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[Seite der Druckausg.:8]



2. Kasachstan – im „Chanat Nazarbajews"*

* [Beate Eschment]

Kasachstan hatte sich nicht nur als letztes der zentralasiatischen Länder, sondern als letzte Unionsrepublik überhaupt von der Illusion einer reformierten Sowjetunion verabschiedet und erklärte erst nach der Aufhebung des Unionsvertrages seine Unabhängigkeit am 16. Dezember 1991. Das besonders energische Eintreten seiner Führungselite, insbesondere seines KP-Chefs Nursultan Nazarbajew, für eine Fortsetzung der Union ist neben den erwarteten negativen wirtschaftlichen Auswirkungen auch in der Furcht vor aufbrechenden ethnischen Konflikten bei Erlangung der Unabhängigkeit zu suchen. Zwar waren und sind die Bevölkerungen aller zentralasiatischen Länder heterogen, jedoch befand und befindet sich allein Kasachstan hier in der Situation, dass der namensgebende Bevölkerungsanteil („Titularnation") der Kasachen weder 1989 noch 2001 nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung ausmacht(e) und das Land über die stärkste Gruppe ethnischer Russen verfügt(e). [So stellten die Kasachen 1989 nur 39,7 v. H. der Bevölkerung, die Russen 37,8 v. H., der Rest wurde von verschiedenen kleineren Volksgruppen (Ukrainer, Deutsche, Usbeken etc.) gestellt. Bis 2001 hatte sich die Zusammensetzung durch Abwanderung von Russen und v. a. Deutschen zu Gunsten der „Titularnation" verschoben: nun machten die Kasachen 46 v. H. der Bevölkerung aus, ethnische Russen aber immerhin noch 35 v. H. / Vgl. http://www.cia.gov/cia/publications/factbook/geos/kz.html und http://www.auswaertiges-amt.de]

Der Präsident „biegt" sich die Verfassung zurecht

Gemäß seiner ersten Verfassung von 1993 war Kasachstan ausdrücklich eine parlamentarische Demokratie. Zum Präsidenten war am 01. Dezember 1991 der damalige Vorsitzende des Obersten Sowjets und Interim-Präsident, Nursultan Nazarbajew, gewählt worden. Dieser war zwar Staatsoberhaupt und stellte simultan die oberste exekutive Autorität dar, benötigte aber für alle wichtigen juristischen und personellen Entscheidungen die Zustimmung des Parlamentes. Die Verfassung sah beispielsweise noch die Möglichkeit vor, dass ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz auch in Kraft treten konnte, wenn der Präsident die Unterschrift verweigerte. [Vgl. Eschment, Autoritäre Präsidialregime, S. 24f]
Diese konstitutionelle Machtverteilung hat in der Praxis zu einer schweren Lähmung dringend erforderlicher politischer Entscheidungsprozesse geführt, da das Parlament (der vormalige Oberste Sowjet mit noch zu Sowjetzeiten gewählten Vertretern) einen zügigen Reformprozess verhinderte und auch die Administration nicht gerade als reformorientiert einzustufen war und ist.

Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich die Lage schließlich zuspitzte und Nazarbajew daraufhin im Frühjahr 1995 Parlament und Regierung auflöste. Das entlassene Parlament hatte sich als unfähig bzw. unwillig erwiesen und hatte Gesetzesvorhaben verschleppt: so stehen den nur sieben Gesetzen seines letzten Arbeitsjahres rund 50 Präsidialdekrete Nazarbajews innerhalb der ersten drei Monate nach der Parlamentsauflösung entgegen. [Vgl. Götz/Halbach, Politisches Lexikon GUS, S. 182f]
Fortan regierte der Präsident ohne Beschränkung durch andere Gewalten mit dem Instrument der Präsidialerlasse („Ukasokratie"). Somit setzte sich auch in der anfänglich institutionell ausbalancierten politischen Landschaft Kasachstans der Trend in Richtung Präsidialautokratie durch. Vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung war das Referendum um eine Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten bis zum 01. Dezember 2000, bei dem Nazarbajew am 30. April 1995 eine Zustimmung von (angeblich) 95 v. H. erhielt. [Vgl. http://www.cia.gov/cia/publications/factbook/geos/kz.html ]

