Zwangsmigrationen in Europa 1938-48
Deportation und Vernichtung der Juden: Aus der Autobiografie von Ignatz Bubis
Ignatz Bubis (1927-1999), geboren in Breslau, erlebte die Besetzung Polens 1939 in der Kleinstadt Deblin, in die seine Familie nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland gezogen war.
Die ersten Kapitel seiner Autobiografie schildern seine Kindheit in den letzten Jahren des alten, multiethnischen Osteuropas, in denen nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten die Lage der Juden jedoch bereits zunehmend schwieriger wurde. In großer Eindringlichkeit wird die NS-Bevölkerungs- und Vernichtungspolitik in Osteuropa aus der Perspektive eines Opfers gezeigt. Stationen sind unter anderem das Ghetto und verschiedenene Arbeitslager, die er mit viel Glück überlebt. Fast seine gesamte Familie wird ermordet.
Nach dem Krieg war Bubis in der Bundesrepublik Deutschland Unternehmer und ab 1992 Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland.
Die sehr lesenswerte Autobiografie ist 1996 erschienen:
Bubis, Ignatz
"Damit bin ich noch längst nicht fertig" : die Autobiographie / Ignatz Bubis. Mit Peter Sichrovsky. - Frankfurt/Main [u.a.] : Campus-Verl., 1996. - 292 S.
ISBN 3-593-35556-6
Signatur(en): A 96-4388
Wir bedanken uns beim Campus-Verlag für die freundliche Genehmigung der Verwendung der folgenden Passagen, die den Kapiteln 1 bis 3 entnommen sind:
KAPITEL 1: Deutsch-polnische Kindheit
BRESLAU
Ich wurde am 12. Januar 1927 in Deutschland als siebentes und letztes Kind meiner Eltern Jehoshua und Hannah Bubis geboren. In der Stadt Breslau – heute heißt sie Wroclaw und liegt in Polen. Damals war es eine preußische Industriestadt mit einer halben Million Einwohnern, darunter etwa 15.000 Juden und damit die drittgrößte jüdische Gemeinde in Deutschland. …
Meine Eltern kamen 1919, kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, aus Rußland nach Breslau. Ich habe also schon meine ersten Jahre in Deutschland verbracht. Für meine Eltern ist Breslau nie zu einer richtigen Heimat geworden. Warum sie sich damals ausgerechnet in dieser Stadt niedergelassen hatten, weiß ich nicht genau. Ich kann mich auch nicht erinnern, daß sie jemals davon sprachen. Auch ihre Zeit in Rußland war nie ein Thema. Wie alle jüdischen Familien in diesen unruhigen Jahren wechselten auch meine Eltern öfter Städte und auch Länder, immer auf der Suche nach Sicherheit und einem Ort, wo man als Jude nicht ständig um sein Leben fürchten mußte. …
Ich war acht Jahre alt, als wir Breslau verließen. Das war 1935, zwei Jahre nach der Machtergreifung Hitlers. Obwohl ich mich an keine direkten antisemitischen Übergriffe erinnern kann, waren meine Eltern hellsichtig genug, aus Deutschland auszuwandern und nach Polen überzusiedeln. …
DEBLIN
In Deblin lebte die Familie meiner Mutter. … Ich hatte zu Beginn ein wenig Schwierigkeiten mit der polnischen Sprache, aber das ging schnell vorüber. Meine Muttersprache, so würde man das heute sagen, war ja eigentlich Jiddisch. Schon mit drei Jahren ging ich zum Religionsunterricht, lernte dort die Bibel und damit auch jiddisch schreiben. Erst als ich fünf war, unterrichtete mich meine Schwester auf Deutsch. Ich sprach also Jiddisch, bevor ich Deutsch konnte. Dazu kam noch ein wenig Russisch, weil meine Eltern oft untereinander Russisch sprachen. Mit mir redeten sie Jiddisch und nur ganz selten Deutsch. Mit diesen vier Sprachen – Jiddisch, Deutsch, Russisch und Polnisch – bin ich aufgewachsen. …
Deblin war im Vergleich zu Breslau eine winzige Stadt mit ein paar tausend Einwohnern, die Hälfte davon Juden – eine eigenartige Mischung von jüdischem Stedtl und moderner Kleinstadt. …
