Zwangsmigrationen in Europa 1938-48
Ausweisung der deutschen Einwohner der Tschechoslowakei:
Erlebnisbericht von Dr. Morgenstern (1945/1946)
Der hier in Ausschnitten zitierte Erlebnisbericht von Dr. Ludwig Morgenstern (1868-1954) schildert seine Erlebnisse in den Monaten nach der Kapitulation Deutschlands. Wie alle Berichte dieser Art ist er notwendigerweise von einer sehr individuellen, auf das unmittelbare Umfeld gerichteten Sicht geprägt. Nicht alle Einzelheiten lassen sich heute noch verifizieren.
Deutlich wird aber die allgemeine wirtschaftliche Not, die Atmosphäre von Unsicherheit, Gerüchten und einzelnen Gewalttaten, das Gefühl der Schutzlosigkeit und des Ausgeliefertseins – eine Situation, von der vermutlich sehr viele Betroffene von Zwangsmigrationen in ähnlicher Weise berichten könnten.
Dr. Morgenstern war Arzt, schon in den 1880er Jahren in der Arbeiterbewegung in Österreich-Ungarn aktiv und Mitgründer des Arbeiterblattes "Volkswacht". Er lebte in Brünn und später in Schönberg, wo sich die geschilderten Erlebnisse abspielten. Die NS-Zeit überlebte er mit viel Glück.
Der Text findet sich im Bestand Seliger-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Mappe Nr. 2051. Die biografischen Informationen sind entnommen Grete Swoboda, "Dr. Ludwig Morgenstern. Volksarzt und Politiker", Sudeten-Jahrbuch der Seliger-Gemeinde 1969, S. 61-65 (Signaturen: X 821, SEL B Z 4).
Abschrift des Erlebnisberichts von Dr. Morgenstern (Ausschnitte):
ERLEBNISBERICHT VON DR. LUDWIG MORGENSTERN
1945
...
8./5. Sehr unruhige Nacht. Eine Armee auf dem Rückzuge geht durch die Straßen. Um 5 Uhr früh großer Krach, die Eisenbahnbrücke wird gesprengt. Zwei Waggons mit Lebensmitteln und verschiedenen Sachen werden freigegeben. Wir kommen zu spät, erlangen nur 2 Säcke mit Korn und Waschmittel. Aus einem Lager in der Eternitfabrik Kunsthonig, der erst am Abend geholt werden konnte u. uns bei der Plünderung geraubt wurde. Ein Flieger wirft eine Bombe, dann Maschinengewehrfeuer von einem Spähtrupp. Alles flieht, es beginnt die Artilleriebeschießung, die ununterbrochen von 9 Uhr bis 1/2 4 Uhr dauert. Die ersten Russen kommen jetzt in die Stadt, zu uns 6 Mann, die ruhig auftreten u. Cigaretten nehmen u. uns wieder verlassen. Auch die folgenden benehmen sich ähnlich, so daß wir ruhig und hoffnungsvoll in Hause warten u. am Abend die versteckten Sachen holen. Bei uns war die Nacht ruhig, aber anderswo sind schon schreckliche Dinge geschehen.
9./5. Meldung beim Národní Výbor auf dem Rathause. Mir wird ein Sicherheitsschein versprochen, aber am nächsten Tage weiß man nichts darüber. Der Tag vergeht in Unruhe und Angst, wegen der einlaufenden Greuelberichte.
10./5. Früh ergebnislos auf den Rathause. Mittags wird uns von einem Offizier gesagt, daß wir das ganze Haus räumen müssen. Unten, die unteren Raune für die Kranken, die obere Wohnung für den Major. In Eile wird gepackt, ein Teil zu Wally, der andere zu Grete. Wir sollen ohne Sorge sein, wird uns gesagt. Sie bleiben nur 1-2 Tage und werden alles unbeschädigt halten. ...
