stadt Danzig sowie die nun zur Sowjetunion gehörende Gebiete Ostpreußens und des Baltikums. Bis 1947 war der Großteil der Zwangsaussiedlungen abgeschlossen; einige kleinere Transporte erfolgten noch bis 1949. In einigen Gebieten Polens, vor allem in Schlesien, blieb aber eine beträchtliche deutsche Minderheit von insgesamt etwa 1 Million Menschen erhalten.

Die Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung aus dem Gebiet östlich von Oder und Neiße

Die erzwungene Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen und den ehemaligen östlichen Reichsprovinzen war diejenige Zwangsmigration am Kriegsende, vor der die größte Zahl von Menschen betroffen war. Sie war aber keineswegs die einzige in dieser Region Europas: Auch Angehörige der ukrainischen und weißrussischen Minderheit, insgesamt etwa eine halbe Million Menschen, wurden bis 1947 aus Polen ausgesiedelt. In die Gebiete, aus denen die deutsche Bevölkerung vertrieben worden war, wurden Umsiedler aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten und dem Gebiet von Wilna sowie nach dem Krieg heimatlose ehemalige Zwangsarbeiter gebracht. In den ehemals polnischen, nun sowjetischen Gebieten im Osten wurden vor allem Weißrussen und Ukrainer angesiedelt.

Die wichtigsten Motive für die Vertreibung der Deutschen waren neben der Vergeltung für das während der deutschen Besatzungszeit erlittene Leid und dem Ausgleich materieller Verluste der Vorwurf, dass die deutschen Minderheiten als Vorwand für den Angriff gedient oder dabei sogar mit den Invasoren kooperiert hatten. Damit verbunden war die Idee, dass ethnisch homogene Nationalstaaten eine bessere Grundlage für Frieden und Stabilität darstellten. Aus der Existenz von Minderheiten abgeleitete Gebietsansprüche sollte es zukünftig nicht mehr geben. Die Vertreibungen und Zwangsaussiedlungen wurden deshalb vom Großteil der polnischen Bevölkerung und von der Führung, aber auch von den Regierungen der Alliierten befürwortet und als notwendig angesehen.

Damit stehen diese Ereignisse auch in der Tradition staatlich organisierter Verschiebungen von ethnisch definierten nationalen Minderheiten, welche die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts durchziehen. Die Ausmaße, die sie annahmen und das Maß an Zwang und Gewalt, mit dem sie durchgeführt wurden, wurzeln allerdings in der Expansions- und Vernichtungspolitik und der Erfahrung des totalen Kriegs, den das nationalsozialistische Deutschland über Osteuropa gebracht und der diejenigen Polen geprägt hatte, die nach der Befreiung die Vertreibung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung planten und durchführten.

Gerrit Schäfer

Literaturhinweise

Brandes, Detlef Der Weg zur Vertreibung 1938-1945 : Pläne und Entscheidungen zum "Transfer" der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen / Detlef Brandes. Mit einem Vorw. von Hans Lemberg. - München : Oldenbourg, 2001. - XIV, 499 S.. - (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum ; 94) Literaturverz. S. 429-446 ISBN 3-486-56520-6 Signatur(en): A 02-181 Umfassende Studie zur Entstehung der Vertreibungspläne in den Kriegsjahren. Das Standardwerk zum Thema.

 

Piotr Madajczyk

"Der Transfer der deutschen Bevölkerung aus dem Oppelner Schlesien nach 1945". – In: Erzwungene Trennung. Vertreibungen und Aussiedlungen in und aus der Tschechoslowakei 1938-1947 im Vergleich mit Polen, Ungarn und Jugoslawien. – Hrsg. von Detlef Brandes, Edita Ivaničková, Jiří Pešek (Veröffentlichungen der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission, Bd. 8). - Essen : Klartext-Verlag, 1999. – S. 279-293.

Lesenswerter, differenziert argumentierender Beitrag in einem vergleichend angelegten Band, dessen Schwerpunkt auf den Zwangsmigrationen in der Tschechoslowakei in der Zeit des Zweiten Weltkriegs liegt.

 

Nitschke, Bernadetta

Vertreibung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen 1945 bis 1949 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Bd. 20). - München : Oldenbourg, 2003.

Sehr detaillierte und materialreiche, betont abwägend und neutral angelegte Studie der polnischen Historikerin Bernadetta Nitschke.

 

Die deutsche Besatzungspolitik in Polen

Zwangsmigrationen im östlichen Polen am Ende des Zweiten Weltkriegs

Die Debatten über die Vertreibung der Deutschen in Polen seit 1945

Literatur aus der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung

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(Text in polnischer Sprache/ Tekst w języku polskim)