KAPITEL 2: Im Ghetto
KRIEGSBEGINN
… Bereits am 1. September 1939 wurde Deblin von der deutschen Luftwaffe bombardiert. Die extreme Konzentration von militärischen Einrichtungen, der Flughafen und die hohe Präsenz von Soldaten machten Deblin zu einem wichtigen militärischen Ziel. Dieser Tag bedeutete das Ende meiner Kindheit. Die nächsten fünf Jahre wurde ich gezwungen, wie ein Erwachsener zu denken und zu handeln und für mich selbst verantwortlich zu sein. Jeder Fehler hätte das Leben kosten können, jede Unachtsamkeit vielleicht auch noch das Leben eines anderen Menschen. …
Schon in den ersten Tagen nach Kriegsausbruch sperrten ein SS-Mann und ein Angehöriger der Geheimen Feldpolizei in irgendeiner kleinen Ortschaft abends 50 Juden, die tagsüber zu Reparaturarbeiten an einer Brücke eingesetzt waren, in einer Synagoge ein und schossen sie einfach nieder. … Deutsche Soldaten ergriffen in den jüdischen Vierteln wahllos Männer, die sie zum Arbeitsdienst abtransportierten. Während dieser Aktionen wurden sie von Polen begleitet, die "Zyd, Zyd! " brüllten und auf jeden Juden zeigten, der gerade auf der Straße vorbeilief. Innerhalb weniger Wochen waren die Juden ohne jeden Schutz. Ihre Geschäfte wurden geplündert, ihre Wohnungen ausgeräumt, sie wurden auf den Straßen aufgehalten und ausgeraubt, nicht selten auch noch verprügelt.
Am 12. Dezember 1939 verlangte die Verwaltung in Warschau vom Judenrat eine Liste der reichen Juden, ihre Wohnungen wurden aufgebrochen und ihr Hab und Gut in Lastkraftwagen abtransportiert. Bereits am 18. Dezember wurde eine Verordnung erlassen, die es Juden verbot, ihren Immobilienbesitz zu verkaufen, und ihre Bankkonten wurden eingefroren.
Bei all den Plünderungen und Diebestouren arbeiteten immer die Gestapo und die lokalen Behörden Hand in Hand. Insbesondere die polnische Polizei war voller Demut und Unterwürfigkeit gegenüber den Deutschen. Vor allem auf die orthodoxen Juden hatten sie es abgesehen. Sie wurden auf der Straße aufgehalten, ausgelacht und verspottet, und nicht selten schnitt man ihnen die Bärte mit alten rostigen Messern ab, so daß sie tiefe Wunden davontrugen. …
Im Ghetto fanden wir Unterschlupf bei einer Familie, die in einer Zweizimmerwohnung lebte. Mein Vater und ich, bald darauf auch mein Großvater väterlicherseits, kamen in einem Raum unter, den sie uns vermieteten. Unsere Wohnung lag außerhalb des Ghettos, so daß wir sie gezwungenermaßen aufgeben mußten. Mein Großvater starb bald nach seiner Ankunft im Ghetto, so daß nur noch mein Vater und ich übrigblieben. Was waren wir doch noch ein paar Jahre zuvor für eine stolze Familie gewesen! …
Meist lebten die Menschen im Bereich des Ghettos in kleinen, muffigen Holzhäusern, oft mußten sich zwei Familien einen einzigen Raum teilen. …
Insgesamt kamen zunächst etwa 3.000 Juden ins Ghetto. Zu Beginn wohnten auch noch ein paar polnische Familien dort, sie bezogen jedoch bald die leerstehenden Wohnungen der Juden, die man ins Ghetto gezwungen hatte. Von den rund 4.000 Juden, die ursprünglich in Deblin lebten, konnten ein paar hundert fliehen, und viele wurden auch schon zu Beginn abtransportiert. Mitte 1941 mußten dann auch die Juden aus der näheren Umgebung Deblins ins Ghetto, danach kam eine Gruppe Juden aus Wien und eine weitere Gruppe aus dem slowakischen Presov.
Mit der Einrichtung der Ghettos begann eine neue Phase in den Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden in Polen. Das Ghetto Deblin war relativ spät gegründet worden, die ersten Ghettos gab es bereits im Oktober 1939; in Lodz, der zweitgrößten jüdischen Gemeinde in Polen, wurde das Ghetto im Februar 1940 eingerichtet.