16./5. … Vormittags wird der Befehl der Polizeibehörde angeschlagen: Alle Deutschen müssen ein weißes Dreieck mit einem schwarzen G (German) in der Mitte tragen, dürfen keine Fahnen heraushängen. Mich hält ein Milizmann an, nimmt mir das rote Bändchen ab und bemängelt die Armbinde …, ich solle mir eine Legitimation und eine andere Rotekreuzbinde vom Národní Výbor holen. … Auf dem Rathause erhalte ich den Bescheid, daß ich keine Kennzeichnung tragen brauche. Ich könne die Rotekreuzbinde tragen. Wenn ein Milizmann mich beanstande, so solle ich ihn an den Národní Výbor weisen. Juden sind beim Anstellen bevorzugt abzufertigen, – erweist sich als unwahr. Fleischerladen und Gasthaus von Frau Küffel sind als Eigentum der cs. Republik erklärt, ebenso der Zimmerplatz, wie andere Geschäfte. Inventar wurde aufgenommen. Die bisherigen Gewerbetreibenden haften für das Inventar. Wegen Haus und Wohnung wurde nichts verfügt. Alle Gewerbescheine müssen bis 27./5. abgeliefert werden.
Am Rathause spricht mich ein Jude aus Kalisch an. Er hat beim Nimmerichter gearbeitet. Erzählt Grauenhaftes. Frau und Kind ist ermordet worden, 5 Millionen Juden in Polen sind ermordet. Er hat sich mit falschen Pässen durchgeschlagen. …
18./5. Die Nacht ist ruhig verlaufen. Vorsichtshalber schlief Oscar in der Kanzlei! Schon um 4 Uhr früh ziehen Flüchtlinge durch die Straße, manche mit Handwagen, manche bloß mit Taschen. Viele kleine Kinder dabei. Was für einen Weg die armen Leute wohl haben werden! Requirierte Bauernpferde werden geführt. Von dem versprochenen Konsul keine Spur. Ein Franzose hat mit einem französischen Offizier gesprochen, Genaueres wollte der Berichterstatter uns mitteilen. Bis jetzt nichts.
Der Belgier, Herr Marquette aus Namur, hat sich auf meinen Rat wegen Fieber ins Bett gelegt, heute sieht er besser aus. Den zweiten Belgier, der an perniciöser Anämie leidet, habe ich nicht mehr gesehen. Er ist 20 Jahre alt, Vandenbeugst (?) aus Teroueren (?), hat als politischer Gefangener 17 Monate in vielen Gefängnissen gesessen, 7 Monate in Einzelhaft, war in Brüssel von der Gestapo auf der Fußsohle mit glühenden Eisen gebrannt worden, um ein Geständnis zu erzwingen. Die Fußsohle blaurot, noch immer verdickt.
Gestern waren die Kinder von 10 bis 4 Uhr um Brot angestellt, erhielten 1 1/2 Kg Brot.
Das Gymnasium, die Handelsschule hat Licht. …
20./5. Pfingstsonntag und Muttertag, aber gar keine Festtagsstimmung. Wir sind alle gereizt. Die Nacht ist ruhig verlaufen, aber eine Frau erzählt aus der Eichendorffstraße, daß dort wieder vier Leute eingedrungen sind, jedoch von der Wache geprügelt und verjagt wurden. …
22./5. Die Nacht ist sonst ruhig verlaufen. Sehr scharfe Rede von Minister Laušmann im Rundfunk; "Die ČSR wird sich nicht den Kopf mit Minderheitsproblemen zerbrechen." …
30./5. … Die Lebensmittelkarten werden ausgegeben. Man sah ihnen mit Sorge entgegen. Es wurde behauptet, daß die für die Deutschen bestimmten gekennzeichnet sein werden und daß die Deutschen nur solche Rationen erhalten werden, wie bei den Nazi die Juden bekamen. Soll durch russischen Befehl verhindert worden sein.
