Nationalismus
US-Außenminister Lansing zu den Gefahren des Nationalstaatsprinzips (1921)
Der amerikanische Außenminister Robert Lansing nahm an den Friedensverhandlungen von Versailles teil und warnte bereits damals vor den Gefahren des Nationalstaatsprinzips, das zur Grundlage der Nachkriegsordnung in Europa gemacht werden sollte.
Wenn auch sein Denken machtpolitisch geprägt und Unruhe bei den ausgebeuteten Völkern der Kolonien eine seiner wichtigsten Sorgen war, erkannte der dennoch die Macht dieses Prinzips und seine Sprengkraft, die seine Anwendung in ethnisch heterogenen Regionen barg.
Die folgende Passage ist entnommen:
Lansing, Robert
Die Versailler Friedens-Verhandlungen : Persönliche Erinnerungen. - Berlin : Hobbing, 1921. - 245 S.
Einheitssacht.: The peace negotiations <dt.>
Signatur(en): A 4395
Das Prinzip der Selbstbestimmung ist nun in der Theorie ebenso richtig wie die noch berühmtere Wendung von der "Zustimmung der Regierten", die drei Jahrhunderte hindurch von politischen Philosophen immer und immer wieder verkündet und von den zivilisierten Völkern gemeinhin als richtig angenommen worden ist. Die Staatsmänner jedoch haben sich drei Jahrhunderte hindurch nicht um diese Phrase gekümmert, weil dieses Recht in der Praxis gar nicht angewendet werden konnte, ohne die nationale Sicherheit, welche stets der Hauptgesichtspunkt bei allen internationalen und nationalen Fragen ist, zu gefährden, Die beiden Worte "Selbstbestimmung" und "Zustimmung der Regierten" bedeuten ja im Wesen dasselbe und sind von den Vertretern des Prinzips als eines Rechtsgrundsatzes meistens als identisch gebraucht worden, Die Selbstbestimmung war kein neuer Gedanke, sondern nur die Wiederholung eines alten.
Bei der gegenwärtigen politischen Struktur der Welt, die auf der Nationalitätsidee aufgebaut ist, eignet sich diese neue Formel von der Selbstbestimmung ebenso wenig für allgemeine Anwendung wie erfahrungsgemäß die alte. Feste nationale Grenzen, feste staatlich-nationale Zusammenhänge und alle politische Stabilität werden aufgehoben, wenn dieses Prinzip gleichmäßig angewendet wird. Wenn man dieses Prinzip auf jeden in seinem Bereich liegenden möglichen Fall anwenden wollte, so würden unter dem Zwange neuer sozialer Verhältnisse, wirtschaftlicher Interessen, rassemäßiger Vorurteile und all der vielgestaltigen Triebkräfte der menschlichen Gesellschaft unbedingt der ewige Wechsel und die ständige Unsicherheit die natürlichen Folgen sein. Unter meinen Aufzeichnungen finde ich eine vom 20. Dezember 1918, d. h. eine Woche nach der Ankunft der amerikanischen Delegation in Frankreich, worin ich Betrachtungen über gewisse Redewendungen oder epigrammatische Formulierungen Wilsons angestellt habe, die er als Friedensgrundlagen proklamiert hatte, die aber meiner Meinung nach die Keime künftiger schwerer Verwicklungen in sich tragen. Über das proklamierte Recht der Selbstbestimmung schrieb ich damals:
"An welche Einheit denkt Wilson eigentlich, wenn er von der Selbstbestimmung spricht? Meint er eine Rasse, einen Gebietsteil oder ein Gemeinwesen? Ohne die Festsetzung einer ganz bestimmten, für die Praxis brauchbaren Einheit bedeutet die Anwendung dieses Prinzips eine Gefahr für den Frieden und die Stabilität."
Zehn Tage später, am 30. Dezember, nachdem die Redensart von der "Selbstbestimmung" häufig in der Presse und von Mitgliedern gewisser Gruppen und inoffizieller Delegationen, die von der Friedenskonferenz gehört sein wollten, wiederholt worden war, schrieb ich Folgendes:
"Je mehr ich über Wilsons 'Selbstbestimmung' nachdenke, um so klarer wird mir, wie gefährlich es ist, solche Ideen in die Kopfe gewisser Rassen zu pflanzen. Dieses Prinzip wird der Ausgangspunkt unmöglicher Ansprüche an die Friedenskonferenz werden und viel Unruhe in vielen Ländern stiften. Welche Wirkung wird diese Phrase z. B. auf die Iren, die Inder, die ägypter und die Burennationalisten haben? Wird sie nicht Unzufriedenheit, Ruhestörung und Aufruhr wecken? Werden sich nicht die Mohamedaner in Syrien und Palästina und womöglich auch in Marokko und Tripolis darauf berufen? Wie läßt sich dieses Prinzip mit dem Zionismus, auf den sich Wilson doch so gut wie festgelegt hat, in Einklang bringen?
Das ganze Wort 'Selbstbestimmung' ist mit Dynamit bis zum Rande geladen. Es wird Hoffnungen erwecken, die sich nimmer erfüllen lassen. Ich fürchte, daß es tausende und abertausende Leben kosten wird. Es muß auf die Dauer in Mißkredit geraten und wird als Traum eines Idealisten verschrien werden, der die Gefahren nicht sah, bis es zu spät war, um alle diejenigen zurückzuhalten, die das Prinzip praktisch anzuwenden versuchen. Welch ein Verhängnis, daß dieses Wort je geprägt wurde! Welches Elend wird es über die Menschen bringen!"
Zum Seitenanfang
|