Zwangsmigrationen in Europa 1938-48
Jerzy Kochanowski
Deutsches Historisches Institut Warschau
Zwangmigrationen im östlichen Polen am Ende des Zweiten Weltkriegs
Die Umsiedlung der ungefähr 2 Millionen Polen aus den östlichen Wojewodschaften der Zweiten Republik (den sogenannten Kresy) 1944-1946 war kein isoliertes Phänomen, sondern nur eine der vielen großen Nachkriegsmigrationen. Deswegen drängt sich in diesem Fall ein Vergleich mit der Aussiedlung der Ukrainer und Weißrussen aus Polen sowie vor allem mit der Vertreibung der Deutschen auf. Erst dann erhalten die einzelnen Elemente einen entsprechenden Hintergrund, fügen sich ein Bild, in dem es keine Sieger oder Besiegte, mehr oder weniger "Betroffene" gibt, sondern nur noch Menschen.
Sowohl Polen als auch Deutsche sollten nach dem Zweiten Weltkrieg Gebiete verlassen, die von ihnen seit Jahrhunderten bewohnt wurden. Gebiete, mit denen sie durch eine starke emotionale, traditionelle und historische Bande verknüpft waren. Sowohl im ehemaligen Ostdeutschland als auch im ehemaligen Ostpolen existierten Tendenzen zu einer sofortigen Flucht neben einem keineswegs schwächeren Willen zum Bleiben, der stärker war als die Furcht vor dem "Neuen". Eine derartige Haltung verband sich mit dem Zweifel an der Dauerhaftigkeit der neuen Grenzen, der Möglichkeit politischer Veränderungen (z. B. ein neuer Weltkrieg), der Hoffnung auf eine nationale Koexistenz und im Fall der zahlreichen deutschen oder polnischen Intelligenz in Lemberg, Wilna, Breslau oder Danzig mit dem Erhalt des nationalen Charakters der verlorenen Ostgebiete.
Nicht nur Deutsche wurden vertrieben oder zur Flucht gezwungen. So kostete z. B. die von ukrainischen Nationalisten während des Krieges durchgeführte "ethnische Säuberung" von Ostgalizien und Wolhynien die dortige polnische Bevölkerung 60-80.000 Tote und 300.000 Flüchtlinge ins Gebiet des Generalgouvernements.
Diejenigen, die überlebten und in den Kresy blieben, fanden sich nach der Vereinbarung der "Großen Drei" vom Herbst 1943 in Teheran außerhalb ihres Heimatlandes wieder. Obwohl in den Umsiedlungsverträgen zwischen "Lubliner" Polen und den sowjetischen Republiken (September 1944) der Begriff "freiwillige Evakuierung" verwendet wurde, wurde ein Teil der Polen (z. B. aus dem Wilnaer Gebiet, Ostgalizien oder Wolhynien) unter Zwang vertrieben. Der Zwang nahm dort viele Formen an – vom direkten Terror (z. B. in Ostgalizien), Verhaftungen, Verschleppungen ins Innere der Sowjetunion bis hin zur erzwungenen Ukrainisierung oder Lituanisierung. Ein Teil der Polen "repatriierte" sich auch ohne Mitwirkung und Wissen der amtlichen Strukturen. Die "illegalen" oder "wilden" Umsiedlungen sahen aber etwas anderes als die "wilden Vertreibungen" der Deutschen aus Ostbrandenburg, Niederschlesien oder Pommern zwischen April und August 1945 aus. Solche Migrationen waren in den Kresy eher die Initiative der Bewohner als der Behörden.
Auf diesem Weg gelangten vor allem politisch kompromittierte Personen ins "Lubliner" Polen (u. a. die Mitglieder der Heimatarmee), dann Polen aus dem Gebiet von Wilna, die nicht auf die "amtliche" Umsiedlung seitens der die Verträge sabotierenden litauischen Behörden warten konnten. Die nächste Gruppe stellte die vor dem fortdauernden Terror der nationalistischen Ukrainer fliehenden Polen aus Wolhynien dar. Diese Gruppe kann man auf ungefähr 200.000 Personen schätzen. Bei der Entscheidung für die Ausreise half auch das Bewusstsein, dass es besser sei, zu einem unsicheren Schicksal in den Westen aufzubrechen, als zu einem sicheren – in den Osten.
Das Schicksal der theoretisch "freiwillig übersiedelnden" Polen war oft dem Schicksal der zwangsweise vertriebenen Deutschen sehr ähnlich. So sahen z. B. die Reisen sowohl der Polen als auch Deutschen häufig identisch aus. Die oftmals viele Wochen dauernden Reisen aus Tarnopol oder Wilna forderten häufig einen hohen Tribut, um so mehr, als die Umsiedlung im strengen Winter 1945-1946 nicht eingestellt wurde.
Gemeinsame Erfahrung jedes Umsiedlers war die Angst vor dem neuen Ort, der neuen, völlig fremden Umgebung. Sowohl die Deutschen als auch die Polen mussten damit rechnen, dass sie als ein fremdes Element ausgesehen würden, das für die örtliche Bevölkerung eine Konkurrenz darstellte. Briefe, sowohl aus dem besetzten Deutschland in die "Wiedergewonnenen Gebiete", als auch aus dem "Lubliner" Polen in die Kresy bestätigen das Gefühl der Fremdheit und der Abweisung. Man könnte noch viele weitere Ähnlichkeiten aufzählen. Jedoch muss man sich darüber im Klaren sein, dass alle diese Kennzeichen nicht nur für Polen und Deutsche, sondern für alle Zwangsmigrationen charakteristisch sind.