Die Rationen betragen für 4 Wochen: 6.800 gr. Brot, 4 x 25 Deka Fleisch, 20 Deka Margarine, 1/4 kg Butter, 1/8 kg Topfen, 1/16 kg Käse, 5/4 kg Zucker, 100 gr. Kaffeeersatz, 150 gr. Nährmittel, 150 gr. Reis, 1 Stück Seife, Einmachpulver und 250 gr. Waschpulver. – Also besser wie zuletzt, aber ob man die Mengen erhalten wird? …
1./6. Rasche Erledigung der polizeilichen Anmeldung. Wir erhalten alle die Bezeichnung Nĕmec. In der Kasse der Bescheid, daß ich nur die Hälfte der Pension erhalte, die 2. Hälfte geht in einen Fond zur Unterstützung der Konzentrationshäftlinge. …
Mit Datum vom 30./5. ist eine Kundmachung des Bezirks-Nár.-Výbor, unterschrieben Pospisil, veröffentlicht. Kein russischer oder tschechischer Soldat oder Zivilist hat das Recht, ohne schriftliche Ermächtigung zur Durchsuchung oder Wegnahme von Sachen. Solche Täter sind eine Schande der Armee, sollen dem Gerichte übergeben und strenge bestraft werden. Diese Kundmachung erfolgt mit Zustimmung des russischen und tschechischen Stationskommandanten. Spät! …
2./6. … Es geschehen noch immer Überfälle, Frau Seifert vom Lönswege erzählt, daß in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch Russen eindringen wollten, faustgroße Steine bis in den ersten Stock warfen und als sie nicht hereinkonnten, weil die Türen verrammelt waren, drohten, daß sie mit Verstärkung wiederkommen werden. Sie kamen tatsächlich in der nächsten Nacht wieder und drangen ein. Die Hilferufe wurden in der Kaserne und in der Wache in der Fuhrmanngasse (Bergervilla) gehört, die Räuber umringt, abgeführt. Drei von ihnen wurden in der Kaserne erschossen. "Wenn es Gas geben würde, würden noch viel mehr Selbstmorde erfolgen. Das hält man nicht aus!", sagte Frau Seifert. Ihre Tochter muß Hosen nähen, von 7 Uhr früh bis 10 Uhr abends. …
5./6. … Nachmittags 1 1/2 Stunden lange Einvernahme in der Wohnung durch den Kriminalkommissar Kubicek aus Blauda. Den ganzen Lebenslauf, wieso ich unter der Naziherrschaft hierbleiben konnte, was ich während dieser Zeit gemacht habe, ob ich bei der Partei war, diese Frage mehrmals eindringlich wiederholt, besonderen Eindruck machte es, daß ich mich auf Herrn Mochola berief. Das sei ein sehr einflußreicher Mann. Zum Schlusse ganz freundschaftliche Verabschiedung. …
7./6. Die Sozialdemokraten von Schönberg haben sich entschlossen, dem Beispiel der Reitendorfer und anderer zu folgen und sich zum Eintritt in die kommunistische Partei zu melden. – Herr K. wurde in das Lager von Blauda gebracht. …
9./6. … Beim Bezirksausschuß unmöglich zu Herrn P. vorzudringen. Sein Sekretär Dr. Matejček höflich abweisend. So lange keine Weisungen von der Regierung kommen, gelten Juden und Mischlinge als Deutsche mit denselben Lasten. …
Ein herrlicher Tag, aber die Schönheit des Abends mit seiner milden Wärme kontrastiert mit der sorgengequälten Stimmung eines Jeden. …
10./6. Große kommunistische Demonstration auf dem Marktplatze. Der Anfang verzögert sich, weil die Züge von auswärts, die manchmal mit Musik kommen, etwas verspätet eintreffen. Ich melde mich — der Platz ist um 10 Uhr noch ganz leer — bei einem Herrn, der sich später als der kommunistische Parteisekretär herausstellt, – daß ich bereit bin, bei einer Rettungsstation tätig zu sein und werde zustimmend an die Sicherheitswache gewiesen, die am Eingang des Rathauses steht. Dort weist man mir den Platz hinter der Eingangstüre an. Davor aber herrscht mich ein junger Mann mit hagerem Gesichte an, wieso ich das rote Band trage, das dürfen nur Kommunisten. Ob ich ein solcher sei? "Nein, ich bin Sozialist!" "Sie sind kein Sozialist, Sie sind Deutscher", und nimmt mir das rote Band weg und auf meinen Protest heißt er mich barsch weiter gehen. – Auf der Versammlung sprechen Vorsitzender Novotny, als Hauptredner Dr. Mochola, dann ein Soldat, ein Russe, ein junges Mädchen, dann werden die Forderungen verlesen – abgestimmt wurde nicht. Die Schlußrede halt der Parteisekretär. Sehr gut fungierten die Sprechchöre. Zum Schlusse wurde das Lied der Arbeit gespielt, gesungen wurde von der Versammlung nicht. – Der Parteisekretär dankte mir für die Bereitwilligkeit zu helfen, sie waren nicht darauf vorbereitet, und als ich ihm die mir widerfahrene Beleidigung mitteilte, meinte er entschuldigend, das wären unkluge junge Leute, ich solle mir nichts daraus machen und ruhig das rote Band weiter tragen. …
12./6. Ruhige Nacht. – Vergnügungsreisenden und allen Deutschen ist das Fahren auf der Eisenbahn verboten. Doch werden Flüchtlingstransporte nach Österreich, einer sogar nach Berlin zusammengestellt. Die meisten Flüchtlinge sind zu Fuß weg!
