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Nationalismus

Mazzinis Versuch einer Definition der Nation

 

Guiseppe Mazzini (1805-72) war einer der wichtigsten Vordenker des italienischen Nationalismus und Kämpfer für eine demokratische Einigung Italiens in der Zeit des Risorgimento.

Die folgende, hier in Ausschnitten zitierte Schrift richtet sich gegen die Aufteilung der italienischen Halbinsel in verschiedene, autokratisch regierte Fürstentümer. Dagegen setzt sie das Prinzip der Nation, das nach einem demokratischen, freiheitlichen Einheitsstaat verlange. Sie ist entnommen:

Mazzini, Giuseppe
Politische Schriften / von Giuseppe Mazzini. - Leipzig : Reichenbach
Signatur(en): A 16648

 

… Unter dem Volk verstehen wir die Gesamtheit der Menschen welche eine Nation bilden.

Die Masse umherirrender Menschen bildet keine Nation, wenn sie nicht von gemeinsamen Prinzipien geleitet, zu einem einheitlichen Streben verbrüdert, von gleichen Gesetzen regiert wird. Nation ist ein Wort, welches Einheit darstellt. Einheit der Prinzipien, des Zieles und des Rechtes ist das Einzige, was eine Masse Menschen zur Gemeinsamkeit vereinigt. Ohne diese gibt es keine Nation, sondern nur Stämme. … Die Italiener, denen jede Kundgebung von Prinzipien, Ziel und Rechten versagt ist, sind bis zu diesem Tage Stämme.

Andrerseits ist eine Gesellschaft von Menschen, die von einem egoistischen Prinzip zu einem nur materiellen Ziel vereinigt sind, deshalb noch keine Nation. Eine Räuberbande, zeitweise für eine Eroberung vereinigte Leute, sind deshalb noch keine Nation. Damit eine Nation bestehe, müssen die Prinzipien, das Ziel, das Recht, aus denen sie sich bildet, auf einer dauernden Grundlage beruhen. Das Prinzip, an das sie glaubt, muß also unantastbar und fortschrittlich sein, damit weder die Zeit, noch die Laune der Menschen es verzehren. Das Ziel muß durchaus sittlich sein, weil ein bloß materielles Ziel seiner Natur nach begrenzt ist und deshalb keine Grundlage dauernder Vereinigung darbietet. Das Recht muß aus der Natur des Menschen abgeleitet werden, dem einzigen, was die Jahrhunderte nicht zerstören.

Einheit der Prinzipien läßt sich nur als frei und unmittelbar begreifen, nicht beherrscht von Gewalt oder Hinterlist.

Die eigene Vervollkommnung, die geordnete Entwicklung der eigenen Fähigkeiten ist das gemeinsame Ziel für alle Individuen.

Die Vervollkommnung und die fortschreitende Entwicklung der Kräfte und der sozialen Tätigkeit ist das Ziel der Nation.

Das Mittel ist die Vereinigung.

Die Vereinigung der Kräfte vervielfältigt die Kräfte selbst. Wachstum oder Abnahme dieser Kräfte und folglich der sittlichen und materiellen Erzeugnisse, die sie anhäufen, steht in unmittelbarer Beziehung zu der Macht des Bandes der Vereinigung. Die Schwächung dieses Bandes bezeichnet den Verfall der Nationen und die Notwendigkeit der Revolution, um sie neu zu beleben. Als das römische Reich fiel, kämpften Provinzen mit Provinzen; wenige oder keine blieben der Hauptstadt in Gehorsam untergeben; Prätorianer stritten mit Senatoren, Christen mit den Priestern des Heidentums, Philosophen gegen alle beide, Plebejer gegen Patrizier. Die Geschichte zeigt in jedem Lande vor den großen Revolutionen jenes Schauspiel der Auflösung und der in den verschiedenen Klassen, in den verschiedenen Schichten des Staates miteinander kämpfenden Interessen.