Die im Sommer 1995 verabschiedete neue Verfassung Kasachstans spiegelt die neuen Machtverhältnisse im Land wider: das Parlament hat erhebliche Machtverluste zu Gunsten des Präsidenten hinnehmen müssen und folglich bezeichnet sich Kasachstan mit der neuen Verfassung nicht mehr als parlamentarische, sondern ausdrücklich als Präsidialdemokratie, in welcher der Präsident dem Parlament gegenüber weder direkt noch indirekt politisch verantwortlich ist. [Vgl. die Bewertung des Open Media Research Institutes in Prag: „Kazakhstan moved abruptly in 1995 from a fledgling parliamentary system to a presidential form of government with a strong executive and a reduced role for the legislature."Zit. n. Dave Bhavna, Heading toward Dictatorship, in: Open Media Research Institute, The OMRI Annual Survey of Eastern Europe and the former Soviet Union: 1995 – Building Democracy, Armonk, New York/London 1996, S. 268]
Der Präsident erhielt die Richtlinienkompetenz in der

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Innen- wie Außenpolitik, er steht über den Gewalten und hat das Besetzungsrecht für alle wichtigen Ämter (Stabsoffiziere, Regierung, Provinzgouverneure etc.) inne. [Vgl. John Anderson: Constitutional Development in Central Asia, in: Central Asian Survey, 16 (1997) 3, S. 306f]
Zusätzlich ist er Oberbefehlshaber der Streitkräfte und in hierarchischer Konsequenz auch oberster Entscheidungsträger für den Sicherheitsapparat (Polizei, Geheimdienst, Sondertruppen).

Ferner führte die neue Verfassung ein Zweikammer-Parlament (statt bisher einer Kammer) ein, was gleichzeitig einen zusätzlichen, schleichenden Machtverlust für die Legislative bedeutete, weil der Präsident neue Einflussmöglichkeiten erhielt. So verfügt das Unterhaus (Majlis) über 77 Sitze, von denen allerdings 10 von Abgeordneten besetzt werden, die von einer vom Präsidenten für die Wahl erstellten Einheitsliste stammen. Zusätzlich hat der Präsident das Recht, sieben von den 47 Abgeordneten des Oberhauses (Senat), die die Verwaltungseinheiten des Landes (oblystar und qala) repräsentieren, zu bestimmen. [Vgl.http://www.cia.gov/cia/publications/factbook/geos/kz.html]
In beiden parlamentarischen Kammern hat das Staatsoberhaupt also Einwirkmöglichkeiten. Zudem erstrecken sich seine Vollmachten auch auf die Judikative (u.a. Ernennung der Mitglieder des Verfassungsrates, Vorsitz des Obersten Gerichts). [Vgl. http://www.auswaertiges-amt.de]

Die Parteien: unter Kontrolle oder in „loyaler Opposition"

Im Gegensatz zu Turkmenistan ist in Kasachstan die Bildung von Parteien zwar erlaubt, allerdings steht sowohl die Gründung als auch die Aktivität jeder Partei oder Bewegung unter dem Vorbehalt, dass sie die Stabilität des Landes nicht beeinträchtigen darf, ein sehr dehnbarer Passus, der von der Administration entsprechend der politischen Notwendigkeit definiert wird. So wurden z. B. bei den Parlamentswahlen 1994 insgesamt 218 Kandidaten von der zentralen Wahlkommission zurückgewiesen und auch bei den Präsidentschaftswahlen 1999 sorgte das Regime dafür, dass kein ernstzunehmender Gegner für Nazarbajew antreten konnte. [Vgl. Götz/Halbach, Politisches Lexikon GUS, S. 182 und Peter Wittschorek: Präsidentenwahlen in Kasachstan 1999. Erfahrungen einer ungewöhnlichen OSZE-Mission. ZEI-Discussion Paper C 38 1999, Bonn 1999]
Zur Parteienlandschaft ist anzumerken, dass sie sich in stetem Fluss befindet und die Vielzahl der Parteien und Wahlbündnisse wechselnden Erfolg bei den Wahlen haben. Als gefestigte Größe kann aber die Kommunistische Partei Kasachstans gelten (KPK), die die mitgliederstärkste Gruppierung darstellt (47.000 Mitglieder) und auf einen funktionierenden Parteiapparat aus Sowjetzeiten zurückgreifen kann. Allerdings spielt sie im neuen Unterhaus lediglich eine untergeordnete Rolle mit drei Sitzen. Weitere zur Zeit im Parlament vertretene Parteien sind die Bürgerpartei (10 Sitze), Otan (25 Sitze), die Landwirtschaftspartei (3), die Volkskooperative (1) sowie 32 offiziell unabhängigen Abgeordnete, die jedoch aufgrund ihrer Herkunft aus halbstaatlichen Unternehmen oder regierungsnahen Institutionen Nazarbajev sehr nahe stehen. [Vgl. http://www.cia.gov/cia/publications/factbook/geos/kz.html]

