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Nationalismus, Zwangsmigrationen
und ethnische Säuberungen

Von Lausanne bis Jugoslawien –
Zwangsmigrationen und ethnische Säuberungen im Europa des 20. Jahrhunderts

Eine radikale Antwort auf die "Nationalitätenfrage" ist die Austreibung der Minderheiten von Minderheiten zum Zweck der Bildung eines Staates, der dann ein "Nationalstaat" sein soll. Südosteuropa und speziell der Balkan waren zu Beginn und am Ende des Jahrhunderts Schauplätze solcher Zwangsmigrationen. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg lag der Schwerpunkt in Mittel- und Osteuropa. Am Ende des Jahrhunderts fanden Zwangsmigrationen großen Ausmaßes wiederum auf dem Balkan und im Kaukasus statt.

Die Zeit bis 1925

Die muslimische Minderheiten in den neuen Nationalstaaten auf dem Balkan waren bereits im 19. Jahrhundert von Diskriminierung und Verfolgung betroffen, so dass eine große Zahl von Menschen ihre Heimat verließ. In den Balkankriegen (1912/13) mussten schließlich Zehntausende Menschen aus ihren Heimatländern flüchten, weil sie Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten waren. Offiziell sanktioniert wurde diese Politik anschließend durch einen Vertrag zwischen Bulgarien und der Türkei, der einen Bevölkerungstausch im Grenzgebiet vorsah.

Eine ethnische Homogenisierung des Staates war auch das Ziel der jungtürkischen Nationalisten, die ab 1908 im Osmanischen Reich regierten und ab 1909 die Deportation der armenischen Minderheit betrieben. Hunderttausende Armenier fielen Gewalt, Pogromen und Hunger zum Opfer.

Auch nach dem griechisch-türkischen Krieg von 1921/22, der mit Vertreibungen und Flucht einher ging, waren erzwungene Umsiedlungen die Antwort der Politik auf die "Nationalitätenfrage". Vom im Vertrag von Lausanne (1923) fixierten Bevölkerungstausch waren knapp zwei Millionen Menschen betroffen. Schätzungen besagen, dass in vielen Ländern Ost- und Südosteuropas in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg bis zu sechs Millionen Angehörige von ethnischen Minderheiten unter Zwang oder Druck ihre Heimat verließen.

In dieser Zeit wurden Bevölkerungsverschiebungen vielfach als legitimes, ja oft einziges Mittel der Politik gesehen, um "Nationalitätenprobleme" zu lösen und den Frieden zu sichern. Die europäischen Großmächte stimmten dem Vertrag von Lausanne zu. Auch in der Wissenschaft wurden diese Ideen vertreten; so entwickelte beispielsweise der Schweizer Ethnologe Georges Montandon ein Konzept, das eine "massive" Umsiedlung von Menschen vorsah, um Nationalstaaten mit "natürlichen" Grenzen und ohne Minderheiten zu erzeugen.

Von 1933 bis 1948

Die nächste Phase, in der in großen Teilen Europas massive erzwungene Bevölkerungsverschiebungen stattfanden, waren die Jahre im und um den Zweiten Weltkrieg. Diese Zeit wird detailliert in anderen Artikeln behandelt, so dass hier nur eine kurze Übersicht gegeben wird.

Diese Periode begann mit der Emigration der jüdischen Bevölkerung aus Deutschland nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten und dem Beginn der Diskriminierung und Verfolgung (1933). Nach dem Münchener Abkommen (1938) verließen auf dem Gebiet der bisherigen Tschechoslowakei mehrere Hunderttausend Menschen ihren angestammten Wohnort – infolge direkter oder befürchteter Gewaltanwendung. Gleichzeitig schloss das nationalsozialistische Deutschland mit einer Reihe von Staaten, unter anderem mit Italien und der Sowjetunion, Verträge, nach denen die Angehörigen deutscher Minderheiten "heim ins Reich", nicht zuletzt auch in besetzte Gebiete (böhmische Länder, Polen), umgesiedelt wurden. So war diese Politik Teil der aggressiven, expansionistischen Gesamtstrategie der Nationalsozialisten.

Die Zeit des Zweiten Weltkriegs war gekennzeichnet von der Deportation und massenhaften Ermordung vor allem von Juden, aber auch anderer Gruppen wie der Sinti und Roma, die sich unter deutscher Herrschaft befanden. Vor allem aus Osteuropa wurden Millionen von Zwangsarbeitern nach Deutschland verschleppt.

In der Sowjetunion wurden die Angehörigen einer Reihe von Angehörigen ethnischer Minderheiten (Deutsche, Kaukasier, Balten, Polen, Krimtartaren und andere), denen Sympathien für die Kriegsgegner unterstellt wurden, in die zentralasiatischen Republiken deportiert. Hier war die Zerstörung der sozialen Strukturen und die Sicherung der stalinistischen Herrschaft das wichtigste Motiv für die Umsiedlungen, von denen insgesamt vermutlich mehr als drei Millionen Menschen betroffen waren.

Schließlich gab es nach Kriegsende enorme Wanderungsbewegungen in Europa. Millionen von ehemaligen Kriegsgefangenen, Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen (displaced persons) wurden in ihre Heimatländer zurückgeschickt. Viele überlebende Juden verließen Europa und zogen ins neu gegründete Israel oder in die Vereinigten Staaten.