Wahre Vereinigung besteht nur zwischen in Rechten und Pflichten Gleichgestellten. Wo die Einheit des Rechtes nicht ein allgemeines Gesetz ist, da gibt es Kasten, Herrschaft, Vorrecht, Überlegenheit, Helotentum, Knechtschaft, Abhängigkeit, kein Gleichgewicht, keine Freiheit, keine Vereinigung, die auf freier Obereinstimmung beruht. …

Gleichheit, Freiheit, Vereinigung, diese drei Elemente allein bilden eine Nation!

Unter Nation verstehen wir die Gesamtheit der dieselbe Sprache sprechenden Bürger, die zur Gleichheit der bürgerlichen und politischen Rechte, zu dem gemeinsamen Ziele, die sozialen Kräfte und die Tätigkeit dieser Kräfte fortschreitend zu entwickeln und zu vervollkommnen, vereinigt sind.

Die erste Folge der Vereinigung und der Gleichheit der Vereinigten ist, daß keine Familie, kein Individuum ausschließlich die Herrschaft über die Gesamtheit oder einen Teil der Kräfte und der sozialen Tätigkeit übernehmen kann. Die zweite Folge ist, daß keine Klasse, kein Individuum ohne ein unmittelbares Mandat der Nation die Verwaltung der Kräfte und der sozialen Tätigkeit übernehmen kann.

Folglich die Abschaffung jedes erblichen Vorrechtes. Folglich sind alle Individuen, welche die regierende Hierarchie bilden, abzuberufene [sic] Bevollmächtigte der Nation, nicht in ein Recht, ein Amt oder eine Machtbefugnis eingesetzt für sich, sondern für die Nation.

Die Nation allein ist unumschränkter Herrscher.

Jede Macht, die nicht von ihr ausgeht, ist widerrechtliche Aneignung. Jedes Individuum, welches auch nur um eine Linie den Kreis seiner Obliegenheiten überschreitet, ist ein untreuer Bevollmächtigter. Die Nation allein hat das unantastbare Recht, ihre Staatseinrichtungen zu wählen, zu verbessern und zu verändern, wenn sie ihren Bedürfnissen und dem Fortschritt des sozialen Geistes nicht mehr entsprechen.

Da aber die Nation sich nicht ganz in einer Versammlung vereinigen kann, um ihre Staatseinrichtungen zu beraten und zu bestimmen, so handelt sie mittels Abordnung, indem sie. eine gewisse Anzahl Männer erwählt, in die sie Vertrauen setzt, damit sie den Ausdruck ihrer Bedürfnisse und ihres Willens vertreten und ihn zum Gesetz erheben.

Der Wille der Nation, ausgesprochen durch von ihr gewählte Bevollmächtigte, bildet das Gesetz für die Bürger.

Die nationale Vertretung muß also alle Bedingungen des Daseins der Nation in sich wiederspiegeln.

Folglich :

Einheit der Nation, Einheit der nationalen Vertretung. Die Einheit der einen zieht die der anderen nach sich.

Die Nation umfaßt in ihrer weiten Vereinigung alle sozialen Elemente und Kräfte. Damit also die Vertretung wahrhaft national sei, muß sie den Ausdruck aller jener Elemente, aller jener Kräfte enthalten.

Wo eine einzige dieser Kräfte vernachlässigt ist, da ist die Vertretung nicht national. Das Streben jener Kraft, vertreten zu sein, erzeugt die Notwendigkeit einer vollständigen Umwandlung. Folglich Kampf und die Notwendigkeit der Revolution, kein ruhiger, friedlicher Fortschritt. …

Damit die Vertretung wahrhaft national sei, ist es nötig, daß jeder Bürger durch seine Stimme mitwirke, sie zu bilden. Derjenige, der nicht in irgend einer Weise das Wahlrecht ausübte, würde aufhören Bürger zu sein. Der Vertrag der Vereinigung wäre von ihm verletzt, wenn der Ausdruck seines Willens nicht berücksichtigt wäre, und jedes Gesetz wäre für ihn tyrannisch. …

Die versammelten Wähler handeln als Stellvertreter der Nation. Die Macht der Nation ist unbeschränkt, und deshalb sind die der Ausübung dieser Macht und der Wahl der Abgeordneten auferlegten Beschränkungen ein Widerspruch gegen das Prinzip der nationalen Herrschaft. …

 

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