Noch immer sind die Straßen menschenleer. Es ist sehr schwierig, zu den Leuten in die Wohnung zu kommen, weil alle Häuser versperrt sind und nur selten aufgemacht wird. Wenn Russen oder Straleute nicht gleich Eintritt bekommen, so hämmern sie mit dem Gewehrkolben oder schießen in die Fenster. Überhaupt wird viel von Roheitsakten berichtet. Zur jungen Frau Küffel kam ein Fleischer aus Rabenau, dem das Geschäft zugesprochen wurde. Er verlangte auch die Wohnung und da ihm diese nicht ganz gefiel, so wollte er die Gaststube nehmen. Greta und Frau Küffel machten eine Irrfahrt durch, um schließlich beim Ortsausschuß und Wohnungsamte zu landen. Der Fleischer hat wohl das Recht auf Verkaufslokal und Werkstätte, aber nicht auf die Wohnung. Wenn er am Montag komme – bis dahin sollte alles geräumt werden – solle man ihn nur auf das Wohnungsamt schicken. Er solle sich selbst eine Wohnung suchen.
Heute wurde uns elektrischer Strom eingeleitet. …
14./6. … Der Offizier, welcher Frau Colloini vergewaltigt hatte, ist wieder eingedrungen, hat sie mit dem Revolver bedroht, wollte die Tante erschießen, hat einen dort anwesenden Flüchtling Zapletal durch Streifschuß am Hinterkopfe verletzt, hat auch den nebenan wohnenden russischen Major in seiner Betrunkenheit mit dem Revolver bedroht, wurde von diesem verhaftet. Am Nachmittage erscheint ein russischer Unteroffizier, begleitet von dem Kriminalpolizisten Matejček aus Blauda als Dolmetsch, um für beide Fälle mein ärztliches Zeugnis abzuverlangen. Der Offizier kommt vor das Standgericht.
15./6. … Gegen 12 Uhr, ich aß gerade die Suppe, erschien ein Polizeimann und ein Wachmann bei mir, ich solle in ärztlicher Angelegenheit gleich auf die Polizei mitgehen. Auf dem Wege traf ich vier Leute und einer fragte mich barsch, ob ich Deutscher oder Čeche sei. Ich antwortete, Jude, und auf die wiederholte Frage, der Anmeldung entsprechend Deutscher. Darauf nahm er mir die Rotekreuzbinde ab, und als ich mich auf die Bestätigung des Národí Výbor berief, auch diese. Dann mußte ich mit zwei Wachleuten weiter gehen. Und weil ich einmal nicht rasch genug vor ihnen ging, versetzte mir einer (Benda) einen Stoß. Auf der Polizei waren schon: Dr. Dostal, Dr. Jurschina, Dr. Zelder, Dr. Beran, Dr. Scherz, Apotheker Ehrlich, ein Dentist, dessen Name ich nicht weiß, Dr. Knobloch, später kamen Dr. Martinek und Dr. Lessmann. Lange warteten wir, dann kam ein Beamter und sagte kurz: Wir dürfen keine Praxis ausüben und müssen uns täglich um 1/2 8 Uhr melden. Wer sich nicht melde, dessen Familie lasse er erschießen. Das hat die Gestapo gemacht und er werde es ebenso machen.