Sinn und Zweck der Ghettos war die totale Erfassung und Isolierung der jüdischen Bevölkerung einer Stadt. Diese Ausgrenzung geschah nicht über Nacht, so wenig wie die Ermordung der Juden in den Konzentrationslagern eine plötzliche Aktion war, die von einem Tag auf den anderen angeordnet wurde. Es war vielmehr so, daß es jeden Tag neue Gesetze gab, die Juden mehr und mehr aus dem normalen Leben hinausdrängten. Zu Beginn wurden alle Juden aus öffentlichen Ämtern und Berufen verbannt, kein jüdischer Lehrer, Rechtsanwalt, Arzt oder Verwaltungsbeamter durfte mehr seiner Arbeit nachgehen. Später wurden die Umzugs möglichkeiten der Juden auf die Grenzen ihres Wohnbezirks beschränkt und eine Ausgangssperre von 9 Uhr abends bis 5 Uhr morgens verhängt. Wenige Wochen später wurde dann eine Verordnung erlassen, die Juden die Eisenbahnbenutzung nur noch mit Sondergenehmigung erlaubte.
Die Ghettos ermöglichten es der deutschen Verwaltung nicht nur, die Juden zu erfassen, sondern auch die Kommunikation zwischen Juden und Nicht-Juden zu kontrollieren. Jeglicher Kontakt zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Polen sollte unterbunden werden. Um ihre Anordnungen besser durchsetzen zu können, setzten die Nazis Judenräte ein. Diese Judenräte waren zum Beispiel dafür verantwortlich, die angeforderten Arbeiter bereitzustellen, die dann teilweise innerhalb, teilweise auch außerhalb des Ghettos verschiedene Zwangsarbeiten verrichten mußten. …
Das Leben im Ghetto kann sich jemand, der es nicht erlebt hat, wahrscheinlich kaum vorstellen. Wir lebten immer nur für den einen Tag, und wenn der vorüber war, für den nächsten. Wir haben nicht richtig gehungert, es lagen keine Skelette auf den Straßen, und im Vergleich zu den Häftlingen eines Konzentrationslagers ging es uns noch relativ gut. Aber für mich als 14jährigen Jungen war der Alltag unter diesen Bedingungen dennoch nur zu überleben, indem ich mich vor allem emotionell gegen das Grauen schützte. Ich sah damals fast täglich, wie man Menschen wegen einer Nichtigkeit verprügelte, erschoß oder aufhängte. Ich sah Menschen, die alles taten, um zu überleben. Ich sah Menschen, die ich als stolze, ehrwürdige Bürger in Erinnerung hatte und die nun gedemütigt und gebrochen ohne Hoffnung auf ihr Ende warteten.
Das wichtigste Problem der Deutschen in Deblin und Umgebung war es, genügend Arbeitskräfte zu rekrutieren. Durch die vielen militärischen Einrichtungen hatten sie einen großen Bedarf an Zwangsarbeitern, und daran lag es wahrscheinlich, daß die Verantwortlichen die geplante Vernichtung der Juden noch ein Weilchen aufschoben. Man brauchte uns noch. …
DIE ERSTE DEPORTATION
1985 sah ich diesen Platz im Zentrum von Deblin zum ersten Mal wieder. Er erschien mir, wie so vieles in dieser Stadt, winzig klein, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie damals, an diesem schrecklichen 6. Mai 1942, mehr als tausend Menschen hier zusammengetrieben wurden – alle, die sich im Ghetto aufhielten und nicht gerade bei der Arbeit am Fliegerhorst oder in der Zitadelle außerhalb der Stadt waren. An diesem Tag begann die erste Teilräumung des Ghettos. Die Juden von Deblin wurden in Eisenbahnwaggons zusammengepfercht und kamen nach Sobibor.
