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Zwangsmigrationen in Europa 1938-48

Interview zwischen Herrn Dr. Friedhelm Boll und
Herrn Max Mannheimer aus München
am 23. Oktober 1995

— Ausschnitte —

 

Max Mannheimer, Jahrgang 1920, war tschechoslowakischer Staatsbürger und Sozialdemokrat und wurde als Jude in den Jahren der deutschen Besatzung verfolgt. Von 1943 bis zum Kriegsende war er in den Konzentrationslagern Auschwitz, Theresienstadt und Dachau inhaftiert. Fast seine gesamte Familie wurde in dieser Zeit ermordet.

Nach dem Ende des Krieges mussten er und seine Ehefrau, die mit ihrer sozialdemokratischen Familie im Widerstand gewesen war, die Tschechoslowakei verlassen. Von 1946 an arbeitete er in der Bundesrepublik zunächst für eine jüdische Wohlfahrtsorganisation und eine Zeitung, später als Angestellter. Unter anderem spricht er als Zeitzeuge mit Schülern und Jugendgruppen über die NS-Zeit und führt Besucher durch die KZ-Gedenkstätte Dachau.

Seine Autobiografie ist erschienen unter dem Titel Spätes Tagebuch. Theresienstadt – Auschwitz – Warschau – Dachau, Zürich/München: Pendo, 2000.

Die nachfolgenden Schilderungen geben einen Einblick in die Umstände, unter denen die Angehörigen der Minderheit, die aktiv gegen die Nationalisten gekämpft hatte, nach dem Krieg die Tschechoslowakei verlassen mussten. Sie konnten in gesonderten Transporten, den sogenannten "Antifa-Transporten", ausreisen und mehr Gepäck mitnehmen als die übrigen Ausgewiesenen.

 

Herr Mannheimer: Aber ich muss schon zurückgehen zum Tag der Befreiung am 30. April 1945, durch amerikanische Truppen. Aus einem Güterzug in Tutzing, unweit von München. Ich wog damals 37 Kilogramm, da ich in dem letzten Lager Mettenheim bei Müldorf, Fleckfieber hatte. … Nachdem das passiert ist, nämlich der Verlust von sechs der acht nächsten Verwandten, war ich fest entschlossen, nie mehr deutschen Boden zu betreten.

F. B.: Sag mir noch bitte, wo Du herstammst?

Herr Mannheimer: Ich wurde am 6. Februar 1920 in Neutitschein in der Tschechoslowakei geboren. Ich kehrte in meine Heimatstadt zurück und kurze Zeit darauf traf ich eine junge Frau, die aus einer sozialdemokratischen Familie stammte, die 1938, also nach dem 10. Oktober, nach der Besetzung des Sudetenlandes, wegen ihrer Aktivität in der sozialistischen Jugend und auch deshalb, weil sie einen jüdischen Professor vor den Angriffen der Nazi-Mitschüler verteidigte, aus der Schule hinausgeworfen wurde. Sie wurde dann zum Arbeitsdienst nach Königsberg und in einen anderen Ort in Ostpreußen eingezogen und kam dann später nach Neutitschein zurück, um in einem Gemüsegroßhandel, der einem Südtiroler namens Richter gehörte, zu arbeiten. …

Unsere Tochter wurde noch in Neutitschein geboren, aber ich heiratete dann erst am 24.12.46 in Unterfranken. Und so bin ich 1946 am 7. November in Furth im Walde in einem Lager für Flüchtlinge — die man heute Vertriebene nennt —, gewesen und landete trotz meines Schwurs, nie mehr deutschen Boden zu betreten, wieder auf diesem deutschen Boden.