Dann hieß es wieder warten. Erst bis 3 Uhr, dann aber wurden wir in ein anderes leeres Zimmer geführt. Dieses wurde abgesperrt und wir mußten bis 5 Uhr warten. Dann wurden wir ohne Erklärung, weshalb wir zurückgehalten wurden, entlassen mit dem Bedeuten, morgen früh wiederzukommen. …
16./6. Um 1/2 8 Uhr Meldung. Dann wurden wir zehn Mann in Zweierreihen vor die Post geführt und bekamen Besen zum Kehren der Straße. Auf mich besonders hatte es der Stra-Mann, ein Extrarohling (wie ich erfuhr, Benda aus B(öhmisch) Märzdorf), abgesehen. Ich konnte es ihm nicht recht machen. Er beschimpfte mich, duzte mich, schlug mich fünfmal mit dem Besen und riß mir das linke Ohr blutig. Als ein vorbeigehender junger Bursche diese Mißhandlung sah, kam er auf mich zu, packte mich bei der Krawatte und riß mich hin und her "Warst du im Konzentrationslager? Ich war. Warst du bei der Partei?" Als ich ihm sagte "77 Jahre, Jude" wandte er sich wortlos ab. Diesen Mißhandlungen sahen Soldaten, die vor dem Bankgebäude standen, und ein Offizier zu, ohne einzuschreiten. …
18./6. … Auf dem Wohnungsamte wird Ernst gesagt, daß in zehn Tagen alle Deutschen die Stadt verlassen müssen. Schönberg muß čechisch werden. Diese Mitteilung wird von verschiedenen Seiten bestätigt. …
20./6. … Frau Coloini muß am 24./6. ihr Geschäft abgeben und geht nach Österreich. Frau Tannert wurde vom Arbeitsamte nach Olmütz bestimmt. Als sie bitterlich weinend über den Schillerpark ging, sprach sie ein Mann an, warum sie weine. Sie war so verbittert, daß sie nicht antworten wollte. Endlich sprach sie, da sagte der Mann: "Gehen Sie ruhig nach Hause. Ich bin von der GPU, ich werde die Sache beim Arbeitsamte in Ordnung bringen." Der Mann war kein Russe, sondern Čeche aus Hohenstadt. …
22./6. Der russische Unteroffizier, welcher schon einmal bei mir war, holt mich zu einer kranken Frau im russischen Kommandanturgebäude. – Der Attentäter im Fall Coloini ist erschossen worden. Major Uwarof wurde vom Kriegsgerichte zum Tode verurteilt. – Alle Deutschen müssen ein N tragen. …
28./6. … Ein Plakat ist angeschlagen: Allgemeine Arbeitspflicht für alle Deutschen von 10 bis 60 Jahren. Ausgenommen nur Frauen mit Kindern bis 3 Jahren, Frauen, die zur Pflege erkrankter Familienmitglieder unentbehrlich sind, auf Grund amtsärztlicher Zeugnisse für arbeitsunfähig Erklärte und wer im öffentlichen Dienste als unentbehrlich gilt. Frauen mit Kindern bis 6 Jahren arbeiten halbtägig. Alle Deutschen müssen manuelle Arbeit machen, Handwerker in ihrem Gewerbe. Die Arbeitszeit beträgt 12 Stunden, kann mit Zustimmung des Arbeitsamtes auf 15 Stunden verlängert werden. Wer sich von der Arbeit fern hält, verliert die Lebensmittelkarte, eventuell wird er strenge bestraft. Sabotage in schweren Fällen mit dem Tode. …
2./7. … Der Lagerkommandant von nebenan, Gregori aus Baku, ein Lehrer für Mathematik und Physik, und ein Kompagnieführer Alexej Antonowitsch, ein Ingenieur aus Krasnodar, besuchen uns. Sie versprechen, wegen der gestohlenen Sachen etwas zu tun und können zwei Russen, die über die Mauer in unseren Garten gekommen sind, abfassen. Erzählen sehr interessant über Rußland.