Sobibor war neben Chelmno, Belzec, Treblinka, Majdanek und Auschwitz-Birkenau eines der sechs reinen Vernichtungslager. Eine Selektion der Ankommenden in Arbeitsfähige und Todeskandidaten wie in Auschwitz gab es dort nicht mehr. Der einzige Zweck dieser Lager war die Ermordung von Menschen. Sobibor wurde erst im April 1942 fertiggestellt, und die Debliner Juden waren unter den ersten, die hier vergast wurden. Nur etwa 60 Menschen haben Sobibor überlebt, darunter aber, soweit ich weiß, kein Jude aus Deblin. …
DEBLIN WIRD JUDENFREI
Ende September/Anfang Oktober 1942 erfolgte die zweite Deportation und kurz danach die dritte und letzte. Danach gab es kein jüdisches Ghetto mehr in Deblin, und Juden hatten außerhalb des Arbeitslagers keine Chance mehr zu überleben. Während der zweiten Deportation kam es mitten in der Stadt zu einem regelrechten Massenmord: Das ganze Ghetto wurde von Soldaten der Luftwaffe umstellt, und auf jeden, der fliehen wollte, sofort geschossen. Im Ghetto selbst wütete die SS bzw. die Sicherheitspolizei. Es spielten sich unvorstellbare Szenen ab. Die Menschen versuchten verzweifelt, sich irgendwo zu verstecken, auf Dachböden, in Kellern, in Kästen und Schränken, um dem Massaker und der Verschleppung zu entkommen, doch es war sinnlos. Mit einer unglaublichen Brutalität wurde jeder Winkel des Ghettos durchsucht, und wer sich nicht freiwillig auf den Sammelplatz begeben hatte, wurde sofort erschossen. In wenigen Stunden wurden mehr als 300 Menschen ermordet und, wie ich 1984 erfahren habe, in ein Massengrab auf dem jüdischen Friedhof geworfen. …
Jetzt arbeitslos zu sein, war gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Es durfte kein Jude mehr im Ghetto sein, und ins Lager durften nur jene, die eine Bewilligung hatten. Jeder Jude, der außerhalb des Lagers entdeckt wurde und keine entsprechenden Papiere hatte, wurde sofort erschossen. …
Die nächsten Monate im Lager in Deblin verliefen relativ ruhig. Ich war 16 Jahre alt und der letzte Überlebende unserer Familie. …
Im Juni 1944 konnte man an manchen Tagen schon aus der Entfernung die Kanonen hören. Das Lager befand sich nicht weit von der Weichsel, und wir rechneten jeden Tag damit, daß die Rote Armee den Fluß erreichen würde. Doch kurz bevor die Rote Armee dann wirklich Deblin erreichte, wurden wir Lagerhäftlinge in zwei Transporten nach Czestochowa gebracht, das etwa 150 Kilometer westlich von Deblin liegt.
Die zweite Deportation, zu der außer mir zufälligerweise auch meine zukünftige Frau und ihre Familie gehörten, erfolgte nur drei Tage vor dem Eintreffen der Roten Armee. Wir wußten damals alle, wie nahe die Russen waren, und viele versuchten zu fliehen. Die wenigen, denen es gelang, wurden meist entweder von Deutschen oder von den Polen, sei es der Landbevölkerung oder Teilen der Heimatarmee erschossen oder an die Deutschen ausgeliefert.
In diesen letzten Wochen schien es, als wollten die deutschen Besatzer, wenn sie schon den Krieg gegen die alliierten Armeen verloren hatten, wenigstens den gegen die Juden zu Ende führen. Die meisten Juden, die zunächst von Deblin nach Czestochowa überführt wurden, kamen später ums Leben. Wiederum wenige Tage vor einer möglichen Befreiung wurden sie deportiert: Die meisten kamen nach Bergen-Belsen, Buchenwald bzw. Mittelbau Dora, und nur wenige von ihnen überlebten.
KAPITEL 3: Hungrig nach Leben
CZESTOCHOWA
In Czestochowa, dem damaligen Tschenstochau, gab es mehrere Arbeitslager. Die Stadt war längst "judenrein", das Ghetto liquidiert, und kaum einer der 30.000 Juden, die einst in der Stadt gelebt hatten, war noch am Leben. …
Wir warteten und warteten jeden Tag, jede Nacht, wann endlich die Rote Armee das Lager befreien würde. Die größte Angst hatten wir davor, daß es noch gelingen würde, auch dieses Lager zu deportieren. Und so kam es auch. In den ersten Tagen des Jahres 1945 begannen die Wachmannschaften, kleine Gruppen von Häftlingen zu deportieren. Am 15. Januar wurde eine größere Gruppe abtransportiert, und am 16. Januar sollte der Rest folgen.
Erst viel später erfuhr ich, wie es jenen ergangen ist, die das Lager am 14., 15. und am Morgen des 16. Januar mit einem Teil der Wachmannschaften hatten verlassen müssen: Von den aus Czestochowa am 14. Januar 1945 Deportierten kamen die Männer nach Buchenwald und Mittelbau Dora, die Frauen nach Bergen-Belsen und Ravensbrück. Für viele war dies noch nicht einmal die Endstation. Von Bergen-Belsen wurden sie quer durch das Reich, zum Teil in Fußmärschen, Richtung Österreich geschickt. Die meisten dieser Deportierten, darunter viele meiner Freunde, Bekannten und entfernten Verwandten, haben diese Transporte nicht überlebt – soweit sie nicht gleich in die Vernichtungslager kamen. …
BEFREIUNG
Am 16. Januar 1945 wurde das Lager von der Roten Armee befreit. …
Zum Seitenanfang
|