Durch diese Einwirkmöglichkeiten ist es dem Präsidenten gelungen, unliebsame Kritiker weitgehend aus dem Parlament fernzuhalten, so dass seiner Politik aus diesem Verfassungsorgan, selbst wenn es dies wollte, keine Widerstände mehr entgegengebracht werden (können). Nazarbajew hat sich so eine willfährige Legislative geschaffen, die neben offiziellen Unterstützern seines Kurses hauptsächlich eine vom Präsidenten so verstandene „loyale, konstruktive Opposition" aufweist. Eine echte Opposition existiert folglich in Kasachstan nicht. Kasachstan hat in seiner Entwicklung also einen autoritären Trend eingeschlagen, maßgeblicher politischer Akteur ist der Präsident.

Willkür der Behörden

Was die Beachtung der Menschenrechte angeht, so sind auch für Kasachstan zahlreiche Fälle von Folter an Personen in Polizeigewahrsam dokumentiert. Selbst Präsident Nazarbajew hat im April 2001 öffentlich eingestanden, „dass die Folter und Misshandlung

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von Straftatverdächtigen und Untersuchungshäftlingen eine weit verbreitete und alltägliche Praxis ist." [http://www2.amnesty.de/internet/deall.nsf/51a43250d61caccfc1256aa1003d7d38/ 708c6a08f73693ccc1256aa000463d99?OpenDocument]
Insgesamt wird Kasachstan von Freedom House bei der Bewertung der Lage der politischen Grundrechte als „nicht frei" eingestuft. [Vgl. http://www.freedomhouse.org/survey99/tables/indeptab.html]
Auch die Helsinki-Föderation berichtet von massiven, willkürlichen Eingriffen des Staatsapparates in die Grundrechte und von einer drastischen Verschlechterung der Lage in den letzten Jahren.

Die Todesstrafe ist Bestandteil der Verfassung, ein Umstand, der dazu geführt hat, dass Kasachstan schließlich der beantragte Sondergaststatus beim Straßburger Europarat verwehrt wurde. Allerdings gibt es vereinzelt Stimmen in der Wissenschaft, die Kasachstan anders einstufen als seinen Nachbarn Turkmenistan: so stellen Götz/Halbach fest, dass „trotz der Festigung der 'Präsidialautokratie' [...] die politische Wirklichkeit vielschichtig [bleibt]. Das Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wird nicht aufgegeben." [Götz/Halbach, Politisches Lexikon GUS, S. 184]

„Chilenische Lösung" für Nazarbajew

Auf der anderen Seite scheint es jedoch kaum einen Zweifel darüber zu geben, wie Nazarbajew, der mindestens bis 2006 Staatsoberhaupt bleiben wird, „sein" Land zu führen gedenkt und wie er über politische Gewaltenteilung, einem Grundmerkmal von Demokratie, urteilt. So erklärte er schon 1995 anlässlich des Referendums zur Verlängerung seiner Amtszeit deutlich: „Ein Orchester kann nur einen Dirigenten haben." [Ebd. ] Mittlerweile hat sich Nazarbajew in vorgezogenen Präsidentenwahlen im Januar 1999 nochmals im Amt bestätigen lassen (mit ca. 82 v. H. der Stimmen). Zwar wurden diese Wahlen von der OSZE als ein wichtiger Schritt des Landes hin zu einem demokratischen System gewertet. Dass dieser Weg allerdings noch sehr lang sein wird, daran wurde mit der Aufzählung der Unregelmäßigkeiten kein Zweifel gelassen. [Vgl. Peter Wittschorek, Präsidentenwahlen in Kasachstan 1999]
Wie weit Kasachstan tatsächlich von demokratischen politischen Verhältnissen entfernt ist, zeigt zudem ein im Juni 2000 verabschiedetes Gesetz, demzufolge Nazarbajew als erster Präsident des unabhängigen Kasachstan spezielle Rechte bis an sein Lebensende erhält. [Vgl. Friedrich-Ebert-Stiftung: Jahresbericht 2000 für Zentralasien, Berichterstatter Dr. Wulf Lapins]
So kann Götz/Halbach entgegengehalten werden, dass zwar das Bekenntnis zur Demokratie vorhanden sein mag, die reale Politik jedoch dieses Bekenntnis Lügen straft.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Dezember 2001

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