Mit dem Einverständnis der Alliierten mussten vermutlich weit über zehn Millionen Deutsche ihre Siedlungsgebiete in Osteuropa verlassen und nach Deutschland oder Österreich übersiedeln. Auch in Ost- und Südosteuropa fanden zahlreiche Umsiedlungsaktionen statt, von denen unter anderem Ungarn, Ukrainer, Weißrussen, Finnen und Italiener betroffen waren. Die zahlenmäßig größte Gruppe waren die mehr als zwei Millionen Polen, die aus dem ehemaligen, nun an die Sowjetunion angeschlossenen Ostteil Polens in den ehemals deutschen Westteil gebracht wurden. Die meisten der staatlich betriebenen oder geduldeten Zwangsmigrationen wurden explizit damit gerechtfertigt, dass territoriale Ansprüche auf Siedlungsgebiete von ethnischen Minderheiten zukünftig ausgeschlossen sein sollten.

Migrationen während und nach dem Kalten Krieg

Während des Kalten Kriegs setzte sich die Tendenz zur ethnischen Homogenisierung fort, war aber meistens das Ergebnis individueller Entscheidungen zur Ausreise und nur noch in Ausnahmefällen offizielles Ziel staatlicher Politik (Bulgarien). Aus vielen Ländern Ost- und Südosteuropas wanderten deutsche "Spätaussiedler", Juden, Türken, weitere Muslime, Ungarn, Armenier, Griechen und andere aus.

Nach dem Fall des "Eisernen Vorhangs" und mit verbesserten Reisemöglichkeiten setzte sich dieser Trend verstärkt fort. Auch innerhalb der ehemaligen Sowjetunion begannen neue Migrationsbewegungen, bei denen zumeist Angehörige der russischen Diaspora aus den neu unabhängigen Staaten nach Russland zogen.

Die neuen Vertreibungen: Jugoslawien und der Kaukasus

Mit neuen Kriegen und bewaffneten Konflikten kehrte auch das Phänomen der Vertreibungen nach Europa und seine Randgebiete zurück. Sie geschahen im Rahmen der letzten großen Welle von Nationalstaatsgründungen, in der sich das letzte der großen europäischen Vielvölkerreiche, die Sowjetunion, die bis dahin noch durch das autoritäre Herrschaftssystem zusammengehalten wurde, auflöste. Auch kleinere multi-ethnische Staaten wie die Tschechoslowakei und Jugoslawien spalteten sich auf. Im Gegensatz zu den meisten vorangegangenen Nationalstaatsgründungen ist jedoch bemerkenswert, dass relativ viele davon ohne einen Krieg zustande kamen – historisch gesehen ein bis dahin sehr seltener Ausnahmefall.

Die Konflikte in Georgien, Armenien, Aserbaidschan und Tschetschenien hatten die Flucht von Hunderttausenden Menschen zur Folge.

In den Bürgerkriegen im ehemaligen Jugoslawien (Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo) kam es zwischen 1992 und 1999 "vor der Haustür" der Europäischen Union zu massenhafter Flucht, Vertreibungen und Massakern. Der zynische, aber die hinter dem Phänomen stehende Idee präzise erfassende Begriff "ethnische Säuberungen" fand in der Berichterstattung weite Verbreitung. Historischer Kontext war einmal mehr die Gründung neuer Nationalstaaten, Motivation war ein ethnisch definierter Nationalismus. Je nach militärischer Lage waren Kroaten, Serben, Albaner, Roma und Muslime betroffen – bei letzteren wurde ihre Religion zur Bestimmung ihrer "ethnischen Identität" herangezogen, das einzige Merkmal, das sie von den katholischen Kroaten und den orthodoxen Serben unterschied. Nach Schätzungen waren insgesamt mehr als zwei Millionen Menschen betroffen.

Die Bürgerkriege, Vertreibungen und insbesondere die Aussicht, weitere Flüchtlinge aufnehmen zu müssen, führten zu militärischen Interventionen der NATO in Bosnien und im Kosovo. Dabei ist einerseits der problematische, völkerrechtlich umstrittene Charakter solcher Interventionen festzuhalten, andererseits aber auch die Tatsache, dass Zwangsmigrationen im Gegensatz zu früheren Jahrzehnten nicht mehr weithin als Mittel zur Konfliktlösung gelten, die gefördert oder wenigstens toleriert werden, sondern auf Ablehnung und Widerstand treffen – zumindest in Europa.

 

Gerrit Schäfer

 

Literatur

 

Brubaker, Rogers
Nationalism Reframed: Nationhood and the National Question in the New Europe. - Cambridge: Cambridge University Press, 1997.

 

Kulischer, Eugene M.
Europe on the Move. War and Population Changes, 1917-1947. - New York: Columbia Univ. Press, 1948.

 

Marrus, Michael Robert
The unwanted : European refugees in the twentieth century / von Michael Robert Marrus. - New York [u.a.] : Oxford Univ. Pr., 1985. - XII, 414 S.
ISBN 0-19-503615-8
Signatur(en): A 85-7767

 

Münz, Rainer
Das Jahrhundert der Vertreibungen / Rainer Münz
In: Transit : Europäische Revue. - 23 (2002), S. 132-154.
Signatur(en): X 8662/23

Der Aufsatz bietet einen guten Überblick über die Zwangsmigrationen im 20. Jahrhundert sowie eine umfassende Literaturliste.

 

Schlögel, Karl
Kosovo … Die ethnische Säuberung ist eine Ausgeburt des 20. Jahrhunderts. Eine Bilanz der Vertreibungen in Europa, in: DIE ZEIT 18/1999
http://www.zeit.de/archiv/1999/18/199918.schloegel_ii_.xml

 

Nationalitätenkonflikte im 20. Jahrhundert : Ursachen von inter-ethnischer Gewalt im Vergleich. - Hrsg. v. Philipp Ther und Holm Sundhaussen. - Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 59. - Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2001.

 

Zu den Quellentexten

Literatur aus der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung

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(Text in polnischer Sprache/ Tekst w języku polskim)