F. B.: Bist Du mit einem Vertriebenentreck gekommen?

Herr Mannheimer: Ich kam mit einem Antifatransport, aber zuvor müsste ich noch eine Geschichte erwähnen, die mit meinem Einsatz für diesen Antifatransport zusammenhängt. … Nun, es ist so gewesen, dass plötzlich, es waren zwei Genossinnen, eine davon meine spätere Frau, … eine Liste der Antifa-Familien zusammenstellten, also Leute, die erstens einmal Mitglieder der sozialdemokratischen Partei gewesen sind und die auch während des Krieges standhaft blieben. Diese Liste wurde vorgelegt dem, hier würde man sagen, Landratsamt, dort hieß es Bezirksnationalausschuss … Die Liste wurde anfangs genehmigt, und der Vorteil war, oder der Unterschied zu den Nicht-Antifatransporten war, dass die Leute nicht mit nur 50 Kilogramm, sondern mit sämtlichem Hab und Gut, Möbel und so weiter ausreisen durften. Obwohl dies bereits genehmigt war, kam plötzlich der Befehl, dass auch diese Leute mit 50 Kilogramm Neutitschein verlassen sollten. Es war nicht nur Neutitschein, sondern auch umliegende Orte.

Ich setzte mich ins Auto und fuhr nach Prag. Das war ungefähr im Frühjahr 1946 und ich wurde noch an der Grenze angehalten, mein Koffer wurde durchsucht, ich wusste nicht, weshalb, aber an diesem Tag war Tito in Prag. … Ich ging ins Innenministerium, das zuständig war, und habe mit dem zuständigen Referenten gesprochen. Ich habe ihm gesagt, ich bin Überlebender von fünf Konzentrationslagern, ich bin Jude, und es geschieht eine Ungerechtigkeit. Ich will zwar nicht vergleichen, sagte ich, aber trotzdem drängt sich das auf, dass hier Menschen, die gegen Hitler gewesen sind, so behandelt werden wie die anderen, die für Hitler waren. Und ich bitte ihn, in meiner Gegenwart den vorsitzenden Landrat anzurufen, das war ein gewisser Dr. Perstitzky, und diesen Befehl rückgängig zu machen, dass die Leute mit nur 50 Kilogramm auswandern sollen. Er sagte, ja, sie können ruhig nach Hause fahren und ich werde das erledigen, ich werde mich drum kümmern.

Ich kannte das Wort Sitzstreik noch nicht, aber ich sagte, ich verlasse diesen Raum nicht früher, bevor ich die Zusicherung habe, dass es tatsächlich so geschieht. Ja, sagte er, es wird sehr schwer sein, durchzukommen mit dem Telefon. Ich sagte, ich habe Zeit, ich war auch sehr aggressiv, ich war damals nicht so ruhig wie heute, außerdem konnte ich mir noch etwas leisten als Überlebender, weil man weiß ja nie, wer derjenige war und wie er sich verhalten hatte während des Protektorats.

F. B.: Wie hast Du Dich ausgewiesen ihm gegenüber?

Herr Mannheimer: Nur namentlich, sonst gar nichts.

F. B.: Aber es gab ja auch Entlassungsscheine.

Herr Mannheimer: Ja, das wusste ich nicht, ich habe ihm die Situation geschildert, ich habe gesagt, ausgewiesen ist ganz einfach, das habe ich ja vergessen, ich habe meinen Ausweis immer dabei, habe ihm das gezeigt. … Das ist die Auschwitz-Nummer.

F. B.: Die Nummer ist ziemlich niedrig.

Herr Mannheimer: Das ist Anfang Februar 1943.

F. B.: Noch unter Hunderttausend.

Herr Mannheimer: Ja, ja. Später, es ging nicht mehr viel weiter und dann nachher hat man wieder B gemacht, erst A und dann B, um keine Übersicht zukommen zu lassen.

Ja, dann hatte er doch den Dr. Perstitzky erreicht; ich fuhr dann zurück nach Neutitschein und wurde dann von den Genossinnen und Genossen natürlich mit großer Dankbarkeit empfangen, und dann ging der Transport Anfang September 1946 fort. Meine Tochter und meine spätere Frau sind nicht mitgefahren, denn meine Tochter war unterwegs; die kam am 13. September 1946 zur Welt. Und wir fuhren dann mit einem anderen Transport … nach Furth im Walde, in dieses Flüchtlingslager.