Sowohl die Umsiedlung der Polen, als auch die Vertreibung der Deutschen gehören schon der Geschichte. Heute betrachtet die Mehrheit der polnischen und deutschen Gesellschaft alle "verlorenen Gebiete" als Vergangenheit, als sentimentalen Mythos, der auf dem Friedhof der Geschichte begraben liegt. Vor ein paar Jahren schrieb ein polnischer Journalist (Jahrgang 1960): "Die Ostrobramskastrasse in Wilna ist mir weniger vertraut als die Schweidnitzerstrasse in Breslau. … Ich muss noch deutlicher werden – Vaclavske Namesti in Prag ist mir näher als diese mythische Strasse in Wilna". Und umgekehrt: Im von Hans-Jürgen Bömelburg, Renate Stößinger und Robert Traba herausgegebenen Buch "Vertreibung aus dem Osten" kann man folgendes Beispiel finden: Ein ehemaliger Vertriebener erinnerte sich, als er eines Tages auf einem Firmwagen den Namen eines Bekannten aus Niederschlesien gesehen hat: "Ich rief ihn. Eine Stimme sagte im Geschäftston, "ja, mein Vater stammt aus Schlesien, aus der Nähe von Königsberg". Auf meinen Einwand, dass Königsberg in Ostpreußen läge, hörte ich nur "ach so". Zu unseren heutigen Aufgaben gehört also nicht eine erneute Aufteilung in "wiedergewonnene" und "verlorene" Gebiete, sondern die Pflege des gemeinsamen – obwohl oft schmerzhaften – Gedächtnisses.
Literaturübersicht
Im Vergleich zur deutschen "Vertreibungsliteratur" ist die Liste der polnischen Publikationen über die Umsiedlung aus den Kresy relativ kurz. Ein Teil, der bis heute verwendeten Bücher wurde noch vor 1989 herausgegeben (z. B. Jan Czerniakiewicz, Repatriacja ludności polskiej z ZSRR 1944-1948, Warszawa 1987 [Die Repatriierung der polnischen Bevölkerung aus der UdSSR 1944-1948].
Nach der Wende von 1989 ist noch keine ausführliche Monographie entstanden. Wurden aber wertvolle Quelleneditionen (mit umfassenden Einführungen) herausgegeben, z. B. Stanisław Ciesielski (Hrsg.) Przesiedlenie ludności polskiej z Kresów Wschodnich do Polski 1944-1947, wstęp Włodzimierz Borodziej, Stanisław Ciesielski, Jerzy Kochanowski, Warszawa 1999 [Die Übersiedlung der polnischen Bevölkerung aus den Kresy, Auswahl, Bearbeitung und Redaktion der Dokumente durch Stanisław Ciesielski, Einführung von Włodzimierz Borodziej, Jerzy Kochanowski, Stanisław Ciesielski]; die neue, ergänzte Ausgabe des Buches befindet sich in der Vorbereitung.
Eine interessante Sammlung sowohl polnischer als auch deutscher Erinnerungen an die Zwangsmigrationen nach dem Zweiten Weltkrieg bringt der Band von Hans-Jürgen Bömelburg, Renate Stößinger und Robert Traba (Hrsg.) Wypędzeni ze Wschodu. Wspomnienia Polaków i Niemców, Olsztyn 2000 [deutsche Fassung: Vertreibung aus dem Osten. Deutsche und Polen erinnern sich, Olsztyn 2001].
Die einzelnen Aspekte der Umsiedlung aus den Kresy besprechen u.a. Alicja Paczoska, Dzieci Jałty: exodus ludności polskiej z Wileńszczyzny w latach 1944-1947, Toruń 2003 [Die Kinder von Jalta. Exodus der polnischen Bevölkerung aus dem Wilnaer Gebiet] und Dorota Sula, Działalność przesiedleńczo-repatriacyjna Państwowego Urzędu Repatriacyjnego w latach 1944-1951, Lublin 2002 [Die Tätigkeit des Staatlichen Repatriierungsamtes 1944-1951].
Fremdsprachige Literatur:
Auf Deutsch:
Philipp Ther, Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945-1956, Göttingen 1998. Signatur(en): A 98-4196; A 99-2706
Michael G. Esch, "Gesunde Verhältnisse". Deutsche und polnische Bevölkerungspolitik in Ostmitteleuropa 1939-1950, Marburg 1998.
Jerzy Kochanowski, Die Aussiedlung der Polen aus den östlichen Woiwodschaften der II. Republik (1944-1946). Der Versuch einer anderen Perspektive, in: "Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte" 3 (1999), S. 169-197.
Jerzy Kochanowski, Eine andere Schuldrechnung. Die polnischen Umsiedler und ihr Kampf um Entschädigungen, in: "Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" 51/1 (2003), S. 65-73. Signatur(en): X 1069 http://www.metropol-verlag.de/_ftp/zfg_01_2003.pdf
Auf Englisch:
Jerzy Kochanowski, Gathering Poles into Poland. Forced Migration from Poland’s Former Eastern Territories, in: Philipp Ther and A. Siljak (eds.) Redrawing Nations. Ethnic Cleansing in East-Central Europe 1944-1948, Lanham/Boulder/New York/Oxford 2001, S. 135-154.
Literatur aus der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung
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