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Teildokument zu: Sozialdemokratische Sparpolitiken in Westeuropa
Niederlande: Vom sozialen Netz zum Trampolin
Die niederländischen Sozialdemokraten (PvdA) kehrten 1989 nach
längerer Opposition in die Regierungsverantwortung als kleinerer Partner
einer christdemokratisch geführten Koalition zurück, in der sie
bis 1994 den Finanzminister, Wim Kok, stellten. Unter Koks Leitung wurde
die PvdA bei den Wahlen 1994 trotz Verlust von 12 Mandaten stärkste
Partei (37 von 150 Sitzen) und führt nun mit Kok als Ministerpräsident
die neue Koalition mit liberalen Partnern.
Haushaltsdefizite bereiteten den Niederlanden seit Ende der 70er Jahre
Sorgen. Die vorher jahrelang regierende PvdA verlor auch darüber 1977
die Macht, obwohl (oder weil) sie massive Kürzungen angekündigt
hatte. Die konservativen Regierungen Ludders ergriffen vielfältige
Sparmaßnahmen (u.a. Kürzungen der Renten und Arbeitslosenunterstützung
von 80 auf 70% des letzten Lohnes). Im Ergebnis stiegen trotzdem Arbeitslosigkeit
und Einkommensungleichheit, ohne daß das Defizit dauerhaft behoben
werden konnte. Nachdem es 1982-86 von 5,3% des BIP auf 2,9% zurückgeführt
werden konnte, stieg es bis 1989 wieder auf 6,4% des BIP an.
Wim Kok gelang es als Finanzminister, das Defizit wieder auf 3,5 % des
BIP und die Staatsverschuldung um 1,1% auf 78,0 % zu reduzieren. Diese
Politik setzt er als Ministerpräsident fort. 1995 betrug das Defizit
noch 3,4%; 1997 soll es bei nur noch 2,75% liegen, während die Staatsschuldenlast
auf 78,2% des BIP leicht ansteigt.
Diese Erfolge konnten nur mit massiven Kürzungen erreicht werden,
vor allem bei den Subventionen für Wohnungsbau, Verkehr, Bildung,
Kultur und Wirtschaft, aber eben auch bei den Sozialleistungen, die 1990
25,9% des BSP betrugen und seit 1970 real um 250% gestiegen waren. Dahinter
verbarg sich eine Zunahme der Empfänger pro 100 beschäftigten
Beitragszahlern von 45 auf 86.
Im Gegensatz zu den konservativen Parteien setzte deshalb die PvdA den
Schwerpunkt der Reformen auf eine Senkung der Anzahl der Empfänger
und nicht der Leistung pro Empfänger. Im Mittelpunkt stand die Reform
der Erwerbsunfähigkeitsrente (WAO), die 1990 882.000 Menschen empfingen
(34% mehr als 1980) und die 7,5% des BIP verbrauchte (1992), da sie - ähnlich
der deutschen Frühverrentung - als arbeitsmarktpolitisches Instrument
genutzt wurde. Höhe und Dauer der Leistungen, vor allem aber Voraussetzungen
und die verwaltungsmäßige Umsetzung wurden so verändert,
daß nur noch wirklich Betroffene eine eher bescheidene und dem Grad
ihrer Behinderung entsprechende Leistung erhalten.
Diese WAO-Reform stürzte die PvdA 1994 in eine tiefe Krise angesichts
vieler Austritte und massiver Kritik seitens der Gewerkschaften und der
Parteibasis, auch wenn Wim Kok letztlich auf dem Sonderparteitag 1994 wieder
das Vertrauen erhielt. Aber die Wähler straften die PvdA 1994 mit
einem Verlust von fast einem Viertel der Mandate, wobei der christdemokratische
Koalitionspartner allerdings noch stärker verlor.
Im Gesamtkonzept verfolgt die PvdA aber weiter das Reformziel, das System
der Sozialversicherung so zu gestalten, daß die Empfänger möglichst
bald wieder in den Arbeitsprozeß zurückkehren und die Anreize
für einen dauerhaften Ausstieg aus der Beschäftigung möglichst
gering sind. In dieses Ziel werden Arbeitgeber und staatliche Verwaltung
durch gezielte Reformen ebenso eingebunden wie die Bürger/Versicherten.
Das Netz der sozialen Sicherung soll so zum Trampolin werden, daß
die "Gefallenen" ins Beschäftigungssystem zurückbefördert.
Der bisherige Erfolg bestätigt die Politik der PvdA. Die Anzahl der
Erwerbsunfähigen sank von 793.000 1993 auf 729.000 Ende 1995.
Zweite wichtige Zielgruppe der Reformen waren die Langzeitarbeitslosen,
die über die Hälfte der ca. 500.000 niederländischen Arbeitslosen
(Rate: 7%) ausmachen. Um ihre Reintegration zu releichtern, senkte die
Regierung die Lohnnebenkosten und gewährt Vergünstigungen für
Unternehmen, die Langzeitarbeitslose einstellen. Im öffentlichen Sektor
sollen für diese Gruppe zusätzlich 40.000 Stellen geschaffen
werden. Kommunen können Sozialhilfegelder für Beschäftigungsmaßnahmen
einsetzen. Die Sozialhilfe wird in einen Grundbetrag und eine Zusatzzahlung
aufgespalten, deren Auszahlung vom Verhalten des Empfängers abhängig
ist.
Zusätzlich werden mittels öffentlicher Investitionen in die Infrastruktur
in Höhe von 1,5 Mrd. Gulden und durch Anreize für Forschungs-
und Entwicklungsinvestitionen die Standortbedingungen für die Unternehmen
verbessert. Neuregelungen für Teilzeitbeschäftigte und eine Liberaliserung
des Ladenschlusses sollen ebenfalls die Nachfrage nach Arbeitskräften
steigern. Der Erfolg blieb nicht aus: Seit 1994 wurden 234.000 neue Stellen
geschaffen. Wegen des gleichzeitigen Anstiegs der Arbeitssuchenden sank
aber die Arbeitslosenquote kaum.
Ähnliche Maßnahmen betreffen die Krankenversicherung. Statt
automatischer Auszahlung werden die Erstattungen durch Dezentralisierung
und Kontrollen so neu gestaltet, daß Anreize für Arbeitgeber
und Versicherte bestehen, die Arbeitsbedingungen positiv zu gestalten bzw.
so selten und so kurz wie möglich krank zu sein.
Eine neue Umweltsteuer auf den CO2-Verbrauch trägt kaum zur Sanierung
des Haushalts bei (erwartete Einnahmen: 1,1 Mrd. Gulden = 0,2% des BSP),
da sie für Unternehmen und Konsumenten weitgehend kostenneutral gestaltet
wurde. Sie begünstigt aber langfristig die Energiesparer und untergräbt
damit ihre eigene Steuerbasis - was aber im Prinzip als ökologische
Wirkung gewünscht ist.
Der PvdA ging es bei allen Reformen zuerst um die Wiederherstellung der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, also um Wettbewerbsfähigkeit,
Wachstum und Beschäftigung. Der Beitritt der Niederlande zur EWWU
ist innenpolitisch kaum umstritten und von den Kriterien her wenig gefährdet.
Er spielte daher auch keine wesentliche Rolle für die Formulierung
der PvdA-Strategie.
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fes-library | März 1998
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