3./7. … Ein langer Zug von Flüchtlingen, begleitet von einem Stra-Mann, wartet in Rabersdorf. In Liebau sind auch die Verhältnisse trostlos, die Leute haben noch keine Lebensmittelkarten. bekommen, nur ein halbes Kilo Brot. – Ein neuer Anschlag, unterschrieben von Herrn Ant. Novotný als Obmann der Bezirksverwaltungskommission und Dr. Brokeš als Polizeikommissär verbietet unter Strafandrohung Plünderungen und Aneignung fremden Eigentums ohne schriftliche Genehmigung einer Behörde. …
4./7. … Staatssekretär Clementis erklärt im čechischen Rundfunk, daß für die Aussiedlung 2 1/2 Millionen Deutsche, 600.000 Magyaren und 300.000 Slowaken in Ungarn in Frage kommen. Die Aktion wird 1 1/2 Jahre bringen. Der englische Rundfunk berichtet dies ohne einen Kommentar. – Frauen und Deutsche bekommen keine Raucherkarte. – Die bei den Hausdurchsuchungen beschlagnahmten Gegenstände kommen in die Sammelstelle Eichendorffstraße 7. Zum Teile müssen die Leute selbst sie hinbringen.
5./7. Es werden die Bestimmungen veröffentlicht, wer vom Tragen des N befreit ist. Antifaschisten auf ihren Antrag nach Entscheidung der Untersuchungskommission bei der Bezirksverwaltungskommission, in Mischehe lebende Personen und Juden, soweit sie den Richtlinien entsprechen, und Ausländer. Das Abzeichen müssen tragen Mitglieder aller Nazi-Organisationen und Funktionäre der NSV. Einer Frau wird erklärt, daß der bisherige Zustand wohl noch zwei Monate dauern werden.
6./7. In der letzten Woche sind bei 80 Selbstmorde vorgekommen. Die Anzahl der Toten der letzten 8 Wochen ist bei 300! …
12./7. … Rede des Ministerpräsidenten Fierlinger: Leitmeritz, Aussig, Brünn, Iglau, Znaim sind von Deutschen evakuiert, ebenso Domstadtl bei Sternberg. …
23./7. … Die Einwohner der Bahnhof- und Ferdinand Schneiderstraße haben den Aussiedlungsbefehl nach Görlitz bekommen. 35 kg Gepäck dürfen sie mitnehmen. …
24./7. … In Kröneshof werden auch Frau Kroker und Gröger, die Jahrzehnte bei der soz. dem. Partei waren, und die in ebenso langer Zeit gespart hatten, um sich ein Häuschen bauen zu können, wo sie ihren Lebensabend verbringen wollten, mit der Beschlagnahme bedroht. Von den eingereichten Gesuchen des Reitendorfer Aktionsausschusses wegen Befreiung von N. wurden nur vier bewilligt. Es wird keine Ausnahme für deutsche Kommunisten und Sozialdemokraten gemacht. – Liebesdorf ist ganz von Deutschen geleert. …
2./8. … Über das Ergebnis der Potsdamer Konferenz wird um 1/2 12 Uhr nachts der erste Bericht gebracht. Über die ČSR sagte er bloß, daß Bevölkerungsteile … ausgesiedelt werden, wenn der Kontrollrat die Gegenden in Deutschland bestimmt haben wird, wohin sie kommen sollen. Die Aktion soll human durchgeführt und einstweilen soll mit der Aussiedlung eingehalten werden. Durch das Einströmen von 300.000 Menschen nach Österreich entstanden große Lebensmittelschwierigkeiten. …
9./8. 5 Stunden Anstellens, um 1800,– Kč für Ida einzuwechseln. Der höfliche čechische Bankdirektor gibt den Rat, im nächsten Monat sich um ein Unbedenklichkeitszeugnis beim Místní nár. vyb. zu bewerben, damit Ida mehr Geld bekäme. Nachmittags und gestern Abends weite Wege, um Ernst etwas Essen zu beschaffen. Bis jetzt sind alle Versuche, Prof. Schilling und Dr. Heller frei zu bekommen, vergeblich geblieben. – Die Geldeinwechslung hat manche Frauen 10 Stunden Stehens gekostet, manche bekamen eine Blechmarke für morgen. Herr Winkler bekam nur 30 Mark, Italiener sind keine befreundete Nation. Bei der Post nahm ihm ein Russe sein Fahrrad weg. "Er brauche es." Die Sperrstunde bleibt für Deutsche 21 Uhr, 23 Uhr für Čechen. …