F. B.: Wart Ihr mit anderen Sudetendeutschen zusammen?

Herr Mannheimer: Ja, ja, das waren nur die Antifatransporte, in den wir reingekommen sind. Und zwar war das wieder ein anderer Transport aus einer anderen Gegend … Das war so organisiert, von den deutschen Sozialdemokraten, die in diesem Ort, in einem Hotel, ein kleines Büro hatten, wir hatten auch eine Nacht in diesem Hotel übernachtet. Und wir sind dann in einen Waggon gestiegen, der als Kartoffeltransport deklariert war, denn wir waren ja nicht in den Transportlisten. In dem waren solche Einzelreisenden und Nachzügler wie wir.

Einmal ist uns noch der Schreck in die Glieder gefahren, als die Tür aufging und ein tschechischer Polizeibeamter fragte, ob wir noch tschechisches Geld hätten. Da haben wir gesagt, nein. Dann kamen die Amerikaner, die den Zug übernahmen und uns wurde der Befehl gegeben von den Antifaleuten, dass wir Säuglingen den Lutscher in den Mund geben sollten, wir waren ja als Kartoffeln deklariert (er lacht). Wir mussten absolut ruhig sein. Nun, es ist gut gegangen.

Dort angekommen, in Furth im Walde, bezog ich — meine Erfahrung ist alles — das oberste Bett in einem dieser dreistöckigen Betten, die eben denen im Konzentrationslager ähnelten. Ich hatte große Erfahrung, denn wenn man unten liegt, kommt der Staub von dem Stroh herunter. Ja, noch am Abend ging ich zur Bahnstation und verlangte zwei Fahrkarten erster Klasse nach Rheydt am Rhein. In der Nähe waren meine Schwiegereltern, die künftigen Schwiegereltern bereits ausgesiedelt worden. Der Mann am Schalter in Furth im Walde sagte, sie kommen wohl von Drüben, wir sind froh, dass wir überhaupt Waggons haben.

Kurz und gut, der nächste Tag sollte eigentlich der Desinfektion, der Registrierung durch die Amerikaner dienen, aber da ich zuvor schon so oft desinfiziert worden bin, bin ich um vier Uhr früh noch in der Tschechoslowakei gewesen, und wir kamen dann gegen Abend am Rhein an.

Ich hatte einen Freund, den ich … in Warschau kennen gelernt habe, der Hannes Landau, ein Journalist aus Wien. Er sagte mir, ich soll nach München kommen, er wird sich um mich kümmern, er wird mir eine Arbeit beschaffen. Ich kam nach München, aber er arbeitete damals schon für den Tagesspiegel … Dann sagte er, warte, ich komme in drei Tagen zurück, und dann suchen wir etwas.

Aber ein anderer Freund, der auch mit uns im Lager war, von Beruf Schauspieler, aus Wien stammend, Herbert Scherzer, der sagte, aber Max, du kannst doch Auto fahren und Schreibmaschine schreiben, ich würde dich gerne brauchen für mein Kabarett. Damals spielte das Geld keine Rolle, das Essen war doch die Hauptsache, es waren doch Reichsmark, wichtig war die Zigarettenwährung, eine Zigarette fünf Reichsmark. Dann habe ich diese Arbeit angenommen, ich habe drei Monate bin ich mit ihm herumgefahren … Nach drei Monaten habe ich damit aufgehört; meine Frau war sehr dagegen, denn sie meinte, in mir stecke mehr drin, als hier Mädchen für alles zu machen, Chauffeur und das und jenes. Und immer in den Nächten wegzubleiben und rumzufahren in ganz Bayern.

Und nach drei Monaten wechselte ich in eine jüdische Organisation; sie hieß Zentralkomitee der befreiten Juden, sie suchten jemanden, der Schreibmaschine schreiben kann und stenografieren. Und so begann ich dort zu arbeiten, zu meinen, es war in der Rechtsabteilung. Zu meinen wichtigsten Aufgaben gehörten Interviews mit Überlebenden der Konzentrationslager, und zwar Interviews als Zeugenschaft, die von den damaligen Gerichten nachhonoriert worden sind.

 

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