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Zwangsmigrationen in Europa 1938-48

 

Von Peter Haslinger
Collegium Carolinum, München

Die Beneš-Dekrete

Bei den "Beneš-Dekreten" handelt es sich um Verordnungen mit Gesetzescharakter, mit deren Hilfe der Präsident der Nachkriegs-Tschechoslowakei, Edvard Beneš (1884-1948), zwischen Kriegsende und 28. Oktober 1945 regierte. Die zeitgenössische Bezeichnung lautete "Dekrete des Präsidenten der Republik". Nominell beruhten die Dekrete auf Vorschlägen der tschechoslowakischen Regierung, wobei die ersten davon noch aus der Zeit der Londoner Exilregierung ab dem Jahr 1940 stammten.

Die insgesamt 143 Dekrete, von denen manche Verfassungsrang hatten, dienten vor dem Hintergrund der unmittelbaren Nachkriegszeit der allgemeinen Regelung zentraler politischer, wirtschaftlicher, sozialer und rechtlicher Fragen (so z. B. der Verstaatlichung der Groß-, Schwer- und Bergbauindustrie oder der Regelung von Binnenmigration). Sie waren nominell als Übergangsregelungen konzipiert, da sie nur bis zum Zusammentreffen des ersten Nachkriegsparlaments gültig bleiben sollten und durch Gesetze abgeändert werden konnten. Die Provisorische Nationalversammlung billigte am 28. März 1946 nachträglich alle Dekrete per Verfassungsgesetz.

Von der Gesamtheit der Dekrete beinhalten je nach Interpretation bis zu 13 auch Verfügungen, die sich spezifisch gegen Deutsche und Magyaren richteten, wobei diese Gruppen nicht immer auf tschechoslowakische Staatsbürger eingeschränkt blieben. Legitimiert wurden die Maßnahmen mit dem Verweis auf illoyales Verhalten beider Minderheiten im Jahr 1938 und danach. Die Verfügungen betrafen daher grundsätzlich alle Angehörigen beider Minderheitengruppen und beruhten somit auf dem Prinzip der Kollektivschuld, wobei einzelne - etwa Antifaschisten - bei verschiedenen Verfügungen ausgenommen bleiben sollten. Die slawischen Minderheiten (Polen und Ukrainer) waren von den Dekreten nicht betroffen. Die Beneš-Dekrete sind daher durchaus als Bestandteil einer Politik anzusehen, die von sicherheitspolitischen Prämissen ausgehend eine Slawisierung der Bevölkerung der Tschechoslowakei anstrebte. Nur in vergleichsweise wenigen Fällen kam es zu einer individuellen Prüfung entsprechend den in den Dekreten aufgeführten Ausnahmeregelungen. Die Vertreibung und Deportation der Deutschen und Magyaren selbst war nicht Gegenstand der Dekrete - ein entsprechender Entwurf trat auf Wunsch Großbritanniens nicht in Kraft. Ebenso stellte die oft zitierte Straffreiheit für "Handlungen, die mit dem Kampf um die Wiedergewinnung der Freiheit der Tschechen und Slowaken zusammenhängen", keinen Teil der Dekrete dar. Diese Straffreiheit wurde am 8. Mai 1946 von der Provisorischen Nationalversammlung für die Zeit nach dem Münchener Abkommen seit 30. September 1938 per Gesetz verfügt.

Zu den wichtigsten Dekreten zählen:

  • Das Dekret Nr. 5 vom 19. Mai 1945 verfügte grundlegende vermögensrechtliche Einschränkungen für Deutsche und Magyaren, die de facto als Enteignung zu bewerten sind (das Dekret galt nur in der tschechischen Landeshälfte, der Slowakische Nationalrat erließ am 5. Juni 1945 eine ähnlich lautende Verordnung).
  • Das Dekret Nr. 12 vom 21. Juni 1945 sah die entschädigungslose Konfiskation und Aufteilung des landwirtschaftlichen Vermögens von Personen deutscher und magyarischer Nationalität (unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft) und von "Verrätern und Feinden des tschechischen und slowakischen Volkes" vor. Es erhielt wiederum nur in der tschechischen Landeshälfte Gültigkeit, da in der Slowakei bereits eine vergleichbare Verordnung des Slowakischen Nationalrats in Kraft war.
  • Das Dekret Nr. 16 vom 19. Juni 1945 regelte die "Bestrafung der nazistischen Verbrecher, der Verräter und ihrer Helfeshelfer" und die Einrichtung von außerordentlichen Volksgerichten. Eine vormalige Mitgliedschaft in nazistischen oder faschistischen Organisationen wurde hierbei mit Kerkerstrafen belegt.
  • Das Verfassungsdekret Nr. 33 vom 2. August 1945 verfügte die rückwirkende Aberkennung der Staatsbürgerschaft aller tschechoslowakischen Deutschen und Magyaren, meist gerechnet vom Zeitpunkt der Angliederung des betreffenden Siedlungsgebiets an das Deutsche Reich oder Ungarn. Ausgenommen waren dabei laut Dekret diejenigen, die sich "niemals etwas gegen das tschechische oder slowakische Volk zuschulden kommen ließen und sich aktiv an ihrem Befreiungskampf beteiligt oder unter nazistischem oder faschistischem Terror gelitten haben" (§ 2).
  • Das Dekret Nr. 35 vom 31. Juli 1945 beinhaltete Regelungen bezüglich des Einzugs von Sparguthaben und der bei Banken eingelagerten Wertgegenstände von Deutschen und Magyaren.
  • Das Dekret Nr. 71 vom 19. September 1945, das nur im tschechischen Landesteil Gültigkeit erhielt, sah eine Arbeitspflicht für Deutsche und Magyaren zur Beseitigung der Kriegsschäden vor - in der Slowakei waren im Vergleich dazu allgemeiner gefasste Verfügungen in Geltung.
  • Das Dekret Nr. 108 vom 25. Oktober 1945 verfügte die entschädigungslose Konfiskation des gesamten "Feindvermögens", als dessen Teil auch das deutsche und magyarische Vermögen bis hin zu Wohnungseinrichtungen betrachtet wurde. Im Motivenbericht zu diesem Dekret wurde die Enteignung als Teil der deutschen und ungarischen Reparationsleistung an die Tschechoslowakei ausgewiesen.

Literatur:

BRANDES, Detlev: Der Weg zur Vertreibung 1938-1945. Pläne und Entscheidungen zum "Transfer" der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen. München 22005.

COUDENHOVE-KALERGI, Barbara und RATHKOLB, Oliver (Hrsg.): Die Beneš-Dekrete. Wien 2002.

GÖRLITZ, Niklas / NEUMANN, Philipp: Europarechtliche Aspekte der Debatte um die so genannten Beneš-Dekrete. In: Jahrbuch für Ostrecht 44 (2003), S. 45-72.

JECH, Karel und KAPLAN, Karel (Hrsg.): Dekrety prezidenta Republiky. 1940-1945. Dokumenty [Die Dekrete des Präsidenten der Republik. 1940-1945. Dokumente]. 2 Bde. Brno 1995.

KUKLÍK, Jan: Mýty a realita tak zvaných Benešových dekretu. Dekrety prezidenta republiky 1940-1945 [Mythen und Realität der so genannten Beneš-Dekrete. Die Dekrete des Präsidenten 1940-1945]. Praha 2002.

SLAPNICKA, Helmut: Die rechtlichen Grundlagen für die Behandlung der Deutschen und der Magyaren in der Tschechoslowakei 1945-1948. München 1999.

 

Literatur aus der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung

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