11./9. … Die Geldfrage wird für die Meisten zu einer Katastrophe werden. Die Arbeitslöhne für Deutsche sind sehr niedrig, viele sind arbeitslos, weil man hier für sie keine Arbeit hat. Von Arbeitslosenunterstützung keine Rede, die Preise sehr hoch und 300 Kr. sind sehr bald ausgegeben. …
13./8. In Liebau wurde, entgegen den Erzählungen, Niemand ausgesiedelt. Leute wurden für Arbeiten weggebracht. Es sind noch keine Durchführungsverordnungen zu dem Dekrete über die Staatsbürgerschaft erschienen. Wenn sie kommen, wird die Bevölkerung durch Plakate unterrichtet werden. …
14./8. … Am Nachmittage wurde ich auf der Straße von zwei Zivilisten angesprochen, ob ich Dr. Morgenstern wäre. Auf meine bejahende Antwort zeigte der Eine eine Legitimation als Polizeibeamter, der andere mit einem wilden Gesichte trug einen Sowjetstern. Es handle sich um eine Unterredung. Sie führten mich ins Landratsamt, 1. Stock. Anfänglich war auch ein Dritter dabei, der aber bald wegging. Ich wurde auf eine Anzeige eines gewissen Zavodny beschuldigt, als Chefarzt grob gegen die čech. Arbeiter gewesen zu sein, darüber liegen "Hunderte" von Zeugenaussagen vor. Ich erinnerte mich, daß bei einer Kommission mit Dr. Bodanek einmal ein junger Bursch frech gewesen war und entfernt werden mußte. Dann wurde ich gefragt, warum in einer Versammlung meine Entlassung gefordert worden war. Offenbar hat der Anzeiger von der damaligen Versammlung der Kommunisten gesprochen, in welcher gegen mich als Sozialdemokraten gehetzt worden war. Warum ich hiergeblieben, nicht geflüchtet war, warum ich im Reiche Deutscher war, warum mein Sohn bei der Wehrmacht blieb. Auf meine Antwort, um mich zu schützen, meinte er höhnisch: "Daher hat er andere Väter erschossen." Nur mein Alter schütze mich jetzt. Ich sei weder Deutscher, noch Čeche, auch die Juden erkennen mich nicht an, was ich sei. Ich sagte, ein Mann. Darauf sagte er längere Zeit nichts. Das Verhör war öfter erregt, die soz. dem. Legitimation erklärten sie für wertlos. Zum Schlusse kam heraus, daß sie amtshandeln mußten, daß auf die Anzeige dieses Zavodny ein Verhör stattfinden mußte (offenbar sahen sie selbst die Haltlosigkeit ein) und daß ich weiter nicht vorgeladen werde. Ein ganz kurzes Protokoll, worin ich bestritt, vielleicht mit Ausnahme des Zavodny je grob gegen einen č. Arbeiter gewesen zu sein, endete nach 1 1/2 Stunden das Verhör. …
16./8. Besuch von Gen. Bock und Frau aus Müglitz. Dort sind gegenüber von Schönberg geradezu paradiesische Zustände: alle Sozialdemokraten sind gleichberechtigt und werden geachtet. Besuch von Herrn und Frau Wagner. Sie sieht sehr leidend aus. Es dürfen keine Transporte mehr abgehen, es werden keine Reisebewilligungen mehr erteilt. …
20./8. … Lebensgefährliche. Gedränge bei der Kartenstelle um die čech. Lebensmittelkarten. Es werden Anweisungen auf die Zusatzkarten ausgegeben. Greti hat auf ihrer Karteikarte ein N und ein Č stehen, bekam irrtümlich die d. Karte. … Dr. Blümel will nach Bayern auswandern. …
6./10. Deutsche dürfen nur in Geschäften von 10-12, 4-6, am Samstag von 3-5 Uhr einkaufen. Im Friseurladen haben Čechen den Vorrang. Sperrstunde ist für nicht arbeitende Deutsche um 18 Uhr, für arbeitende um 20 Uhr. Wer kein N trägt, kommt ins Arbeitslager. Das verfügte die Bezirksverwaltungskommission. …
8./10. Radio, Schreibmaschinen, Büromaschinen müssen abgeliefert werden.
9./10. Der Hamburger Sender brachte und die čech. Zeitungen veröffentlichten eine Nachricht, (einiges unleserlich!) daß die Aussiedlung von 2 1/4 Millionen aus dem Sudetenland in die russische Zone in die Lager von Forst, Görlitz, Brandenburg, Rostock zu 6.000 Personen täglich beginnen soll. Ein englischer Kommentar fehlt. …
5./11. Bei einer Versammlung der Krankenkasse-Angestellten mußten die Deutschen stehen. …
23./11. Rückzug der englischen Regierung in der Frage der Aussiedlung der Sudetendeutschen, die im Dezember beginnen soll. Sie habe nie der Umsiedlung widersprochen, verlange nur die humane Art. Es sollen 7 Millionen, davon 3.150.000 aus der ČSR evakuiert werden. Das sind also alle Deutschen.
Großer Andrang um die Drucksorten für die Anmeldung der Postsparkasseneinlagen. Gar keine Organisation. Nach langem Gedränge weggeschickt, weil keine Drucksorten vorhanden sind.
10./12. … Der englische Rundfunk meldet, daß die Aussiedlung von eindreiviertel Millionen Sudetendeutscher in die amerikanische Zone und von dreiviertel Millionen in die russische Zone begonnen hat. Eine große Schlange von Leuten vor dem Rathause um die Bewilligung von einigen Kronen zum Lebensunterhalt aus ihren Sparguthaben zu erlangen. Viele werden nach stundenlangem Warten in der Kälte ergebnislos weggeschickt.
Mir wurden 890 Kr. Einkommensteuer, 1594 Kr. Hauszinssteuer, davon 650 Kr. in neuem Gelde vorgeschrieben und nur 750 Kr. zum Lebensunterhalt bewilligt. Ein Achselzucken auf meine Frage, woher ich das zahlen soll. …
4./1.46 In die russische Zone werden keine Ausgesiedelten aufgenommen, wegen Mangel an Lebensmitteln. In der amerikanischen Zone sind nach englischem Rundfunkbericht noch keine aufgenommen worden. Die Aussiedlungen bis zum Frühjahr eingestellt. …
8./1.46 Mein Staatsbürgerschaftsgesuch ist von der neuen Kommission der Polizei zur Erhebung gegeben worden. Entgegen der Veröffentlichung in den Zeitungen, daß die Aussiedlungen bis zum Frühjahr eingestellt sind, haben 15 Familien in Neuhäusel den Befehl bekommen, sich zur Aussiedlung bereit zu halten.
Glossar
Deka – alte Gewichtseinheit (1 Deka = 10 Gramm)
GPU – sowjetische Geheimpolizei
Národní Výbor – Nationalausschuss (Stadt-/Ortsverwaltung)
Místní Národní Výbor – Orts-Nationalausschuss
Nĕmec, N – Deutscher (tschechisch). Deutsche waren nach Kriegsende verpflichtet, zur Kennzeichnung ihrer Nationlität ein "N" zu tragen.
NSV – Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (der NSDAP angeschlossener Verein für soziale Aufgaben, aber auch NS-Schulung und -Propaganda)
Stra – Wache (tschechisch).
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